Entführungsopfer WallertWie es gelingt, in Krisenzeiten nicht den Kopf zu verlieren

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Die von der Terrorgruppe Abu Sayyaf entführten Geiseln um Marc Wallert (3. von links)

  • Im Jahr 2000 war Wallert für viereinhalb Monate in der Geiselhaft von islamistischen Terroristen der Gruppe Abu Sayyaf. Der Fall sorgte damals für großes Aufsehen.
  • Nun hat er ein Buch über diese Zeit veröffentlicht. Darin beschreibt er, wie man Krisen übersteht und aus ihnen lernt.
  • In der aktuellen Corona-Krise sieht er viele Parallelen zu seiner Zeit in Geiselhaft auf der philippinischen Insel Jolo.

Köln – Deutschland atmete auf, als Marc Wallert im September 2000 seine Freiheit zurückerlangte. Viereinhalb Monate hatte das Land mit Wallert gezittert, so lange war er in Geiselhaft der islamistischen Terrorgruppe Abu Sayyaf auf den Philippinen gewesen. Zusammen mit seiner Mutter Renate, seinem Vater Werner und 18 anderen Menschen. Die Bilder gingen um die Welt. Zwischen bewaffneten Terroristen lernte Marc Wallert im Dschungel der Insel Jolo, wie man mit Krisen umgeht. 20 Jahre nach seiner Entführung hat er nun ein Buch darüber veröffentlicht. „Stark durch Krisen“ heißt es. Es ist ein Zufall, aber passender als in Zeiten der Corona-Pandemie hätte dieses Buch wohl nicht erscheinen können.

Eine Krise ist eine Phase, die Menschen unter Stress setzt, vor Herausforderungen und Probleme stellt. Sie entsteht, „wenn es nicht mehr so weiter geht wie bisher“, sagt Marc Wallert. Krisen können vorhersehbar sein. Oder aus dem Nichts auftauchen. Hausgemacht oder unverschuldet. Unvorhersehbar und unverschuldet, das trifft wohl auf die Corona-Krise zu. Sie stellt die ganze Gesellschaft, aber auch jeden Einzelnen vor Probleme und Herausforderungen. „Ich sehe viele Parallelen zwischen dem, was ich damals erlebt habe und dem, was ich jetzt beobachte“, sagt Marc Wallert.

Ein Wink des Schicksals als Hammerschlag

Wie es ist, plötzlich in eine Krise zu rutschen, weiß er aus dem Jahr 2000. Wallert war erfolgreicher Unternehmensberater, aber so richtig erfüllen konnte ihn der Beruf nicht. Ein gemeinsamer Tauchurlaub mit den Eltern sollte den Kopf freispülen für eine Neuausrichtung seines Lebens. Er wartete auf einen Wink des Schicksals. Stattdessen stürmten am Abend des zehnten Urlaubstages Terroristen auf die Insel Sipadan und verschleppten Wallert und seine Eltern mit 18 weiteren Personen nach Jolo. Um Lösegeld zu erpressen. Der Wink des Schicksals war zu einem Hammerschlag geworden.

Auf dem Boot, mit dem die Terroristen ihre Geiseln nach Jolo karrten, erinnert sich Wallert, habe er „eine Klarheit wie nie zuvor in meinem Leben“ gespürt. Die Fragen über die Zukunft seines Berufslebens, seine wackligen Beziehungen, das alles war verschwunden in der Enge des überfüllten Motorboots. Als wären sie nie da gewesen. Nun ging es nur noch ums Überleben. „Und die innere Klarheit gab mir die Kraft dafür.“

Glasklare Gedanken

Für die Klarheit in seinem Kopf sorgte Wallerts Stresskompetenz. Wer plötzlich in eine Krise gerät, blendet andere Gedanken aus. Egal, wie kopfzerbrechend diese auch gewesen sind. So ist es bei einem Autounfall oder wenn es brennt. Die Gedanken sind glasklar und nur auf die Lösung der Krise ausgerichtet. Oder die Stresskompetenz ist nicht stark ausgeprägt. Dann verschwimmen Gedanken, driften ab, fahren sich in Extremen fest.

„In Krisen neigen Menschen dazu, sich in ihren Gefühlen zu verlieren“, sagt Marc Wallert. Oft ist es die Angst, manchmal aber auch übertriebener Optimismus. Sich darin nicht zu verlieren, sei „so wichtig“, betont Wallert. Gerade bei Krisen „wie Corona oder einer Entführung, die sehr ähnlich sind: Unsicher und potenziell lebensgefährlich.“ Zu denken, die Krise sei schnell vorüber, sei gefährlich. „Wir haben das damals genau so gemacht. Uns wurde gesagt, wir seien nach zwei Tagen frei. Was ist passiert? Es gab eine innere Euphorie. Nach diesen zwei Tagen fielen wir in ein ganz tiefes Loch.“ Hoch fliegen, tief fallen, das deutsche Sprichwort galt auch auf der philippinischen Insel Jolo.

Optimismus ist wichtig

Eine gewisse Flughöhe ist allerdings wichtig. Nicht am Boden zu bleiben oder sich gar einzugraben in seiner schwierigen Lage. Denn ganz ohne Optimismus geht es nicht. Die reelle Situation im Blick sollte man im Hinterkopf stets davon ausgehen, dass das Ende ein gutes sein wird. Wer von einem positiven Ausgang ausgeht, der lege eine höhere Durchhalte- und Handlungsbereitschaft an den Tag, schreibt Wallert.

Nicht umsonst spulen Sportler vor einem Wettkampf genau diesen als Film im Kopf ab. Das perfekte Spiel, der perfekte Sprung, der perfekte Sprint. Immer wieder betonen Sportpsychologen die positive Wirkung solcher Bilder. In Krisen funktioniert dies ähnlich. Auf Wallerts Bild war er mit seinem Bruder. Wie sie sich umarmen, mit einem kühlen Bier anstoßen. Dass das Bier letztendlich ein warmes aus der Dose in Tripolis war, entkräftet die Wirkung kein bisschen. „Das war nicht das leckerste, aber das schönste Bier meines Lebens.“

„Was wird dann Positives da sein?“

Nicht nur auf Jolo verfehlten die positiven Bilder ihre Wirkung nicht. Auch in der Corona-Krise könnten sie helfen, sagt Wallert. „Wir haben gerade für alle Menschen in unserer Gesellschaft schwierige Zeiten. Und ein Mittel, gut dadurch zu kommen ist es, sich jetzt schon mal vorzustellen: Wie werde ich auf diese Situation zurückblicken? Und was wird dann Positives da sein?“

Dass sich das leichter sagt als es ist, das weiß Marc Wallert. Auch auf Jolo war es selbstverständlich nicht leicht, stets optimistisch zu bleiben. Die letzte Karte, die der Optimismus dann spielen kann, ist der Galgenhumor. Als die Terroristen mit Enthauptungen drohten, warf Marc Wallert ein, dass man jetzt bloß nicht den Kopf verlieren dürfe. Ähnlich sei es auch bei Chirurgen und Ersthelfern. Zynische Sprüche in kritischen Situationen sind kein Indiz für ein Vernachlässigen der Ernsthaftigkeit. Sondern eine Hilfe, mit der Belastung fertig zu werden.

Schutzfaktoren der Resilienz

In Krisen hilft es also, einen klaren Kopf zu behalten und sich seinen Optimismus zu bewahren. Wallert nennt das Schutzfaktoren, von denen es noch vier weitere gibt. Sie alle bilden die Resilienz eines Menschen. Die Widerstandsfähigkeit, mit Stress, mit widrigen Umständen fertig zu werden. Eine hohe Resilienz zeichnet sich allerdings nicht dadurch aus, dass alle sechs Schutzfaktoren einwandfrei funktionieren. Vielmehr ist ein gutes Zusammenspiel entscheidend. So bremst der klare Kopf beispielsweise einen übersprudelnden Optimismus.

Ein weiterer wichtiger Schutzfaktor ist die Akzeptanz. Der erste Mitspieler, den man in einer Krise anspielen sollte. Wallerts Mutter Renate fiel es schwer, gerade zu Beginn der Entführung, die Situation anzunehmen und sie als gegeben zu akzeptieren. „Ich merkte, wie sie in ihrem Inneren Szenarien entwarf, die uns vor diesem Schicksal bewahrt hätten – eine energieraubende Gedankenspirale“, erinnert sich Marc Wallert. „Man kann nichts ungeschehen machen, und man sollte immer die ganze Energie darauf lenken, aus einer Lage das Beste zu machen.“ Dieser Prozess kann schwerfallen. Das Aufschreiben des Erlebten hilft, es zu verarbeiten und zu akzeptieren. Ohne diese Akzeptanz wird man eine Krise nicht meistern können.

Fitness und Disziplin sind wichtig

Nicht nur psychisch, auch physisch hatte vor allem Renate Wallert während der Entführung Probleme. Deshalb war sie später die Erste, die von den Terroristen freigelassen wurde. Marc Wallert betont im Nachhinein, wie wichtig körperliche Fitness und Disziplin in der Bewältigung dieser sehr besonderen Krise waren. Nicht nur aufgrund der widrigen Lebensumstände. Nachweislich hilft Bewegung dabei, das Stresshormon Cortisol abzubauen. Dafür braucht es natürlich auch Disziplin. Sie hilft aber auch dabei, Ordnung und Organisation einzuhalten. Das vermeidet Stress und Fehler.

Im Dschungel lernten die Geiseln das schnell. Und auf die harte Tour. Das philippinische Militär hatte das Camp mit Terroristen und Geiseln unter Beschuss genommen. Fluchtartig ging es weiter hinein in den Dschungel, wichtige Sachen blieben zurück. Daraus zog die Gruppe ihre Konsequenzen. Von diesem Tag an hatten stets alle ihre Sachen zur Flucht bereit gepackt.

Helfen hilft

Dazu gehörte auch eine Trage für Renate Wallert, deren Zustand zwischenzeitlich immer schlechter wurde. Als das philippinische Militär das Feuer später erneut eröffnete, trugen Marc Wallert, sein Vater und andere sie durch den Dschungel der Insel Jolo. Das rettete nicht nur Renate Wallert, sondern auch ihren Sohn. Dadurch, dass er anderen half, hatte Marc Wallert das Gefühl, etwas bewegen, die Lage verändern zu können. „Wenn man anderen hilft, hilft man auch sehr stark sich selbst.“

Selbstwirksamkeit gibt das Gefühl der Handlungsfähigkeit. Das bewahrt vor dem Abrutschen in die ohnmächtige Opferrolle. „Irgendetwas kann man immer tun“, betont Wallert. „Mir wird gekündigt – ich schreibe Bewerbungen. Mein Haus ist abgebrannt – ich rufe meine Versicherung an.“ Nicht zuletzt ist eine wichtige Stütze der Resilienz die soziale Unterstützung. Zusammen durchsteht man Krisen besser als allein. Wallert bezeichnet es als „Riesenglück, nicht allein entführt worden zu sein.“

Konflikte sind normal

Eine Gruppe, so Wallert, gibt Halt. „Die Geiselgruppe war ein soziales Netz, das in schwierigen Situationen getragen hat“, schreibt er. Was die Leidensgenossen für Marc Wallert im Dschungel waren, sind für die Menschen, die so weit es geht in den eigenen vier Wänden bleiben die Familie, Partner oder WG-Mitbewohner. Sie können durch eine Krise tragen. Aber auch eine Krise in der Krise auslösen. Denn wer für lange Zeit auf engem Raum zusammen ist, wird sich früher oder später auch mal in den Haaren liegen.

Das ist nicht nur völlig normal, Konflikte können das Klima innerhalb einer Gruppe auch nachhaltig verbessern. Konflikte hätten oft einen schlechten Ruf, so Wallert. Dabei seien sie nicht nur zu erwarten, „sondern auch sinnvoll.“ Entscheidend dabei: Die Stresskompetenz, Schutzfaktor der Resilienz. Wer in Konflikten einen klaren Kopf bewahrt, kann bewusst mit ihnen umgehen und sie als nötigen Schritt in der stetigen Entwicklung einer Gruppe verstehen. Auf dem Weg von einer Gruppe zu einem Team sind Konflikte unausweichlich. Und auch nach abgeschlossenem Teambuilding tauchen sie auf. Das gilt auch für Familien.

Storming, Norming, Performing

Marc Wallert erwähnt fünf Phasen bei der Bildung eines Teams nach Bruce Tuckman. Bis auf den ersten (Forming/Kontakt) und letzten Schritt (Adjourning/Auflösung) lassen sich diese Phasen auch beinahe turnusmäßig bei Familien beobachten: Storming (der Konflikt), Norming (Schaffen von Strukturen und Regeln) und Performing (die Gruppe funktioniert). Beispielhaft zu erkennen am bockigen Kind, das nach dem Mittagessen seinen dreckigen Teller auf dem Esstisch stehen lässt, anstatt ihn zumindest in die Nähe der Spüle zu stellen. Irgendwann kommt es zum Konflikt, zusammen wird eine Lösung gefunden. Oder von den Eltern festgelegt. Danach funktioniert die Gruppe, das Geschirr wird wieder sauber.

Auf Jolo blieben Konflikte natürlich genau so wenig aus. Eine finnische Geisel nahm sich, so zumindest das Empfinden der anderen, stets etwas mehr heraus. Der Unmut stieg. Bis die andere finnische Geisel, im Gegensatz zu seinem Landsmann begabt im Umgang mit der englischen Sprache, erklärte, dass sein Freund sehr und auch mehr als andere an der Situation zu knabbern habe. Die Gruppe stellte sich darauf ein. Verteilungen wurden nicht mehr nach dem Prinzip „gleich viel für alle“ geregelt, es wurde geschaut, wer was am nötigsten hat. Verständnis für andere sei ein wichtiger Baustein, um Krisen im Team zu meistern, so Wallert. Bei all dem positiven Framing muss allerdings auch gesagt werden: „Es sind natürlich auch nicht alle Konflikte konstruktiv.“

Stehaufmännchen: Ein falsches Bild

Marc Wallert kam nach seiner Mutter und seinem Vater frei. Einer Phase der Erholung folgte das Gefühl einer gewissen Narrenfreiheit. Wallert redete sich ein, sich nicht wirklich anstrengen zu müssen. „Das versteht schon jeder, wenn da ein Schlenker im Berufsleben ist.“ Irgendwann war er gezwungen, wieder in seinen alten Job zu gehen, der ihn nicht erfüllte, der ihn stresste. Nach seiner Freilassung hatte Marc Wallert noch gedacht, nach solch einer Erfahrung könne ihn nichts mehr stressen. Deadlines im Berufsalltag seien eben nicht tödlich. Anders als Lösegeld-Ultimaten. Fünf Jahre später zog sein Körper die Notbremse: Burn-Out. „Mir wurde quasi ein zweites Leben geschenkt. Mein Fehler war: Ich habe die Chance verpasst, mein Leben ganz anders zu gestalten.“

Als Zeichen für Resilienz werde oft das Stehaufmännchen gesehen, sagt Wallert. Das Bild gefällt ihm nicht. Denn wer nach dem Hinfallen einfach aufstehe und weitermache, der falle an der gleichen Stelle noch einmal hin. Das Ergebnis sind unendlich viele Umdrehungen im Krisenkarussell. Die Kunst besteht darin, aus diesem Karussell auszusteigen. Aus Krisen zu lernen und Konsequenzen zu ziehen.

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Marc Wallert betrachtet Krisen nicht als Gegner oder Feind. Sondern als Verbündeten. Als Hinweisgeber auf Prozesse, die im Leben falsch laufen. Egal wie und woher eine Krise kommt – es bringt nichts, damit zu hadern. Wer hingegen die Situation annimmt und aktiv an Lösungen arbeitet, das Beste daraus macht, der kann an ihr wachsen und gestärkt aus der Zeit hervorgehen. Wallert ist im Rückblick auf die Zeit im Dschungel „auch dankbar. Weil ich in dieser Zeit auch sehr viel gelernt habe.“ 

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