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Geschichte einer DepressionZusammenreißen hilft nicht

Lesezeit 7 Minuten
Anja Warnecke war froh, als ihre Symptome einen Namen bekamen. Heute kann sie offen über ihre Depression reden.

Anja Warnecke war froh, als ihre Symptome einen Namen bekamen. Heute kann sie offen über ihre Depression reden.

Die Krankheit ist unsichtbar. Man sieht sie weder auf Röntgenbildern oder unter dem Mikroskop. Sie hat manchmal einen bestimmten Auslöser, oft aber schleicht sie sich einfach so ins Leben.

Vielleicht macht die Tatsache, dass eine Depression so schwer zu erklären ist, den Umgang mit der Krankheit so schwierig. Selten ist sie nicht (siehe Kasten). Betroffenen ist das Leben aber nicht nur wegen der Krankheit selbst erschwert – mangelndes Verständnis macht es zusätzlich kompliziert. Und das hat damit zu tun, dass über psychische Erkrankungen kaum jemand spricht, mögen sie noch so häufig sein.

Jeder Fünfte in Deutschland erkrankt laut Stiftung Deutsche Depressionshilfe ein Mal im Leben an einer Depression, insgesamt leiden etwa vier Millionen Menschen an einer therapiebedürftigen Form – das entspricht der Zahl der Krebsfälle. Eine nicht ausreichend behandelte Depression ist laut Stiftung Auslöser für die Mehrzahl der jährlich rund 10 000 Suizide.

Diese Zahlen sind indes rückläufig: Depressionen werden heute häufiger erkannt und behandelt. Das schlägt sich anderswo in der Statistik nieder: Depression verursacht elf Millionen Fehltage jährlich. Nach Angaben der Krankenkasse DAK hat sich die Zahl der entsprechenden Ausfälle damit in den vergangenen 13 Jahren um 178 Prozent erhöht. (sio)

Anja Warnecke will das ändern. „Ich habe keinen Bock mehr, mich zu verstecken“, sagt die 35-Jährige, die mit ihren wachen blauen Augen viel jünger wirkt. Sie findet: Verständnis kann es nur durch Offenheit geben. Als sie Anfang 20 war, riet ihr die Mutter eines Freundes das erste Mal, sich Hilfe zu suchen – weil Anja Warnecke immer wieder heftig weinen musste, ohne genau sagen zu können, warum. Aber erst Jahre später, mit 29, diagnostizierte man ihr das erste Mal eine Depression. „Ich war beinahe erleichtert, dass meine Probleme endlich einen Namen hatten“, sagt sie.

Berufliche Belastung

Ihre bislang schwärzeste Phase liegt gerade hinter ihr: Ende 2011 zog die Reiseverkehrskauffrau nach Köln, trat eine Führungsposition an, die sie überforderte. Dazu kam die Einsamkeit in der fremden Stadt: „Immer alleine sein, alleine kämpfen – irgendwann war das zu viel“, sagt Warnecke. Als sie im Frühjahr 2013 im Büro nur noch auf den Bildschirm starrte, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und ihre Wohnung im Chaos versank, zog sie die Notbremse. Sie ging in eine Klinik, für acht Wochen.

Dass berufliche Belastung eine Rolle spielen kann für den Verlauf einer Depression, legt eine aktuelle Studie des Kölner Rheingold-Instituts nahe – andere Studien belegen diesen Zusammenhang nicht, sondern nennen Arbeit im Gegenteil als Schutzfaktor gegen die lähmende Krankheit.

Warnecke glaubt, dass ihre persönlichen Voraussetzungen und die Begleitumstände ihres Job unglücklich zusammenkamen: „Ich habe übermenschliche Erwartungen an mich, gepaart mit dem Wunsch, es allen recht zu machen. Das kann nur schiefgehen“, sagt sie. „Damals bin ich hineingeworfen worden in den Job und habe es nicht geschafft, zu sagen, dass ich das nicht leisten kann.“ Ihren damaligen Vorgesetzten macht sie keine Vorwürfe, im Gegenteil: „Sie waren sehr bestürzt und verständnisvoll.“ Bei ihren Kollegen war das jedoch zum Teil anders. Warneckes Erfahrung: „Wer nicht selbst betroffen ist, ist von der Krankheit häufig überfordert und reagiert manchmal sogar wütend oder gehässig.“ In ihren Job zurückgekehrt ist sie deshalb nicht.

„Reiß’ dich halt zusammen!“ Das hören depressive Menschen oft, aber genau das geht bei einer Depression nicht. Neben tiefer Traurigkeit und körperlichen Beschwerden wie Schlafstörungen oder Appetitverlust gehören Antriebslosigkeit und Konzentrationsmangel zu den zentralen Symptomen.

Auch Petra Müller hat schlechte Erfahrungen gemacht. Die 46-Jährige möchte ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen – „ich will wieder ins Arbeitsleben“. Mit dem Stigma Depression, glaubt sie, wäre das nicht möglich. Ihren alten Job in der klinischen Forschung will die Biologin allerdings auf keinen Fall zurück. Sie ist sicher: Die Überstunden aufgrund von Termindruck, die ständige Erreichbarkeit haben zu ihrer Depression beigetragen.

Unfähig zum Kampf

Müllers Krankengeschichte begann vor vier Jahren mit einem Burn-out. Sie kündigte, ließ sich behandeln, fand eine neue Stelle. Dann die nächste Diagnose: Brustkrebs. Ihren Job verlor sie noch in der Probezeit. Nach der Krebstherapie trat sie wieder eine Vollzeitstelle an, merkte aber schnell, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen war. Statt eines Burn-outs entwickelte sie nun eine schwere Depression. Als sie zu lange fehlte, kündigte man ihr erneut in der Probezeit.

„Man gilt sofort als nicht mehr belastbar“, sagt Müller. Die Menschen in ihrem Umfeld konnten mit dem Krebs besser umgehen als mit der Depression – sie selbst sogar auch. Gegen den Krebs konnte sie kämpfen, die Depression raubte ihr gerade diese Fähigkeit. „Das ist, als würden Sie mit gebrochenen Beinen vor einer Treppe liegen und wissen: Da muss ich hoch.“ Die Angst vor der absoluten Hoffnungslosigkeit während einer depressiven Episode treibt sie bis heute um. Auch, weil es – anders als bei Krebs – kein definiertes Nachsorgekonzept gibt.

Mangel in der Chemie

Trotzdem sagt Petra Müller: „Man kann lernen, mit der Krankheit zu leben.“ Selbst im Bewusstsein, dass eine Therapie keinen völligen Schutz vor dem nächsten Zusammenbruch bietet. Sie setzt auch auf Medikamente, weil sie ihre Depression als chronische Störung des Hirnstoffwechsels versteht – was der aktuellen medizinischen Beschreibung der Krankheit entspricht. Vor allem aber darauf, die Dinge in ihrem Leben zu ändern, die aus ihrer Sicht zum Ausbruch der Depression beigetragen haben. Dass sie sich ohne ihren alten Job finanziell einschränken muss, nimmt sie in Kauf. In einer Verhaltenstherapie arbeitet sie daran, ihren Leistungsanspruch zu reduzieren. Sie versuche nicht mehr, zu gefallen und sie wehre sich gegen unrealistische Erfolgserwartungen, sagt Petra Müller. Ein Bild, das für sie ihre Krankheit symbolisiert, hat sie auf einer Reise gefunden: Der Slogan „Depression ist Mangel in der Chemie, nicht im Charakter“ auf dem Plakat einer Stiftung, die zu psychischen Krankheiten forscht. Zurzeit arbeitet Müller an ihrer beruflichen Neuorientierung. Wohin es gehen wird, weiß sie noch nicht.

Diese Frage bereitet auch Anja Warnecke Sorgen. Sie wartet auf den Beginn einer medizinischen Rehabilitation, die sie fit machen soll fürs Arbeitsleben. Aber schon Stellenanzeigen machen ihr Angst – sich bewerben auf einen Job, der mehr fordert, als sie sich zutraut? Das kann sie sich immer noch nicht vorstellen.

Den Druck rausnehmen

Untätig ist sie nicht: Sie engagiert sich in einem buddhistischen Kulturzentrum, hilft bei einer Freundin im Geschäft aus. „Herumsitzen tut mir nicht gut“, sagt Warnecke. In Bewegung bleiben ist entscheidend für das Leben mit einer Krankheit, die sich wie eine bleischwere Decke über die Tage legt. Manchmal fällt Anja Warneckes Stimmung auch heute aus dem Nichts heraus in ein tiefes Loch. „Dann sitze ich weinend zu Hause, wie ein Häuflein Elend. Aber dann stehe ich wieder auf – das ist das Entscheidende“, sagt sie.

Übertriebene Fürsorge erträgt sie nicht. „Ich will behandelt werden wie jeder andere.“ Dazu gehöre, sie nicht mit Samthandschuhen anzufassen oder von ihr zu verlangen, immer erreichbar zu sein. Das sei ein Lernprozess gewesen. Die meisten Freundschaften seien dadurch sogar stärker geworden.

Mit ihrer Offenheit hat sie bislang gute Erfahrungen gemacht. „Wenn ich mit anderen darüber spreche, was ich im letzten Jahr erlebt habe, höre ich oft: Ich dachte immer, das geht nur mir so!“, sagt Anja Warnecke. Ihr Tipp ist dann: Sich früh Hilfe suchen. Und sich nicht unter Druck setzen.

In einer Serie porträtieren wir Menschen, die sich von ihrer chronischen Krankheit nicht die Lust am Leben nehmen lassen. Schreiben Sie uns: magazin@ksta.de

Ihr eigenes Ziel ist, ihre Depression nicht gewinnen zu lassen. Jahrelang, sagt Warnecke, habe sie sich selbst unter Druck gesetzt, ein bestimmtes Ideal erreichen zu müssen. Davon hat sie abgelassen. „So lästig die Krankheit ist: Sie macht mich bescheidener und demütiger. Ich sehe heute, welche Dinge wirklich wichtig sind.“ Ihr Weg, da ist sich Anja Warnecke sicher, geht trotz Depression jetzt in die richtige Richtung: Nach vorn, und nicht mehr zurück.

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