Impf-Empfehlung der Stiko„Wir sprechen von vier Covid-Todesfällen bei Kindern“

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„Die Rolle der Kinder wurde lange vernachlässigt, das ist unstrittig“, sagt Jörg Dötsch.

  • Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt nicht allen über 12-jährigen Kindern eine Impfung gegen das Coronavirus, nur solchen mit bestimmten Vorerkrankungen und Kontakt zu besonders gefährdeten Angehörigen.
  • Wie ist die Entscheidung zu bewerten? Sollten Eltern der Empfehlung schlicht folgen – oder individuell entscheiden? Und welche politischen Fehler wurden im Umgang mit Kindern in der Pandemie gemacht?
  • Wir haben mit Prof. Jörg Dötsch, Leiter der Klinik für Kinder und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln, gesprochen.

Herr Dötsch, was halten Sie von der Entscheidung der Stiko? Insgesamt halte ich sie für sehr klug und abgewogen. Es sollen jene geimpft werden, die besonders bedroht sind. Die Covid-Infektion verläuft bei Kindern und Jugendlichen relativ milde. Wir sprechen in Deutschland von vier Todesfällen bei Kindern, das ist sehr wenig, weniger sogar als bei der jährlichen Influenza-Grippe.

Auch Sie haben stets betont, es müsse bei Kindern ein individueller Nutzen durch die Impfung nachweisbar sein. Wieso soll dieser nun gegeben sein, wenn andere Familienmitglieder geschützt werden?

Auf den ersten Blick wirkt der Schutz von Angehörigen nicht wie ein unmittelbarer, medizinsicher Eigennutzen. Aber: Es besteht ein großer Unterschied dazwischen, Kinder für das Erreichen einer Herdenimmunität zu impfen oder mit der Impfung eine mögliche, schwere Erkrankung eines nahestehenden Menschen zu vermeiden. Denn diese Erkrankung hätte unmittelbare, schwere Folgen für die Gesundheit des Kindes. Auch hier würde ich also unter dem Strich von einem unmittelbaren Nutzen sprechen.

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Auch für 16- und 17-Jährige gibt es nun keine allgemeine Empfehlung. Hat Sie das gewundert?

Der Entwicklungsprozess der Jugend ist mit dem 17. Lebensjahr nach unserer Definition nicht abgeschlossen, deswegen finde ich es nachvollziehbar, dass die Stiko 16- und 17-Jährige in die neue Teilempfehlung mit aufnimmt. Die Zulassungsstudien begannen mit 16 Jahren, es schien daher so, dass nur die Lücke zwischen 12 und 15 Jahren zu schließen sei. Es muss aber berücksichtigt werden, dass die Hersteller einen weltweiten Markt bedienen. In den USA etwa sind Kinder und Jugendliche deutlich härter betroffen als bei uns – wir vermuten, dass chronische Erkrankungen wie schweres Übergewicht und ein weniger stabiles Gesundheitssystem. Die Empfehlung ist also eine lokale Entscheidung, die Zulassung eine globale.

Empfehlen Sie Eltern nun, schlicht nach der Stiko-Empfehlung zu entscheiden – oder ist eine Absprache mit dem eigenen Kinderarzt weiterhin notwendig?

Bei den klar definierten Risikogruppen sollten Eltern meiner Meinung nach der Stiko-Empfehlung folgen. Dazu würde auch der jeweilige Kinderarzt raten. Komplizierter wird es bei Grenzfällen – und bei gefährdeten Kontaktpersonen. Hier ist eine individuelle Entscheidung der Eltern und Kinder in Absprache mit dem eigenen Kinderarzt zu empfehlen. Diese Entscheidung hat im Übrigen Zeit. Es sollten jetzt nicht alle gleichzeitig beim Kinderarzt anrufen. Es fehlt ohnehin noch an Impfstoff – und wir haben derzeit ein geringes Infektionsrisiko.

Ist es ratsam, eine mögliche Impfung mit den eigenen Kindern zu diskutieren?

Kinder sollten ihrem Interesse und ihrem Vermögen nach in die Entscheidung mit einbezogen werden. Bei der Gruppe der Zwölf- bis 17-Jährigen, um die es hier geht, ist das auch möglich. Man sollte sie aber nicht einfach fragen, ob sie geimpft werden wollen – sondern abklopfen, wie sie zu ihrer Einschätzung kommen.

In der Risiko-Nutzen-Abwägung spielt auch das PIMS-Syndrom eine Rolle. Kinder leiden hier auch nach asymptomatischen Covid-Verläufen plötzlich an starken Bauchschmerzen und anhaltendem Fieber. Wie gefährlich ist PIMS?

Als wir die ersten Fälle entdeckt haben war ich besorgt. Inzwischen wissen wir aber, dass Medikamente gegen das Kawasaki-Syndrom, das PIMS sehr ähnelt, auch hier gut wirken. In der Regel können die Kinder das Krankenhaus nach wenigen Tagen wieder verlassen.

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Kinder, die komplett gesund waren, sich dann ohne Symptome mit dem Virus infiziert hatten und anschließend an PIMS litten, sind alle gesund nach Hause gekommen. Wir bekommen diese Erkrankung also gut in den Griff.

Wie oft tritt das Syndrom auf?

Wir zählen in Deutschland rund 350 Kinder und Jugendliche, die an PIMS erkrankt sind – unter insgesamt 14 Millionen. Das ist nicht viel. Schätzungen gehen davon aus, dass eines von 1000 bis 5000 infizierten Kindern betroffen ist. Diese Angaben sind aber vage.

Ist aus Ihrer Sicht denkbar, dass auch Corona-Impfungen das Syndrom auslösen können?

Bislang gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Es wurden keine entsprechenden Fälle berichtet – und ich halte es für unwahrscheinlich, dass eine Impfung ein solches Syndrom überhaupt auslösen kann. Ich persönlich bin da unbesorgt, letztlich müssen wir aber abwarten. Bei Astrazeneca sind sehr seltene Nebenwirkungen ja auch erst nach einiger Zeit entdeckt worden. Spekulationen sind nicht hilfreich, das haben wir in dieser Pandemie gelernt.

Schwere Langzeitfolgen, die unter dem Sammelbegriff Long Covid gefasst werden, sind auch bei Kindern möglich. Ist schon abzuschätzen, wie wahrscheinlich diese sind?

Nein. Kompliziert am Phänomen Long Covid ist, dass wir hier von Symptomen sprechen, die auch von anderen Krankheiten ausgelöst werden. Abgeschlagenheit und Müdigkeit können auch Folgen einer Depression sein, Atemprobleme können zu dieser Jahreszeit auch schlicht durch Pollen entstehen. Das macht die Diagnose schwierig, insbesondere bei Kindern. Wir haben vor rund zwei Monaten begonnen, Verdachtsfälle bei Kindern zu sammeln. Es dauert aber noch, bis wir hier ein Gesamtbild haben. Ist die Tatsache, dass es kaum Daten gibt, die auf bedrohliche

Langzeitfolgen hinweisen, beruhigend?

Es ist immer beruhigend, wenn Zeit vergeht und wir nichts Schlimmes erfahren. Es wäre aber auch zu früh, zu sagen: Long Covid ist bei Kindern nicht relevant. Insbesondere wenn wir über Auswirkungen auf die Impf-Empfehlung sprechen, müssen wir fundierte Daten abwarten. Die gibt es bislang nicht.

Hätte es für die frühzeitige Beschaffung dieser Daten im vergangenen Jahr eine höhere politische Priorität für Kinder und Jugendliche gebraucht?

Es ist gut, in die Zukunft zu schauen. Die Rolle der Kinder und Jugendlichen wurde lange vernachlässigt, das ist unstrittig. Doch es gibt ein Umdenken, das merke ich in den Gesprächen mit Politikerinnen und Politikern. Ich hoffe sehr, dass dieses Umdenken zu einer Unterstützung der entsprechenden Forschungen führt, auch an Covid-Langzeitfolgen bei Kindern. Den Worten, Kinder in dieser Pandemie nun mehr in den Fokus stellen zu wollen, müssen auch Taten folgen – das ist mein Appell.

Geht es dabei nur um Forschungsförderungen?

Nein. Wir müssen uns in zukünftigen Wellen und Pandemien, sofern sie kommen, viel breiter aufstellen, wenn es um medizinische Entscheidungen geht. Auf die Expertise der Kinder- und Jungendärzte muss die Politik in Zukunft von Anfang an und nachhaltig zurückgreifen. Kinder haben nur sehr begrenzte Möglichkeiten, für Ihre Interessen einzustehen, sie haben keine Lobby – das müssen wir auch als Gesellschaft besser verstehen und berücksichtigen.

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