In der PraxisÜbergewichtige werden von Ärzten wie Patienten zweiter Klasse behandelt

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Über die Hälfte der Ärzte empfinden Übergewichtige laut Umfragen als unattraktiv, unangenehm und unkooperativ.

  • Etwa jeder dritte Patient beim Hausarzt ist laut medizinischen Maßstäben zu dick, jeder fünfte gilt sogar als adipös.
  • Auch in allgemeinen Umfragen halten die meisten Übergewicht für ein abstoßendes Charakterproblem.
  • Eine Betroffene erzählt von ihren Erfahrungen und wünscht sich mehr Respekt – auch von Medizinern.

Köln – Die Krönung war der letzte Orthopäde. „Wenn Sie ein neues Gelenk haben wollen, dann müssen Sie erst mal abnehmen“, sagte er zu seiner Patientin, kaum hatte die den Raum betreten. Ohne sie vorher mit einem „Guten Tag“ zu begrüßen, ohne sich vorher nach ihren Problemen zu erkundigen. Ganz verdattert sei sie gewesen, erzählt Anke Moltin (Name geändert): „Aber Sie haben mein Knie doch noch gar nicht gesehen?“ Als Antwort schickte ihr Gegenüber sie ohne weitere Erklärung mit ihrem schmerzenden Gelenk zum Röntgen.

Abnehm-Ratschläge und Ablehnung – auch beim Arzt

Die 68-Jährige kann viele solcher Geschichten erzählen. „Geschätzte“ 120 Kilogramm bringt sie auf die Waage, mit genauem Messen verdirbt sie sich schon lange nicht mehr die Laune. Auf 1,72 Metern Körpergröße. Geschichten von Ärzten, die übergewichtige Menschen als hoffnungslose Fälle und eine Art Patienten zweiter Klasse behandeln. Und sie immer wieder mit denselben platten Abnehm-Ratschlägen triezen, sich für den Hilfesuchenden selbst aber nur am Rande interessieren. „Tipps wie weniger Limonade und mehr Treppensteigen kann ich auch in meiner Frauenzeitschrift lesen“, sagt die ehemalige Erzieherin.

Etwa jeder dritte Patient beim Hausarzt ist laut medizinischen Maßstäben zu dick, jeder fünfte sogar als adipös oder fett anzusehen. Trotzdem treten die Ärzte Anke Moltin und ihren Leidensgenossen mit einer befremdlichen Einstellung entgegen: Über die Hälfte empfinden Übergewichtige laut Umfragen als unattraktiv, unangenehm und unkooperativ. Ein Drittel attestiert ihnen einen Mangel an Selbstdisziplin und Willensstärke, die Attribute faul und schlampig werden ebenfalls verliehen. Das spiegelt sich auch in der Behandlung wieder: Die Sprechstunden fallen bei übergewichtigen Patienten im Durchschnitt kürzer aus, haben Studien ergeben. Und im Gespräch wird weniger auf sie eingegangen. In den Wartezimmern mangelt es an Stühlen, auf die sich XXL-Patienten setzen können, und an Waagen, die unter Adipösen nicht zusammenbrechen.

Dicke Menschen machen oft einen Bogen um Arztpraxen

Nach der letzten Langzeitblutdruck-Messung war der Oberarm von Anke Moltin „blau wie eine Pflaume“, erzählt sie. Die Messmanschette war viel zu eng. Inzwischen weigert sie sich, solche Geräte anzulegen. Ist es da ein Wunder, wenn sich die meisten Übergewichtigen laut eigener Aussage bei Ärzten regelmäßig stigmatisiert und nicht verstanden fühlen?

Auch für das Gesundheitssystem wird das inzwischen zum Problem, weil Dicke um Arztpraxen zunehmend einen Bogen machen. Bei Krebsvorsorgeuntersuchungen – sie gelten als besonders empfindlicher Indikator – haben übergewichtige Menschen zum Beispiel auffallend niedrige Teilnahmequoten. Das soll erklären, warum zum Beispiel Brust- und Darmtumoren bei ihnen überdurchschnittlich spät entdeckt werden. Und tauchen sie doch einmal in den Praxen auf, werden beispielsweise Atem- und orthopädische Probleme oft lange übersehen, weil die Symptome zunächst fälschlicherweise dem Gewicht zugeschrieben werden.

Menschen bewerten Übergewicht als Charakterproblem

Zu dem Orthopäden davor haben Anke Moltin ihre Rückenschmerzen geführt. Der habe sie weder anfassen noch untersuchen wollen, erinnert sie sich, trotz des Verdachts auf einen Bandscheibenvorfall. „Da fragt man sich doch, ist ihm das unangenehm?“ Seine Patientin begann sich danach, einen neuen Doktor zu suchen.

Hat der Mann seinen Beruf verfehlt? Zu seiner Verteidigung sei erwähnt, in der Einstellung der Mediziner spiegelt sich letztendlich die des Rests der Gesellschaft wider. Auch in allgemeinen Umfragen halten die meisten Übergewicht für ein abstoßendes Charakterproblem. Dabei ist längst belegt, dass Dicke und Dünne in Hinblick auf die psychologischen Grundeigenschaften eigentlich wenig trennt. „Ein Übergewicht entwickelt sich über Jahrzehnte, meist werden im Kindesalter schon die Grundlagen dafür gelegt“, sagt Claudia Luck-Sikorski, Professorin für Psychische Gesundheit und Psychotherapie an der Geraer SRH Hochschule für Gesundheit. Einem dicken Kind würde niemand die Schuld an seinem Gewicht zuschieben. Stattdessen wird zu Recht auf die Eltern, die Werbung, das schlechte Schulessen geschimpft.

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Aber kaum sei die Volljährigkeit erreicht, sei es damit vorbei, beklagt die Expertin. „Dann müssen sich dieselben Menschen fragen lassen, warum sie sich so gehen lassen?“ Auch das spricht für eine allgemeine Unwissenheit, die leider auch viele Ärzte teilen. Denn ist einmal ein gewisses Maß erreicht, ist die Zahl der Kilos nur noch bedingt eine Frage von Willensstärke und Selbstdisziplin. „Die entscheidenden Mechanismen, die über das Gewicht entscheiden, kann der Mensch selbst kaum aktiv beeinflussen“, erklärt Bernd Schultes vom Stoffwechselzentrum St. Gallen. Appetit, Sättigung und der Kalorien-Basisverbrauch werden schließlich unbewusst von Hormonen, Darm und den Genen gesteuert.

Stigmatisierung führt zu hohem Stresspegel

Mit Willenskraft könne der Mensch dem zwar entgegensteuern, sagt der Endokrinologe, aber das sei so kräfteraubend, dass nur die wenigsten die ständige Selbstkasteiung lange durchhalten. Was die traurige Bilanz der meisten Diäten erklärt: Selbst wenn Ernährungsberater, Psychologen, Physiotherapeuten und Ärzte optimal zusammenarbeiten, schafft es ohne OP gerade mal etwa jeder siebte, ein Zehntel seiner Kilos zu verlieren. „Und die meisten haben spätestens nach vier, fünf Jahren wieder ihr altes Ausgangsgewicht erreicht.“

Manche Mediziner hängen zudem weiter dem fatalen Irrglauben an, ein bisschen äußerer Druck könne Dicken Beine machen. Riskieren dabei aber, genau das Gegenteil zu bewirken. Viele Übergewichtige würden sich als Reaktion eine Art Panzer anessen und noch mehr zunehmen, sagt Steffi Riedel-Heller, die Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig.

Ein Grund: Stigmatisierung führt zu erhöhten Werten des Stresshormons Kortisol. Und das wirkt nicht nur appetitanregend, sondern lässt die Belohnungszentren des Gehirns auch besonders dankbar auf die vermeintlich tröstende Kost reagieren. Was denken die Leute? Darf ich das noch essen? Solche Gedanken, sagt Anke Moltin, hätten sie ein Leben lang gequält. Da reagiert man besonders sensibel, wenn einem auch der Doktor keine Schonung gewährt. WeightWatchers, Atkins, Intervallfasten – mehr als zwanzig Diäten hat die 68-Jährige vergeblich ausprobiert.

„Nicht helfen zu können, ist uns Ärzten unangenehm.“

Einmal hat sie es sogar geschafft, vierzig Kilo abzunehmen, sie wollte unbedingt schwanger werden. Kaum war das Kind auf der Welt, war auch der Speck wieder da. Bernd Schultes glaubt, dass auch diese traurige Bilanz Übergewichtige zu ungeliebten Gästen in den Praxen macht. „Nicht helfen zu können, ist uns Ärzten unangenehm.“ Als Mediziner versteht man sich immer noch als Heiler und misst sich an dem Ziel, den Adipösen schlank zu machen. „Die Schuld am eigenen Scheitern reichen wir dann gerne an den Patienten weiter.“ Das bedeutet, ihm wird unterstellt, er mache ohnehin nicht das, was man ihm empfiehlt.

Für die Beziehung zwischen Arzt und Patient, diese Erfahrung hat der Experte immer wieder gemacht, ist es deshalb oft förderlich, weniger ehrgeizige Ziele anzupeilen: „Viele Betroffene profitieren schon enorm davon, wenn man auf sie eingeht, das Gewichtsproblem vorsichtig anspricht und ihnen nicht ihr eigenes Versagen vorhält.“

Humor statt Abwertung

Womöglich gelingt es sogar, dem Patienten Erleichterung von seinen Schuldgefühlen zu verschaffen, etwa indem man ihm die biologischen Zwänge der Adipositas erklärt. Auch solche Maßnahmen könnten reichen, sagt er, damit in kleinen Schritten die Kilos weniger werden. Und bereits ab einem Minus von zehn Prozent nimmt das Risiko von Komplikationen wie Bluthochdruck, Diabetes und Atherosklerose deutlich ab.

Zwei Mediziner sind Anke Moltin in Erinnerung geblieben. „Das Gewicht ist in Ordnung, nur an der Größe müssen wir arbeiten“, sagte ihr einst ihr Internist, seiner Praxis ist sie vierzig Jahre lang treu geblieben. „Im Ultraschall haben Sie eine Leber wie ein Kälbchen, Sie sind nur außen dick“, ein anderer. „Das fand ich lustig, da fühlte ich mich ernst genommen“, erinnert sie sich. Und es zeigt: Es kann auch anders gehen.

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