Jung, männlich, magersüchtig„Die Essstörung hat Zweifel und negative Gefühle betäubt“

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Aron Boks, Poetry-Slammer aus Berlin, erzählt von seiner Magersucht.

Köln/Berlin – Es gab Tage des Hungerns. Das Hungergefühl meldete sich zwar, aber Aron Boks ignorierte das. Seine Gedanken kreisten nur noch ums Essen, was es noch schwerer machte, weiter zu hungern. In der Hochphase seiner Magersucht war es deshalb für ihn ein Beweis von Disziplin, den drängenden Rufen nach Nahrung nicht nachzugeben. Er ist 19 oder 20 Jahre alt als sich das essgestörte Verhalten immer weiter in sein Leben drängt, nicht plötzlich, die Sucht hat sich langsam angeschlichen. Bis sie zu einer Dauerbeschäftigung wurde. Es war eine scheinbar beiläufige Bemerkung über Arons Aussehen, die den Funken der Essstörung entfachte. Er sei zwar schlank, aber sein Gesicht dick, sagte ein Bekannter zu dem Poetry-Slammer aus Berlin. Seine Suchterfahrungen hat der junge Mann in seinem Buch „Luft nach unten” beschrieben.

Heute, mit 23 Jahren, hat er die Kontrolle über sein Essverhalten zurück. Anfangs haben oberflächliche Gedanken für die Essstörung eine Rolle gespielt. „Ich hatte diesen Gedanken, dass ich hager sein wollte, diesen Verzicht auch nach außen tragen zu wollen.“ Doch Magersucht ist weit mehr als der bloße Wunsch nach einer äußerlichen Veränderung. „Essstörungen stoßen in unserer Gesellschaft generell noch auf zu wenig Verständnis, es braucht mehr Aufklärung. Man sollte irgendwie wissen, dass es eine facettenreiche Krankheit ist und sie nicht als ‚First World Problem‘ abstempeln“, sagt Aron. Für magersüchtige Männer sei es noch mal schwieriger sich zu öffnen, weil die Essstörung weiblich konnotiert ist, als „Mädchenkrankheit“ abgestempelt wird.

Frauen häufiger magersüchtig als Männer

Zwar tritt Anorexia nervosa deutlich häufiger bei Frauen auf, doch Männer sind auch betroffen. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind 0,3 bis 0,6 Prozent der Frauen zwischen 12 bis 35 Jahren betroffen, bei Männern zwischen 13 bis 24 Jahren sind es etwa 0,1 Prozent. Dass Magersucht vor allem mit Frauen in Verbindung gebracht werde, habe zunächst mit dem Schönheitsideal zu tun – bei Frauen gelten schlanke Models als Körperideal, bei Männern eher muskulöse Typen, sagt Stephan Bender, Direktor der Klinik für Psychatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln.

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Professor Stephan Bender

„Der zweite Grund ist die Entwicklung in der Pubertät. In dieser Phase gibt es bei Mädchen hormonelle Umstellungen, die ein Risikofaktor für Magersucht sein können. Diese führen nicht selten zu Zweifeln am eigenen Selbstwert. Bei Jungs ist in der Pubertät eher eine Reaktion in Form von externalisierenden Störungen – Drogenmissbrauch, Kriminalität – festzustellen.“ Trotz der ungleichen Verteilung bei Essstörungen zwischen den Geschlechtern solle Magersucht bei Jungs nicht als Unfall oder Einzelfall abgetan werden. „Für betroffene Jungs ist das Problem nicht kleiner als für betroffene Mädchen“, sagt Stephan Bender.

Essstörungen sind langwierige Krankheiten

Es ist seine Suchtstimme, wie Aron sie nennt, die ihn mit unbarmherzigen Vorwürfen zurückholt, jedes Mal, wenn er versucht hat, sich von der Magersucht zu lösen, ihr den Rücken zuzukehren. Sie sagte zu ihm: „Du musst dir gar nicht einbilden, dass du eine Krankheit hast, wenn du jetzt wieder gesund bist, ist es einfach nur eklig! Außerdem hast du es nicht verdient, normal zu essen, du hast es nicht verdient, normal zu sein!“ Die Sucht will bleiben, weiter existieren.

„In der Regel sind Essstörungen auch bei Männern und Jungs eine sehr langwierige Erkrankung und keine kurze Episode“, sagt Stephan Bender. Dass jemand sich bewusst für Magersucht entscheide, sei selten. Meist seien es unbewusste, schleichende Prozesse. „Spätestens in der Grundschule werden sich Kinder ihrer sozialen Stellung bewusst, in Richtung Pubertät nimmt die Selbstwahrnehmung stetig zu. Analog hierzu entstehen die Risikofaktoren für Essstörungen oft schon im Kindesalter, werden in der Pubertät aber besonders sichtbar und relevant.“

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Erziehung und die Entwicklung von Selbstwert und Autonomie – all das spielt eine Rolle bei der Entstehung von Essstörungen. Die höhere Unzufriedenheit von Jungs mit ihrem eigenen Körper erhöhe das Risiko für eine Magersucht. „Es müssen aber spezifische psychosoziale Probleme zwingend dazu kommen, aus den Rahmenbedingungen allein kann keine Essstörung entstehen“, erklärt Stephan Bender.

Selbstzweifel und negative Emotionen durch die Sucht betäuben

„Ich glaube, wenn ich jetzt zurückblicke, gab es in meiner Jugend seltsame Momente oder ich erkenne eine komische Beziehung zu Selbstbild, Körperbild und Essen. Es war aber nicht auffällig. Es waren einzelne Gedanken, ohne Richtung, ohne Ziel. Ich weiß nur, dass es nicht an meiner Prägung oder meiner Erziehung lag“, beschreibt es Aron Broks. Für sein Studium ist der junge Mann aus dem Harz nach Berlin gezogen. Hat Erfolg als Poetry-Slammer und Autor. „Im jungen Erwachsenenalter war ich schnell auf mich allein gestellt, nicht, weil es mir an Unterstützung gemangelt hätte, sondern weil ich Selbstzweifel an meiner künstlerischen Tätigkeit und anderen Dingen hatte.“

Die Magersucht hat die Zweifel, die negativen Gedanken und Emotionen betäubt. „Durch so etwas Stumpfes wie Hunger, konnte ich diese Zweifel und Gefühle ausgleichen. Es war eine Beschäftigung, bei der ich schnell Erfolg gesehen habe. Jeder Gewichtsverlust war eine Errungenschaft.“ Die Magersucht kostete so viel Energie, dass für andere Dinge nichts mehr davon übrig war.

„Es ist keine einfache Krankheit, die Essstörung schiebt einen Riegel vor die negativen Gefühle, sorgt wie Drogenmissbrauch, Binge-Eating oder selbstverletzendes Verhalten dafür, sich nicht mit den eigentlichen Problemen beschäftigen zu müssen, sondern mit der Sucht.“ Die Magersucht wirke kurzfristig. Mittelfristig werde das gestörte Essverhalten aber zum Problem, werde gar lebensgefährlich.

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Buchcover

Aron Boks: „Luft nach unten– Wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte”, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 288 Seiten, 14,99 Euro.

Foto: Schwarzkopf & Schwarzkopf

Gefahr der Krankheit wird oft unterschätzt

Fünf bis zehn Prozent der Patienten sterben nach Schätzungen an ihrer Essstörung, sagt Stephan Bender. Die Gefahr werde oft unterschätzt. „Viele Eltern denken, dass eigene Kind sei jetzt ein bisschen dünn oder konzentriere sich auf Sport. Hier gilt es deutlich zu machen, welche Konsequenzen folgen können. Oft höre ich das Argument, es sei ja bislang nichts passiert. Das ist vergleichbar mit der Herzinfarkt-Gefahr bei Übergewicht.“

Haben Eltern, Freunde oder Angehörige den Verdacht, dass das Kind oder der Freund magersüchtig ist, sollten sie sich zuerst begreiflich machen, dass es sich um eine Krankheit handelt, sagt der Psychiater. „Speziell bei Magersucht, die sich bei Jungs neben der Verweigerung zu essen vor allem auch im ausschließlichen Fokus auf Sport ausdrücken kann, sollte man als Eltern schauen, dass sich Verhaltensweisen normalisieren.“ Es sei wichtig, wie bei anderen Suchterkrankungen auch, rigide zu sein, verändere sich das Suchtverhalten nicht, verschwinde die Essstörung nicht einfach. „Langfristig gilt es, aufmerksam zu sein und zu verstehen, woher die Erkrankung kommt. Kennt man die Ursache, ist es einfacher, eine chronische Erkrankung frühzeitig zu vermeiden.“

Freunde und Eltern haben Arons Leben gerettet

Wie essentiell die Hilfe von Eltern und Freunden ist, weiß Aron Boks jetzt. Seine Freunde und Eltern haben interveniert, sie sind es, die den Ausschlag gegeben haben, dass Aron sich Hilfe holte. Ihm damit das Leben retteten. „Die Folgen meiner Magersucht waren drastisch. Ich habe sogar Gehirnmasse abgebaut, die sich zum Glück wieder zurückgebildet hat“, erzählt der 23-Jährige. Dass sein Essverhalten nicht normal und gesund sei, sei ihm schnell klar gewesen, doch die Krankheitseinsicht sei erst spät gekommen. „Selbst als ich mich schon für die Behandlung entschlossen hatte, hatte ich noch nicht wirklich eingesehen, dass ich eine Krankheit habe.“

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Heute weiß er, dass dies typisch für eine Magersucht ist. Mit ihr hatte Aron sich einen festen Tagesablauf, feste Strukturen aufgebaut, wieder gesund zu werden, Hilfe anzunehmen, bedeutete die Kontrolle zu verlieren. Die Angst war groß, sich von dem alten Leben verabschieden zu müssen und sich der Unsicherheit zu stellen, was das neue Leben bereithalten würde. Die Zweifel, ob ein gesundes Leben das Richtige wäre. Mittlerweile kennt Aron Methoden, um bei Problemen und negativen Gefühlen nicht in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, der unbarmherzigen Suchtstimme nicht mehr zu erlauben, wieder in sein Leben zu treten.

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