Kliniken schlagen AlarmIn NRW fehlen 700 bis 800 Fachkräfte in der Kinderpflege

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Pflege braucht Prsonal Symbol

Teilnehmer einer Demo für mehr Pflegepersonal.

Datteln / Dortmund – Ein Neugeborenes mit einem Gewicht von gerade einmal 260 Gramm. „So schwer wie ein Stückchen Butter“, sagt Pia Zurmühlen, Pflegedirektorin der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln. Sie spricht von einer der leichtesten Patientinnen, die je in der Kinderklinik behandelt wurde. Heute ist sie drei Jahre alt. Für ihre Pflege standen in der Klinik 280 Kinderkrankenpflegerinnen und Kinderkrankenpfleger bereit.

Die Zahl derer, die sich kümmern, könnte in Zukunft schrumpfen. Sieben offene Stellen für Kinderkrankenpfleger hat die Klinik derzeit ausgeschrieben. „Es kommen keine Bewerbungen mehr rein. Gar nichts“, sagt Pia Zurmühlen.  Der Fachkräftemangel in der Kinderkrankenpflege betrifft neben Köln auch andere Kliniken in Nordrhein-Westfalen.

700 bis 800 Kinderkrankenpfleger fehlen in NRW

Derzeit sind rund 42.600 Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger deutschlandweit beschäftigt. Davon arbeiten knapp ein Viertel, also 10.550, in NRW. Mehr als die Hälfte sind jeweils in Teilzeit eingestellt oder geringfügig beschäftigt. Für eine ausreichende Versorgung brauche es jedoch mehr Pfleger, die Vollzeit arbeiten.

„In Deutschland fehlen rund 3000 Vollzeitkräfte in der Kinderkrankenpflege“, sagt Jochen Scheel, Geschäftsführer der Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen (GKind). Genaue Daten über die Lage in NRW gebe es nicht, „aber es ist davon auszugehen, dass 700 bis 800 Vollzeitkräfte in NRW fehlen".

Jochen Scheel glaubt, dass sich das Problem des Fachkräftemangels in der Kinderkrankenpflege bundesweit, und somit auch in NRW, verschärfen wird. Ein Hauptgrund dafür ist das neue Pflegekräftereformgesetzt, das 2020 in Kraft getreten ist, sagen Scheel, Pia Zurmühlen und andere Experten.

Sorge, dass Pflegeschulen nicht mehr spezialisieren wollen

Im Zuge der Reform wurden die bisherigen Pflegeausbildungen zu einer generalistischen Ausbildung zusammengefasst. Die sogenannten Pflegefachfrauen oder Pflegefachmänner sollen vielseitiger in der Pflege eingesetzt werden können. Also zum Beispiel sowohl als Altenpfleger als auch als Kinderpfleger. 

Ganz so einfach sei es aber nicht, mahnen Experten. Schließlich müssten Fachkräfte in der Kinderpflege andere Dinge können als Pflegekräfte in Seniorenheimen. Eine Spezialisierung ist also weiter nötig. Und hieran könnte es künftig mangeln. Es wird befürchtet, dass in Zukunft immer weniger Pflegeschulen die Spezialisierung der pädiatrischen Versorgung im dritten Jahr der neuen Ausbildung anbieten werden. Laut einer nicht-repräsentativen Umfrage der GKind wollen etwa ein Viertel der Pflegeschulen die Vertiefung abschaffen. Der Grund: „Die Pflegeschulen neigen in der Regel dazu, lieber generalistisch auszubilden, da sie zum Beispiel im Unterricht weniger differenzieren müssen“, sagt Jochen Scheel.

Kinderkrankenpfleger wollen mi Kindern arbeiten

Eine weitere Sorge: Immer weniger junge Menschen entscheiden sich durch die generalisierte Ausbildung spezifisch für den Beruf des Kinderkrankenpflegers. „Früher haben sich die Auszubildenden ganz bewusst für die Pädiatrie entschieden, da sie mit Kindern arbeiten wollen“, sagt Pflegedirektorin Pia Zurmühlen. Die generalistische Ausbildung sieht allerdings auch Stationen in der Kranken- und Altenpflege vor. Das würde manchen, der ausschließlich mit jungen Patienten arbeiten wollte, von vorneherein abschrecken. „Im Zweifelsfall verlieren wir diese guten Leute in andere Kinder-affine Berufe“, sagt Jochen Scheel. Erst recht deshalb, weil rund 95 Prozent der Auszubildenden in der Pädiatrie Abiturienten sind. Eine Gruppe, die auch die Möglichkeit hat, ein Studium zu beginnen.

Das würde bedeuten, dass es in Zukunft noch weniger Absolventen der Kinderkrankenpflege geben wird. Bislang sind es deutschlandweit rund 2100, in NRW 540 pro Jahr. Die Folge: Die Differenz zwischen Absolventen und der Zahl der fehlenden Kinderkrankenpfleger würde steigen.

Mangelnde Ausbildung der Kinderkrankenpflege in den vergangenen Jahren

Ob dieses Szenario Wirklichkeit wird, kann allerdings noch niemand sagen. „Die 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung kann ei ne solche Folge noch gar nicht zeigen, weil erst 2023 der erste Jahrgang seine Ausbildung abschließt“, sagt Hilmar Riemenschneider, Sprecher der Krankenhausgesellschaft NRW (KGNW).

Auch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW sagt, dass der Fachkräftemangel eine andere Ursache hat: „Dieser entstehet aus einem Mangel an Ausbildung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege in den Vorjahren. Die Ursache hierfür liegt auch darin, dass die zuständigen Fachkliniken nicht ausreichend ausgebildet haben, obwohl es ausreichend Bewerberinnen und Bewerber gab.“

Pädiatrischer Anteil in der Generalistik nicht ausreichend

Die Reform solle den Pflegeberuf attraktiver machen – auch die Kinderkrankenpflege. „In der Vertiefung pädiatrische Versorgung verbringen die Auszubildenden den überwiegenden Anteil der praktischen Ausbildungszeit im Bereich der Kinder- und Jugendpflege, vergleichbar mit der klassischen Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflege", sagt Riemenschneider.

Für die Pflegedirektorin Pia Zurmühlen in Datteln ist der pädiatrische Anteil im Rahme der Generalistik trotzdem zu gering: „Den Auszubildenden fehlt so viel Know-how nach den drei Jahren, dass sie sich das alles noch nach der Ausbildung aneignen müssen.“ Wissen, das im Berufsalltag von den älteren Pflegekräften vermittelt werden müsse. „Vergessen sie das. Wo ist denn da noch die Qualität und die Sicherheit für den Patienten? Das geht alles verloren.“

„Diese Reform ist für die Pflege kranker Kinder eine Katastrophe"

Dominik Schneider, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Dortmund und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) spürt den Fachkräftemangel ebenfalls. Die Dortmunder Klinik habe derzeit 25 Stellen zu besetzen, für die keine Bewerber gefunden werden.

Seine Meinung zur Reform ist eindeutig: „Diese Reform ist für die Pflege kranker Kinder eine Katastrophe. Es ist unvorstellbar, dass zum Beispiel die Pflege von Frühgeborenen oder Säuglingen durch Pflegekräfte erfolgen soll, die keine praktische Erfahrung an solchen Patienten während ihrer Grundausbildung gewonnen haben.“

Ob diese Patienten in Zukunft ernsthaft in Gefahr sind, dazu will sich niemand äußern. Die Realität ist aber, dass die heutigen Pflegekräfte, die kranken Kinder und deren Eltern, schon jetzt mit den Folgen des Fachkräftemangels leben müssen.

Überlastung der Pflegeteams als Folge

„Die Nichtbesetzung der Stellen führt zunächst zu einer erheblichen Mehrbelastung der Teams, also den Aufbau von Überstunden. Aus meiner Sicht ist das aber eine Entwicklung, die nicht auf Dauer gut gehen kann, denn letztlich ist eine Überlastung der Pflegeteams die Folge“, sagt Dominik Schneider.

Zudem können viele Kliniken und Kinderabteilungen die Personaluntergrenze schon jetzt nicht mehr einhalten. Diese gibt die maximale Anzahl der Patienten vor, um die sich eine Pflegekraft kümmern darf. „Diese Bereiche müssen dann geschlossen werden“, sagt Zurmühlen. Das sogenannte Bettensperren führe dazu, dass die Kinder in andere Kliniken verlegt werden müssen. Manchmal mehrere Kilometer vom Wohnort der Eltern entfernt.

Versorgungsengpässe im Winter könnten möglich sein

Schon in ein paar Wochen könnte die Verlegung von Kindern aufgrund von Personalmangels Alltag werden. „Ich habe die Befürchtung, dass wir ganz große Versorgungsengpässe bekommen werden“, sagt Jochen Scheel. Denn die Zahl der jungen Patienten wird in Herbst und Winter steigen. Aufgrund der Corona-Hygienemaßnahmen haben besonders die Kleinkinder ein abgeschwächtes Immunsystem, das sich jetzt, mit Zunahme der Kontakte, bemerkbar macht.

„Wir haben viele junge Patienten mit dem RS-Virus, ein Virus, der normalerweise erst ab Dezember auftritt“, sagt Pia Zurmühlen. Auch in anderen Kliniken ist diese Infektionswelle zu spüren, sagt Dominik Schneider: „Alle mir bekannten Kinder- und Jugendkliniken arbeiten angesichts der ungewöhnlich frühen und starken Infektionswelle derzeit an den Kapazitätsgrenzen.“

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Werden die Personaluntergrenzen unterschritten, weil zu viele Patienten kämen, müssen die Kliniken eigentlich sogar mit Sanktionen und Strafzahlungen rechnen. Immerhin hier beschwichtigt das Gesundheitsministerium. Bei starken Erhöhungen der Patientenzahlen liege ein Ausnahmetatbestand vor. „Sofern es also tatsächlich aufgrund von Infektionswellen zu starken Erhöhungen der Patientenzahlen kommt und dies von den Krankenhäusern nachgewiesen wird, drohen keine Sanktionen“, sagt das Gesundheitsministerium. 

Eine große Hilfe für die überlasteten Pflegerinnen und Pfleger ist das indes natürlich nicht. Jochen Scheel sagt: „Es gibt nur einen Ausweg aus der Situation: Ausbilden, ausbilden, ausbilden.“

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