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Leben mit Borderline„Normal zu sein ist gar nicht so normal, wie alle denken“

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Dominique de Marné spricht oft in Schulen über ihre psychische Krankheit.

München – Fast jeder dritte Mensch leidet Schätzungen zufolge mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung. Jedes Jahr sind in Deutschland etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen, so aktuelle Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.

Psychische Störungen sind also nicht selten und trotzdem ein Tabu-Thema. Auch Dominique de Marné litt lange unter Depressionen, war alkoholabhängig und verletzte sich selbst – ohne so richtig zu wissen, warum. Bis sie die Diagnose „Borderline-Störung“ erhielt, vergingen zehn Jahre.

Heute setzt sich die junge Frau dafür ein, dass mit psychischen Erkrankungen offener umgegangen wird.

Sie geht in Schulen, veranstaltet Infotage in Universitäten und informiert darüber in ihrem Blog. Außerdem hat sie das Buch „Warum normal sein gar nicht so normal ist – und warum reden hilft“ geschrieben. Wir haben mit ihr darüber gesprochen.

Ihr Buch heißt: „Warum normal sein gar nicht so normal ist“. Haben wir alle einen kleinen Knacks?

Dominique de Marné: Wir sind Individuen und weichen alle von der Norm ab. Und das ist doch toll, es gibt keinen Standard! Wir sind alle unterschiedlich und das sollten wir viel mehr wertschätzen anstatt uns permanent gegenseitig zu verurteilen.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie nicht „normal“ sind?

de Marné: Erste Vermutungen hatte ich schon als Kind, als Jugendliche ist mir klarer geworden: Ich habe mich nie wirklich dazugehörig oder normal gefühlt. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich anders bin und alles nicht so hinbekomme, wie die anderen. Im Alter von 15, 16 Jahren ging es bei mir mit dem Alkohol und den Selbstverletzungen los: Mir war schon klar, dass das nicht so klug ist, ich wusste aber nicht, dass ich krank bin und hatte keine langfristige Lösung, damit umzugehen.

Bei Ihnen wurde unter anderem eine Borderline-Störung diagnostiziert, was genau ist das?

de Marné: Borderline ist eine sehr komplexe Persönlichkeitsstörung, bei der hauptsächlich die Emotionen betroffen sind, eigentlich heißt sie vollständig „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung“. Das heißt, die Gefühle sind sehr stark bis extrem und können schnell wechseln. Zur Erkrankung gehört außerdem, dass Betroffene mit einem instabilen Selbstbild zu kämpfen haben. Nicht nur weiß man nicht, wer man ist, man traut sich auch nichts zu. Die Abwesenheit von Selbstvertrauen und Selbstliebe ist ganz typisch. Auch das Meistern sozialer Begegnungen ist für viele Menschen mit Borderline eine Herausforderung. Borderline bedeutet aber auch, sehr empathisch zu sein, kreativ. Ich sage immer: mit mir wird es nie langweilig.

Sie sind jetzt 32 Jahre alt und litten schon lange unter der Störung, bevor Sie die eigentliche Diagnose bekamen. Wie ist Ihr Leben denn damit verlaufen?

de Marné: Der eine Teil meiner Vita ist eher langweilig: Ich habe ein gutes Abitur gemacht und ein Studium abgeschlossen. Nach außen sieht das natürlich sehr gut aus. Was man nicht gesehen hat ist, dass ich in meiner Jugend viel Alkohol getrunken habe. Das hat mit 15, 16 Jahren angefangen und endete in meinen 20ern bei einer Flasche Wodka plus X pro Tag. Teilweise trank ich schon morgens, weil ich das Gefühl hatte, ohne Alkohol meine Maske nicht aufrechterhalten zu können. Wirklich aktiv geworden bin ich aber erst mit Ende 20 als ich gemerkt habe, dass ich da wohl noch nicht alleine rauskomme.

Aber nach außen haben Sie immer gut funktioniert?

de Marné: Ja, es war mir immer sehr wichtig, dass niemand merkt, wie schlecht es mir wirklich geht. Ich war im Chor aktiv, in der Theatergruppe und habe alles gemacht, was man machen konnte. Ich war immer bunt angezogen und jeder an der Schule kannte mich. Was aber niemand von mir wusste, waren die regelmäßigen abendlichen Zusammenbrüche, wenn ich zuhause war. Am nächsten Morgen ging das Theaterspiel dann immer von vorne los.

Hat denn nicht Ihr engstes Umfeld, die Familie und Freunde, etwas von den Zusammenbrüchen mitbekommen?

de Marné: Nein, mein Umfeld hat nichts von alledem mitbekommen. Ich bezeichne mich gern als „hochfunktional“ und damit bin ich nicht alleine. Viele Menschen, die eine psychische Krankheit haben, funktionieren nach außen sehr gut. Wenn man jetzt hört, wie mein Alltag so war, ist das oft schwer zu glauben. Wenn es aber das höchste Ziel ist, dass niemand etwas mitbekommt, dann schafft man das auch. Und das liegt nicht daran, dass mein Umfeld es nicht sehen wollte. Ich habe es vielmehr unmöglich gemacht, dass meine Familie oder meine Freunde etwas merken. Man wird unheimlich kreativ und wächst da ja rein. Wenn sich die Probleme steigern, dann wird man auch besser in den Verheimlichungsstrategien.

Dann bekamen Sie – nach zehn Jahren Leiden – die Diagnose Borderline. Was hat das für sie bedeutet?

de Marné: Es war eine riesige Entlastung, weil ich dann wusste, dass es nicht an mir liegt. Dieses Anderssein, das Komisch sein, das „nicht-so-funktionieren“ hat einen Namen: Borderline. Ich bin erstmal in den Buchladen gelaufen und habe mir Informationen zum Thema gesucht. Bei der Lektüre habe ich mich zum ersten Mal wirklich verstanden gefühlt. Außerdem stand da auch etwas von Behandlung, Therapie und dass es besser werden kann. Das hat mir sehr geholfen und war der erste Schritt auf meinem Weg aus der Depression.

Als Ihnen klar war, dass Sie Hilfe brauchen, sind Sie in eine Klinik gegangen.

de Marné: Ja, in der ambulanten Therapie haben wir schnell gemerkt, dass das noch nicht ausreicht. Der Cut musste größer sein. Darum habe ich mich für drei Monate in eine Psychiatrie einweisen lassen. Ich habe dort viel gelernt, was mir auch heute noch hilft, wie zum Beispiel radikale Akzeptanz, also dass es Dinge im Leben gibt, die man akzeptieren muss. Außerdem weiß ich heute, dass ich mich immer wieder neu für den Weg entscheiden muss. Klar wäre es einfacher, gewohnte Strategien anzuwenden, wieder zum Alkohol zu greifen. Aber ich entscheide mich jeden Tag dagegen. 

Nehmen Sie auch Medikamente gegen die Depression?

de Marné: Ich habe mich lange gewehrt, denn ich kannte nur die ganzen Horrorgeschichten darüber, aber seit zwei Jahren nehme ich Antidepressiva und komme sehr gut damit klar. Heute frage ich mich, warum ich so lange gewartet habe. Auch wenn ich gegen die Alkoholsucht und das Borderline keine Medikamente nehmen kann, so kann ich mir Hilfe im Kampf gegen die Depression holen. Die Depression ist wie ein kleines Monster, das immer hinter mir steht und mich nach unten ziehen will, und da musste ich mich jeden Tag gegen stemmen. Jetzt beschäftigt sich das Medikament mit dem Monster und ich habe Kraft für meinen Alltag. 

Sie gehen in Schulen und sprechen mit jungen Menschen über Mental Health – warum setzen Sie sich für einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen ein?

de Marné: Weil sich ganz dringend etwas im Umgang mit psychischen Erkrankungen ändern muss. Ich persönlich habe zehn Jahre meines Lebens verloren, weil ich gar nichts über diese Themen wusste und erst mit 27 Jahren meine Diagnose bekommen habe. Das Wissen hat für mich alles geändert. Aber die zehn Jahre davor möchte ich heute nicht mehr „leben“ nennen, das war eher ein „überleben“.

Außerdem habe ich gemerkt, wie groß das Stigma der Erkrankung ist. Bei vielen meiner Mitpatienten in der Psychiatrie waren die Ängste vor einem Outing so groß, dass sie das Versteckspiel vorgezogen haben.

Wie reagieren die Schüler vor denen Sie sprechen auf das Thema?

de Marné: Sie wollen drüber sprechen. In Liedtexten oder Netflix-Serien geht es immer wieder um Depressionen, Selbstverletzungen oder Suizid. Für die Schüler sind die Themen Alltag, aber sie werden damit allein gelassen. Wenn ich komme, dann erlebe ich oft eine große Dankbarkeit, dass mal jemand mit ihnen drüber spricht und ihnen hilft, die Dinge einzuordnen. Wenn man sich überlegt, dass die Hälfte aller psychischen Erkrankungen ihren Ursprung vor dem 14. Lebensjahr hat, dann finde ich es unfassbar, dass ich die erste erwachsene Person bin, mit der 16-Jährige darüber sprechen.

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Wie geht es Ihnen heute?

de Marné: Richtig gut! Keine der Krankheiten ist verschwunden – aber heute kontrolliere ich sie, und nicht mehr sie mich. Erst vor kurzem wurde ich von einer Schülerin gefragt, ob ich glücklich sei. Und es war auch für mich toll zu merken, dass ich ohne ein Zögern sofort „Ja!“ gesagt habe. Das ist es auch, was ich anderen Betroffenen so gerne mitgeben möchte: hätte man mir vor wenigen Jahren erzählt, wo ich heute einmal stehe würde, dass ich Mental-Health-Fürsprecher in Vollzeit bin, Marathon laufe, auf Berge steige, ein Buch veröffentliche – ich hätte es einfach nicht glauben können. Oder besser gesagt: die Krankheiten hätten es mir nicht erlaubt, es zu glauben. Und doch stehe ich heute hier, liebe mein Leben und möchte anderen Mut machen, Vorbild sein und verändern, dass und wie wir über psychische Gesundheit sprechen. Denn: Reden hilft und Zuhören auch.

Kontaktmöglichkeiten für Menschen mit Depressionen und Angehörige

Telefonseelsorge: 0800-1110111 oder 0800-1110222 oder 116123

Info-Telefon Depression: 0800-3344533 (montags/ dienstags/ donnerstags von 13 bis 17 Uhr, mittwochs und freitags von 08.30 bis 12.30 Uhr)

Nummer gegen Kummer: 116111 (Für Kinder und Jugendliche, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr)

Elterntelefon: 0800-1110550 (montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr und dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr)

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