Lippen-Kiefer-GaumenspalteLeben mit einer „Hasenscharte“

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Die „Hasenscharte“ ist die häufigste Fehlbildung bei Neugeborenen. Die Betroffenen leiden nicht nur unter den Hänseleien, sondern oft auch an weiteren Gesundheitsproblemen. Nico Dietzler erzählt, wie er gelernt hat, mit der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu leben.

Nico sitzt in einem Kölner Straßencafé und nimmt einen Schluck aus seiner Tasse. Der 22-Jährige ist groß, schlank, hat volle blonde Locken und einen Drei-tagebart. Er scheint dem gängigen Schönheitsideal junger Männer ziemlich gut zu entsprechen. Zumindest, bis Nico die Tasse wieder absetzt und Narben zwischen Oberlippe und Nase zum Vorschein kommen. Er hat das, was früher „Hasenscharte“ genannt wurde – ein Merkmal, das weniger gut ins gängige Schönheitsideal passt.

Nico Dietzler wurde mit einer doppelseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren. „Ich war bei meiner Geburt quasi der Super-GAU“, sagt er lächelnd. Heute kann er seine Geschichte selbstbewusst erzählen - das war nicht immer so. „Nico hat nie viel darüber gesprochen. Ich wusste nicht, wie es ihm innerlich ging“, sagt seine Mutter Anita Krapf.

Sie kann sich noch sehr gut an den 27. August 1986 erinnern – den Tag ihrer Entbindung im Würzburger Universitätsklinikum. „Ich war erst 22 Jahre alt und habe mich auf mein erstes Kind gefreut“, sagt sie. „Als ich ihn dann zum ersten Mal gesehen habe, war ich schockiert – zwischen Nase und Mund war ein riesiges Loch.“ Der erste Kontakt mit ihrem Neugeborenen, eigentlich einer der schönsten Momente im Leben einer Frau, war für die Mutter besonders aufwühlend, weil während der Schwangerschaft nichts auf die Fehlbildung hinwies.

Heutzutage ist die Pränataldiagnostik weiterentwickelt. „Durch die modernen Ultraschallgeräte lassen sich schon in der 16. bis 22. Schwangerschaftswoche Spaltbildungen der Lippe und unter Umständen des Gaumens erkennen“, sagt Dr. Martin Scheer, Oberarzt der Klinik für Mund- Kiefer und Plastische Gesichtschirurgie der Kölner Uniklinik. Eltern können so schon vor der Geburt über die späteren Behandlungsmöglichkeiten informiert werden.

Kinder haben Probleme beim Stillen – Gaumen-Nasen-Trennplatte hilft

Direkt nach der Geburt eines so- genannten „Spaltkindes“ folgen ganz praktische Probleme: Die Neugeborenen können nicht ohne weiteres gestillt werden, da sie ohne harten Gaumen kaum Druck auf die Brustwarze der Mutter ausüben können. Sie bekommen eine Gaumen-Nasentrennplatte, die nach der Geburt angefertigt wird und wie eine Zahnspange an den Oberkiefer gelegt wird. „Durch die Platte wird die normale Nahrungsaufnahme über den Mund ermöglicht“, erklärt Dr. Scheer. Bis dahin werden die Neugeborenen künstlich ernährt. Aber auch mit Trennplatte ist es sehr aufwendig, ein „Spaltkind“ zu füttern. „Bei Nico hat es immer zwei Stunden gedauert, bis er sein Fläschchen getrunken hat“, erzählt Anita Krapf.

Dafür hat die schwierige Fütterung des Kindes meist einen psychologischen Nebeneffekt: „Durch den erhöhten Zeitaufwand bietet sich die Chance, dass beide Elternteile in intensiven Kontakt mit dem Neugeborenen treten“, sagt Dr. Scheer. Denn oft haben gerade Väter anfangs Schwierigkeiten damit, das Kind vorbehaltlos zu akzeptieren. Das war auch bei Nico der Fall. „Mein Mann hatte größere Probleme als ich damit, Nico als Sohn anzunehmen“, sagt Anita Krapf. Nach einigen Wochen intensiver Fütterung mit der Flasche hatte ihr Mann die emotionale Distanz zum Sohn aber komplett abgebaut.

In den kommenden Monaten und Jahren folgte ein Operations-marathon für Nico: Fünfmal wurde er bis zur Einschulung im Gesicht operiert – Gaumen, Oberlippe und Nasenboden wurden verschlossen. Daher ist auch ein Krankenhausaufenthalt die erste Erinnerung, die Nico im Zusammenhang mit seiner LKG-Spalte hat: „Ich war als Kindergartenkind in der Klinik und mein Kuscheltier wurde mir geklaut“, erzählt der 22-Jährige. Er hat eine nasale Aussprache – eine Eigenschaft von vielen Betroffenen. „Wenn ich mich konzentriere, kann ich das Näseln aber fast komplett abstellen“, sagt er.

Spätfolgen der OPs sind heute selten

Die schwierigste Zeit kam für Nico mit der Pubertät: Weil das Narbengewebe nicht mitwuchs, hob sich die Oberlippe, schob sich der Unterkiefer nach vorne und die Nase neigte sich zur Seite. Diese Spätfolgen der Verschlussoperationen tritt mit moderneren OP-Methoden heute aber immer seltener auf. „Ich hatte damals eine richtige Krüppelnase“, erzählt Nico.

Operative Korrekturen machten keinen Sinn, weil sein Gesicht noch nicht ausgewachsen war. Die Folge: Der Schüler war gehemmt, auf Menschen zuzugehen, auch andere hatten Hemmungen ihm gegenüber. „Partnerschaftlich lief null“, erinnert er sich. „Die ganze Situation war schon sehr belastend, aber nie so schlimm, dass ich daran zerbrochen wäre.“ In dieser Zeit half ihm sein Interesse für alternative Religionen: „Ich habe mich intensiv mit dem Buddhismus beschäftigt“, sagt Nico. „Das war für mich wie eine Therapie.“

Nicht alle „Spaltkinder“ kommen mit ihrem Schicksal so gut zurecht wie er. In einem Selbsthilfeforum im Internet schreibt Ulrike80: „Meine OPs, meine Kindheit und Jugendzeit haben mich teilweise schwerst traumatisiert. Ich bin auf dem Gebiet immer noch extrem verletzlich.“

Bei Nico folgte vor vier Jahren der nächste Schritt auf dem Weg zum neuen Selbstbewusstsein. Sein Wachstum war so weit abgeschlossen, dass mit den Korrektur-OPs begonnen werden konnte, auf die er so lange gewartet hatte. „Jede dieser Operationen war für mich, als würde sich ein großes Tor öffnen, als bekäme ich mehr Freiraum, um mich zu entfalten“, erzählt er.

Nach fünf operativen Korrekturen wurde Nico im Frühjahr dieses Jahres zum letzten Mal operiert. Mit dem Ergebnis ist er sehr zufrieden. „Ich erkenne es bei anderen sofort, wenn sie eine Spalte haben“, sagt er, „und sehe oft Fälle, die viel schlimmer aussehen als ich.“ In Zukunft soll ihn seine Spalte nicht mehr beeinträchtigen. Er macht eine Ausbildung zum Kinderpfleger und holt anschließend sein Abitur nach.

Nico sitzt in einem Kölner Straßencafé. Der 22-Jährige ist groß, schlank, hat volle blonde Locken und einen Dreitage-bart. Seine Tasse steht vor ihm auf dem Tisch. Er lächelt.

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