Lockdown-EffektSinkt die Zahl der Frühchen-Geburten in der Corona-Krise?

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Die Frühchen-Stationen sind in einigen Kliniken leerer als sonst.

  • Ein Artikel der New York Times weckt Hoffnung auf einen positiven Effekt des Lockdowns: Gehen die Frühchen-Zahlen weltweit zurück?
  • Die ersten offiziellen Zahlen sind für Deutschland bereits ausgewertet – was diese uns über die Situation sagen können und wie die Lage in Köln aussieht.
  • Die Experten Prof. Dr. Ekkehard Schleußner, Ursula Felderhoff-Müser und Sigrid Krebs geben dazu eine Einschätzung.

Köln – Es gibt wohl kaum einen Lebensbereich, der von dem Thema unangetastet bleibt: Durch den Corona-Lockdown wurden wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben heruntergefahren, Betriebe geschlossen, Kontakte eingeschränkt. In Folge der Mehr-Zeit zuhause wagten Experten eine vorsichtige Prognose auf einen Babyboom zum Ende des Jahres. Dann berichtete die New York Times: Weltweit sei einigen Ärzten aufgefallen, dass im Zuge des Lockdowns weniger Frühchen geboren wurden. Heißt genauer: Ein Zahleneinbruch bei jenen Babys, die vor der Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche, in extremen Fällen weit davor, zur Welt gekommen sind.

Unter anderem auch der SWR berichtet: Untersuchungen in Irland und Dänemark hätten ergeben, dass es in ihren Ländern weniger Fälle von extremen Frühgeburten gab als im Vergleich zu den Vorjahren. Mögliche Gründe für diese Entwicklung während des Lockdowns könnte etwa weniger Stress für die Schwangeren sein. Oder: Sie sind mit weniger Krankheitserregern in Kontakt gekommen, die sonst womöglich eine Frühgeburt provoziert hätten. Manche Experten sind vorsichtiger und sprechen von einer Umverteilung der Frühchen auf andere Kliniken. 

Doch was ist nun mit Deutschland? Sinkt die Frühgeburtenrate auch hier? Diese Frage haben Sigrid Krebs, Prof. Dr. Ekkehard Schleußner und Ursula Felderhoff-Müser beantwortet – stellvertretend für die Kliniken Köln, die Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin und für die Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin.

Frühchen-Zahlen könnten sich auch regional unterscheiden

Sigrid Krebs, Pressesprecherin der Kliniken Köln, macht vor allem eines deutlich: Die Situation kann man nicht für alle Regionen Deutschlands gleich bewerten. „In dünner besiedelten Regionen beispielsweise ist die Versorgungssituation für werdende Mütter und Frühgeburten eine andere als in Köln. Es gibt hier im Stadtgebiet mehrere Geburtstskliniken und gleich zwei Level-1-Perinatal-Zentren, die die höchste Versorgungsstufe für Frühchen bieten.“ Eine mögliche Erklärung dafür, dass in der Kölner Geburtsklinik und dem angeschlossenen Perinatalzentrum im Krankenhaus Holweide bislang kein Rückgang, sondern aktuell gar ein kleiner Zuwachs an Frühchen verzeichnet wird – alles aber im Rahmen normaler Schwankungen.

Denn: Viele Frauen würden sich wegen möglicher Risiken schon im Vorfeld überlegen, wo sie ihr Kind zur Welt bringen möchten. Und entscheiden sich im Zweifel eher für Köln, wo Spezialisten vor Ort sind, als für eine Klinik im ländlichen Raum. Vielleicht haben sich also die Zahlen der Frühchen um Köln herum verringert, weil Frauen aus diesen Regionen ihre Kinder dort zur Welt gebracht haben? Darüber vermag Sigrid Krebs keine Aussage zu treffen. „Bei einem Zusammenhang zwischen den Frühchen-Zahlen und dem Coronavirus können wir nur für unser Haus sprechen. Es gibt noch keine klare Datenlage.“

Zahlen schwanken im Normalbereich

Anders sieht das etwa 320 Kilometer Luftlinie östlich von Köln aus: Am vergangenen Freitag sind die ersten offiziellen Zahlen für Deutschland – zunächst für Thüringen – ausgewertet worden. Aus dem Wunsch heraus, auch für Deutschland Klarheit in Sachen Frühchen zu bekommen. Denn normalerweise erhebt jedes Bundesland die Perinatalstatistik erst am Ende jeden Jahres. „Diese Zahlen sind bislang die einzigen, die es für Deutschland bezüglich der Frühgeburten-Rate gibt. Und weil Jena als erste deutsche Großstadt bereits Mitte März Quarantäne und Maskenpflicht eingeführt hat, könnte man davon ausgehen, dass der Zusammenhang zwischen Lockdown und niedrigeren Frühchen-Zahlen – wenn es einen gäbe – hier im Vergleich zu anderen Bundesländern am ehesten sichtbar wird“, sagt Prof. Dr. Ekkehard Schleußner, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin.

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Die Landesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung Thüringen hat bei der Halbjahres-Bilanz nun herausgefunden: Es macht sich bislang kein Einfluss des Corona-Lockdowns auf die Frühgeburten im Land bemerkbar. Im April 2020 lag die Rate bei 9,9 Prozent, im April 2019 dagegen bei 8,1 Prozent. Im April 2018 wiederum kamen 10,5 Prozent der Babys in Thüringen zu früh. „Es gilt immer, viele Einflussfaktoren zu berücksichtigen – somit gehen die Zahlen für das erste Halbjahr 2020 nicht über normale Schwankungen hinaus. Und ich glaube nicht, dass diese Zahlen beispielsweise in Berlin oder NRW anders aussehen werden“, so Schleußner.

Merklicher Anstieg von Totgeburten

Aber warum gibt es – jedenfalls bisher – einen so deutlichen Unterschied zwischen der Situation hierzulande und der in Irland und Dänemark? Laut Professorin Ursula Felderhoff-Müser, Präsidentin der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, liegt das vor allem an den Unterschieden der Gesundheitssysteme. In den skandinavischen Ländern würden Frühchen direkt erfasst, in Deutschland hingegen erst, wenn sie aus den Kliniken entlassen würden. Deshalb könnten sich die Auswirkungen des Lockdowns für den deutschen Raum noch gar nicht auf die Zahlen des ersten Halbjahrs auswirken. Und auch Felderhoff-Müser schließt eine gegenteilige Umverteilung als Lösung dieses Rätsels nicht aus: „Vielleicht haben einige Schwangere wegen des Coronavirus große Kliniken gemieden und sind in kleinere ausgewichen.“

Eine weitere mögliche Ursache, die die Thematik in weniger positivem Licht darstellt: In der medizinischen Fachzeitschrift der American Medical Association, der JAMA, wurde in der vergangenen Woche eine Studie veröffentlicht, dass es während der Corona-Pandemie mehr Totgeburten in der Londoner Universitätsklinik gab. Und diese Entwicklung kann auch Prof. Dr. Ekkehard Schleußner für Thüringen bestätigen: „Während im ersten Halbjahr nur acht Totgeburten für unser Bundesland gezählt wurden, sind es 2020 bereits 14.“

Aber auch hier gilt: Für Rückschlüsse auf andere größere wissenschaftliche oder medizinische Zusammenhänge bleibt es schlicht noch zu früh.

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