NaturheilkundeBei welchen Krankheiten bringt Ayurveda wirklich was?

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Ayurveda

Eine Ayurveda-Behandlung

  • Im Immanuel-Krankenhaus am Berliner Wannsee wird die Wirkung des Ayurveda wissenschaftlich erforscht.
  • Erste Studien zeigen: Bei manchen Krankheiten hilft die traditionelle indische Naturheilkunde erstaunlich gut – zum Beispiel bei Knie-Arthrose.

Berlin – Noch etwas zaghaft schiebt Judy Gummich ihr Fahrrad auf die Straße. Seit Jahren ist sie damit nicht mehr gefahren. Vorsichtig drückt sie sich ab, schwingt sich auf den Sattel und streckt das Bein durch. Es klappt. Ihr Knie ist wieder so beweglich, dass sie in die Pedale treten kann. Dieser glückliche Moment liegt nun eine Weile zurück: „Das war ein tolles Gefühl“, sagt Judy Gummich, eine Frau Anfang 60 mit langen dunklen Dreadlocks und braunen Augen. Jahrelang war sie immer wieder bei Ärzten gewesen, war mehrmals operiert worden, alles hatte immer nur kurzfristig etwas Besserung gebracht. Doch dann nahm sie an einer wissenschaftlichen Studie teil, für die Patienten mit Knie-Arthrose gesucht wurde und lernte eine für sie ganz neue Art der Therapie kennen: Ayurveda, die Traditionelle Indische Medizin (TIM). Schon nach wenigen Wochen wurde ihr Bein wesentlich beweglicher und sie war fast schmerzfrei.

Mit Ayurveda verbinden viele Menschen in westlichen Ländern ausschließlich Massagen und andere Entspannungsangebote in Spas und Hotels. „Bei uns hat Ayurveda so ein Wellness-Image“, sagt Christian Kessler, Oberarzt am Berliner Immanuel-Krankenhaus. „Es ist aber erheblich mehr als das, nämlich ein sehr altes, fundiertes Medizinsystem, das sich seit Jahrhunderten in Südasien bewährt hat.“ Der Mediziner arbeitet an einem der wenigen Orte in der westlichen Welt, an denen die Wirkung der Traditionellen Indischen Medizin wissenschaftlich erforscht wird. Durch das Fenster in seinem kleinen Büro sieht man auf Fachwerk, der Kleine Wannsee ist gleich hinter dem Haus. In Zusammenarbeit mit der Charité haben er und seine Kollegen hier bereits in mehreren klinischen Studien die Wirkungen von Ayurveda bei verschiedenen Krankheiten untersucht.

Doppelt so großer Effekt wie bei konventioneller Therapie

Ayurveda heißt übersetzt „Wissen vom Leben“ und ist eine der ältesten Naturheilkunden der Welt. Seit 2000 Jahren kommt sie in Südostasien bereits zur Anwendung, sodass sie eine umfangreiche Sammlung an Erfahrungswissen umfasst. „Ayurveda ist global betrachtet keine exotische Nische, sondern gehört in einem Ballungsraum, in dem mittlerweile mehr als 1,5 Milliarden Menschen leben, zum Alltag der Menschen“, sagt Kessler. In Indien ist das traditionelle Medizinsystem staatlich anerkannt. So gibt es dort ungefähr 400.000 Ayurveda-Ärzte, die an rund 2500 Kliniken und in 15.000 Ambulanzen arbeiten. Sie müssen ein Ayurvedamedizinstudium absolvieren, das in der Regel zwischen vier und acht Jahren dauert.

Judy Gummich hatte vor ihrer ersten Behandlung noch nicht viel über Ayurveda gehört. Als junge Frau war sie beim Handball falsch aufgetreten und musste deswegen am Meniskus operiert werden. Danach war das Knie blockiert und verschliss über die Jahre immer mehr. Das Gehen fiel ihr zunehmend schwer. Per Zufall stieß sie auf die Berliner Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus. „Ich bin damals nachts mehrmals bei der kleinsten Bewegung wegen der Schmerzen aufgewacht“, berichtet sie. Bei der Studie, an der sie teilnahm, bekam die eine Gruppe der 151 Patienten zwölf Wochen lang eine konventionelle Therapie wie sie in Deutschland bei Knie-Arthrose üblich ist.

Dazu gehören vor allem Physiotherapie, Schmerzmittel und Ernährungsberatung im Falle von Übergewicht. Die andere Gruppe, zu der auch Judy Gummich gehörte, wurde ayurvedisch therapiert – mit Ölmassagen, Kräuterbeutel- und Dampfbehandlungen, Knie-Yoga sowie einer individuellen Ernährungs- und Lebensstilberatung. Besserung gab es bei allen Teilnehmern. Alle waren im Durchschnitt mobiler und hatten weniger Schmerzen. Der Effekt bei der Ayurvedabehandlung war jedoch fast doppelt so groß wie bei der konventionellen Therapie. Und: Eine deutliche Wirkung war auch noch ein Jahr später feststellbar. Einige Studienteilnehmer, denen Ärzte vorher zu einem künstlichen Kniegelenk geraten hatten, kamen ohne Operation aus.

Individualisierte Therapie

Vor allem diese Nachhaltigkeit des Ayurveda ist es, die Christian Kessler beeindruckt hat. Er führt sie auf den ganzheitlichen Ansatz der indischen Heilkunde zurück: „Unsere westliche Schulmedizin bezieht die Patienten oft zu wenig ein. Die indische Naturheilkunde leitet zur Selbstwirksamkeit an“, sagt der Mediziner. So lernen die Patienten beispielsweise, wie sie sich zu Hause selbst massieren können, welche Yoga-Übungen sie in den Alltag einbauen und wie sie ihre Ernährung dauerhaft sinnvoll umstellen können. „Sie bekommen hier im Grunde eine Art Bootcamp zur therapeutischen Selbstfürsorge“, sagt Christian Kessler.

Ayurveda ist eine sehr individualisierte Therapie. Zugrunde liegt die Annahme, dass Menschen ganz unterschiedliche Konstitutionen haben. Als Erklärungsmodell zur Veranschaulichung von Gesundheit und Krankheit verwendet Ayurveda das Konzept der drei Funktionsprinzipien Vata, Pitta und Kapha, die in jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind. Gerät dieses individuelle Verhältnis aus der Balance, kommt es aus ayurvedischer Sicht zu gesundheitlichen Beschwerden und Krankheiten. Dabei können auch Lebensstilfaktoren, psychischer Stress, falsche Ernährung und mangelnde Schlafhygiene eine Rolle spielen.

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Um den Konstitutionstyp eines Patienten zu erfassen, nehmen Ayurvedaärzte eine ausführliche Anamnese und Untersuchung vor. Sie betrachten die Beschaffenheit von Körperbau, Haaren und Haut, stellen viele Fragen zu Verdauung, Vorlieben und Lebenswandel. Auch eine Puls- und Zungendiagnostik gehört zu den ersten Untersuchungen. Die Therapie wird auf jeden Menschen möglichst individuell abgestimmt. Sie umfasst neben spezifischen Behandlungen auch Empfehlungen zur Ernährung, denn Ayurveda geht davon aus, dass bestimmte Lebensmittel für die eigenen konstitutionellen Voraussetzungen förderlich oder nachteilig sein können. Eine typgerechte Ernährung kann Körper und Geist demnach dabei unterstützen, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Auch Judy Gummich hat vieles von dem beibehalten, was sie während der Studie gelernt hat. Ihr Knie schwillt zwar immer mal wieder an, sie kann heute aber ohne Schmerzen durchschlafen und viel besser gehen. Zu Hause kocht sie regelmäßig nach ayurvedischen Prinzipien – zum Beispiel Suppen und andere Gerichte mit Wurzelgemüse, die sie mit Kurkuma und Kreuzkümmel würzt. Hauptmahlzeiten nimmt sie mittags ein. Eher schwer verdauliche Lebensmittel wie Fleisch, Milch und Rohkost soll sie vor allem abends meiden. Auch einige ayurvedische Morgenrituale hat sie in ihren Alltag integriert. Nach dem Aufstehen trinkt sie ein Glas warmes Wasser und reinigt den Mund, indem sie Sesamöl durch die Zähne zieht. Durch Ayurveda sei sie auch sensibler für die Signale ihres Körpers geworden.

Außer in Berlin wird Ayurveda in Deutschland noch in der Abteilung Naturheilkunde am Klinikum Essen-Mitte erforscht. Dort konnte man in Studien ebenfalls gute Ergebnisse nachweisen.

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