Psychiater schlägt AlarmImmer häufiger Medikamente bei Alltagsproblemen

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„Es besteht das Risiko, Lebensprobleme zu psychiatrisieren“, sagt Stefan Weinmann.

  • Die Zahl psychischer Erkrankungen steigt rasant. Die pauschale Behandlung vieler Mediziner in solchen Fällen: Sie verschreiben Antidepressiva und Antipsychotika.
  • Sogar Hausärzte dürfen die Medikamente ohne tiefergehende psychologische Untersuchung austeilen. Das kann für die Patienten fatale Folgen haben, warnt der Psychiater Stefan Weinmann.
  • Ein Gespräch über ungenierte Ärzte, die starken Nebenwirkungen vieler Medikament, und die Macht der Pharmahersteller, die Studien manipulieren.

Herr Weinmann, weniger Medikamente, dafür mehr soziale Therapien ist Ihre Forderung: Was hat das Fass zum Überlaufen gebracht und Sie bewogen, Ihr neues Buch „Die Vermessung der Psychiatrie” zu schreiben?

Wir haben eine hohe Erwartung an die Aufklärung psychischer Erkrankungen, doch diese Erwartungen sind nicht erfüllt worden. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Psychiatrie wird immer größer. Psychische Erkrankungen nehmen zu. Immer mehr werden behandelt, ohne dass die Last abnimmt. Betroffene fordern, anders mit ihnen umzugehen und den Menschen mehr im Blick zu haben. Das nimmt man wahr, aber an der Umsetzung hapert es.

Sie plädieren für mehr psychosoziale Therapien und Behandlungsmodelle in der Psychiatrie. Was verstehen Sie darunter?

Wir wissen, dass bei psychischen Vorgängen im Gehirn auch neurobiologisch etwas passiert. Aber sowohl in der Forschung als auch in der Behandlung müssen sich neurowissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Herangehensweisen ergänzen. Wir wissen letztendlich immer noch nicht, warum eine Depression oder eine Psychose entsteht. Wir therapieren jedoch die Erkrankungen meist so, dass wir in das Gehirn eingreifen und breitflächig wie mit einer Schrotflinte Medikamente einsetzen, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken. Damit bekämpfen wir weder die Erkrankung ursächlich noch helfen wir den Betroffenen im Umgang mit ihren Beeinträchtigungen.

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Stefan Weinmann

Warum denken Therapeuten nicht um, gehen nicht neue Wege?

Es passiert schon viel, aber leider nur auf dem Papier. De facto sind im Kopf vieler Psychiater die alten klinischen Erkrankungs- und Behandlungsmodelle verankert.

Sind Ihre Kollegen beratungsresistent?

Psychiater und Ärzte sind mit veraltetem Wissen über psychische Erkrankungen aufgewachsen und stehen unter dem Druck, dem Patienten zu helfen und die Krankheit zu bekämpfen. Sie wenden die bekannten Leitlinien und Therapien an und haben zeitgleich oftmals eine zu vereinfachte Vorstellung von den seelischen Problemen ihrer Patienten, sodass sie vorrangig die erkennbaren Symptome mit Medikamenten bekämpfen. Es wird zu wenig Zeit in die Erhebung der Vorgeschichte, der Biografie und der Verletzungen der Betroffenen investiert und folglich in der Therapie auch nicht berücksichtigt.

Zur Person

Stefan Weinmann ist Psychiater und Psychotherapeut und arbeitet als Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum am Urban, in Berlin. Mit seinen Büchern „Erfolgsmythos Psychopharmaka“, erschienen 2009, und seiner jüngsten Publikation „Die Vermessung der Psychiatrie – Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets“ sorgte er für Debatten.

Die Folge ist?

Wer schwer krank ist, wird in eine Klinik eingewiesen, wo zügig die Symptome behandelt werden. Der Patient wird schnell wieder entlassen und muss sich dann draußen bei einem niedergelassenen Kollegen oder in der Institutsambulanz weiter behandeln lassen. Bei Psychotherapeuten landen oft eher Menschen mit leichteren Symptomen, nicht die schwerer Betroffenen. Diese fallen oft durch die ambulanten Systeme und landen wieder in der Klinik, wenn sie einer intensiveren Behandlung bedürfen. Durch die verbreitete Medikamentengabe werden nicht weniger, sondern mehr Rückfälle erzeugt, da Menschen immer wieder ihre Medikamente absetzen und so Absetzsymptome bekommen. Neben der Zunahme des Drogenkonsums ist dies einer der Gründe für die wachsende Zahl an psychiatrisch behandlungsbedürftigen Menschen.

Sie plädieren dafür, das Umfeld psychisch Kranker miteinzubeziehen. Ist das im Alltag zu stemmen?

Ja, aber es ist anstrengender und erfordert andere und flexiblere Behandlungsmodelle. Es gibt solche Modelle beispielsweise in Finnland, wo das praktiziert wird. Dort fahren in manchen Regionen mittels Offenem Dialog und systemischer Familientherapie geschulte Experten in Teams direkt nach Hause zu dem Patienten, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Sie können dadurch schon früh mögliche Ursachen und Folgen der psychischen Erkrankung erkennen und eine Chronifizierung vermeiden.

Das Buch

Bis zu ein Drittel der Menschen in der EU haben laut der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) mindestens ein Mal im Leben das Risiko, an psychischen Problemen, einer Depression, Anpassungsstörung, Panikattacken oder einer Psychose zu erkranken.

Stefan Weinmann: „Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets“, Psychiatrie-Verlag, 25 Euro  

Das gibt es bei uns nicht?

Doch, zum Teil, auch wir können „Home-Treatment“ anbieten, das von den Krankenkassen bezahlt wird als stationsäquivalente Behandlung mit einem ähnlichen Tagessatz wie für eine klinische Behandlung. Dieses Angebot gilt aber nur für Klinikärzte und nur für ein paar Wochen. Die Forderung, das auch für den ambulanten Sektor anzubieten, ist vom Gesetzgeber bisher abgelehnt worden. Die Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ der Psychiater-Fachgesellschaft DGPPN, an der ich mitgewirkt habe, empfiehlt seit Jahren, teambasierte flexible Behandlung anzubieten – was bisher nur in Ansätzen geschehen ist.

Wollen Sie weniger Patienten stationär therapieren?

Langfristig ja. Wir haben zu viele Betten und zu wenig intensive Behandlung außerhalb der Kliniken. Im klinischen Umfeld verhält sich ein Patient anders, eher künstlich. Er nimmt die Rolle des passiven, untergeordneten oder eben aufmüpfigen Patienten ein, sodass es schwer ist, die Krankheitszeichen richtig zu beurteilen, weil man nicht erfahren hat, wie der Patient lebt, wie und wo er arbeitet.

Was können die Finnen besser als wir und warum setzen sie es schneller um?

Weil es einfacher ist in einem nationalstaatlichen und steuerfinanzierten System solche Modelle umzusetzen als in einem beitragsfinanzierten System wie dem unsrigen. In Holland und Finnland, um die beiden Beispiele zu nennen, ist der Gestaltungsspielraum größer. Bei uns müssen sich Kostenträger und Leistungserbringer erst einmal zusammensetzen und versuchen, einen gemeinsamen Weg zu finden.

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Defizite im Gehirn gelten unter anderem als Ursache psychischer Störungen. Lassen sich die nicht durch Psychopharmaka ausgleichen?

Wir sollten nicht von Defiziten im Gehirn sprechen. Jeder Mensch trägt die Möglichkeit in sich, bei entsprechender Belastung so depressiv zu werden oder Fehlwahrnehmungen zu haben, dass wir von Erkrankungen sprechen. Manche Menschen sind besonders verletzlich. Wir wissen viel darüber, was im Gehirn passiert, wenn wir fühlen, denken; aber nicht, was biologisch wirklich eine Depression ausmacht. Eingriffe ins Gehirn durch Medikamente sind grob, können manchmal helfen, aber auch negative Auswirkungen haben.

Beschreiben Sie diese Auswirkungen bitte genauer.

Das Gehirn stellt sich auf die Substanz ein – genauso wie es auf Drogen reagiert. Und wenn die Substanz weggelassen wird, wirkt sich das aus wie bei einem Entzug. Psychopharmaka sorgen dafür, dass der Patient weniger aufgewühlt, wenig aggressiv oder weniger depressiv ist, sie können Menschen stabilisieren, manchmal aber – vor allem bei längerer Gabe - auf einem niedrigen Niveau. Das heißt, sowohl der negative als auch der positive Stress werden reduziert. Bei einer zu langen und zu hochdosierten Einnahme der Medikamente kann das zu chronischen Erkrankungen führen wie Diabetes, Bewegungsstörungen und einem gestörten Selbstbild, weil man den Eindruck gewinnt, man sei lebenslang krank und habe kaum Chancen gesund zu werden.

Besteht nicht die Möglichkeit sich medikamentös auf niedrigem Niveau einzupendeln?

Von den Medikamenten kommt man nicht selten schwer weg. Wer sie beispielsweise bei einer Psychose plötzlich absetzt, riskiert eine noch stärkere Psychose. Viele Patienten tun sich zudem schwer, antidepressive Mittel langsam ausschleichen zu lassen, was immer unter ärztlicher Beobachtung geschehen muss.

Werden zu viele und zu hoch dosierte Psychopharmaka angewandt?

Vor allem werden sie zu früh verordnet. Mittlerweile verschreiben auch Hausärzte ohne tiefergehende psychiatrische Untersuchung Antidepressiva und Antipsychotika. Diese Medikamente werden massiv beworben und es wurde ungeniert suggeriert, die neueren Präparate seien nebenwirkungsarm. In allen westlichen Ländern steigt der Verbrauch.

Sie hegen große Zweifel an Studienergebnissen von Psychopharmaka. Ist das ein dubioser Markt?

Studien werden durch die Pharmahersteller erstellt, finanziert und zum Teil manipuliert. Ich fordere unabhängige Studien, die staatlich finanziert werden oder aus einem Topf, in den alle Medikamentenhersteller einzahlen. Aber das ist bis jetzt Wunschdenken.

Der Markt mit Antidepressiva boomt. Sind wir wirklich so krank?

Wir leben in einer Gesellschaft, die hohe Anforderungen an Leistungsfähigkeit und Außendarstellung stellt. Besonders bei der Stadtbevölkerung führen zunehmender Stress und Druck zu mehr psychischen Problemen. Und wir nehmen psychische Probleme und die Behandlungsbedürftigkeit anders wahr. Aber wir pathologisieren auch Alltagsprobleme und suchen dafür schnelle Hilfe. Es besteht das Risiko, Lebensprobleme zu psychiatrisieren. Um dem zu begegnen, brauchen wir mehr differenzierte Psychotherapeuten, die als Mediziner nicht nur in Krankheitseinheiten denken und schnell Medikamente verschreiben, wodurch die Selbstheilungskräfte des Patienten verloren gehen können.

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