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Übergriffige Hilfe, NachäffenWie Menschen mich behandeln, seit ich behindert bin

Lesezeit 8 Minuten
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Britta Bauchmüller schreibt seit 2017 für den Kölner Stadt-Anzeiger Ratgeber-Artikel im Bereich Finanzen.

  • Auf Twitter erzählen behinderte Menschen aktuell von ihren Erfahrungen mit Anfeindungen und Diskriminierung unter dem Hashtag #AbleismTellsMe.
  • Gesunde Menschen reagieren zum Teil schockiert. Für 7,9 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland ist das dagegen Alltag.
  • Auch unsere Autorin ist schwerbehindert. Vieles kommt ihr bekannt vor. Hier erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen.

Köln – Vielleicht sind Sie in den vergangenen Tagen auch schon über den Begriff „Ableismus“ gestolpert und haben sich gefragt, was das sein soll. Unter dem sperrigen Hashtag #AbleismTellsMe berichten Nutzer auf Twitter bereits seit zwei Wochen unaufhörlich von Situationen, in denen sie Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung erlebt haben. Die Erlebnisse sind für gesunde Nutzer schockierend, für andere Betroffene dagegen vertraute Realität. Wie es sich anfühlt, wenn man auf einmal anders wahrgenommen und behandelt wird, weiß auch ich seit einem Schlaganfall im Frühjahr 2018.

Seitdem lebe ich mit sichtbaren Handicaps. Ich habe erst wenig Diskriminierung erlebt, dafür habe ich klar vor mir, was es heißt, mit Behinderung zu leben und wie es vorher war. Plötzlich habe ich es mit krassen Klischees zu tun, bin genervt vom konstanten Papierkrieg mit den Behörden und ärgere mich, dass Behinderte in vielen Bereichen nicht mitgedacht werden.

Behinderung tritt meist erst im Laufe des Lebens auf

7,9 Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert, das sind gut zehn Prozent der Bevölkerung – deutlich zu viele, um sie ständig zu vergessen.

Dazu kommen diejenigen, die ebenfalls Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis hätten, ihn aber nicht beantragen.

Nur die wenigsten Betroffenen sind mit Behinderung auf die Welt gekommen, gerade mal drei Prozent. Bei dem Großteil tritt das Handicap erst im Laufe des Lebens auf. Dazu reicht eine Erkrankung oder ein Unfall. Bei mir war es eine Hirnblutung, die mich mit 28 Jahren in meinem Lieblingscafé in Ehrenfeld überraschte. Es kann jeden treffen, jederzeit.

TWEETAbleismus: Diskriminierung aufgrund einer Behinderung

Trotzdem ist unsere Gesellschaft behindertenfeindlich – wer das nicht glaubt, kann sich gerade auf Twitter überzeugen. Dort erklären Betroffene unter #AbleismTellsMe, was Ableismus für sie heißt und erzählen von intimen und verletzenden Situationen: Von Klischees, Barrieren und offenen Anfeindungen, aber auch von struktureller Diskriminierung im Alltag und dem Machtgefüge zwischen Menschen mit und ohne Handicap.

Der Begriff „Ableismus“ funktioniert analog zu Sexismus oder Rassismus und beschreibt die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer „Ability“, ihrer Leistungsfähigkeit. In Deutschland ist der Begriff nicht sehr verbreitet und wird im aktuellen Diskurs meist als Diskriminierung von Behinderten verstanden. Zurecht beschweren sich Twitter-Nutzer, dass der Debatte noch zu wenig Aufmerksamkeit gegeben wurde, finde ich, sowohl in den Medien als auch auf Twitter.

Diskriminierung: Das erleben Rollstuhlfahrer oder Autisten

Viele Situationen, die Nutzer dort schildern, erkenne ich wieder, zum Beispiel Berichte von Autisten, dass Behinderungen nur akzeptiert würden, wenn sie offensichtlich sind. Lange war ich chronisch krank, ohne dass man mir etwas ansah. In dieser Zeit wurde ich oft wie ein Hypochonder behandelt und hörte, ich würde mich anstellen oder sei nur zu unmotiviert. Von Dozenten der subtile Vorwurf: „Sie waren häufig krank in der letzten Zeit“ oder „Sind Sie sicher mit Ihrer Berufswahl?“ Einmal musste ich mir von einem Kommilitonen anhören, zum Arzt zu gehen sei für mich so etwas wie ein Hobby.

Nach dem Schlaganfall saß ich sechs Monate im Rollstuhl. Diese Zeit habe ich in einer Reha verbracht, daher ist sie nicht mit dem Alltag eines Rollstuhlfahrers vergleichbar. Eins habe aber auch ich erlebt: Fast jeder, der mir unterwegs begegnet ist, hat nur mit meiner Begleitperson gesprochen und mich nicht mal gegrüßt. Über mich wurde hinweggesehen und getan, als sei ich nicht anwesend. Aus der Augenhöhe, aus dem Sinn.

Seit zwei Jahren kann ich wieder gehen, aber lebe weiterhin mit sichtbaren Handicaps. Unter anderem mit einer Hemiparese, das ist eine unvollständige Lähmung der einen Körperhälfte, die auch das Gehen erschwert. Heute bin ich also irgendwo dazwischen. Die Menschen tun sich schwer damit, mich einzuordnen, haben aber ein starkes Bedürfnis zu kommentieren, dass bei mir irgendetwas nicht stimmt.

Kein mündiger Ansprechpartner: Das erlebe ich heute

Wenn ich alleine unterwegs bin, werde ich regelmäßig gefragt, ob ich Probleme mit dem Kreislauf hätte, mit den Beinen oder blind sei. Wenn es gut läuft und die Menschen freundlich sind in ihrer Neugier. Ich wurde aber auch schon von einem älteren Mann nachgeäfft oder ermahnt, es sei zu früh, um betrunken in der Nachbarschaft herumzulaufen.

Menschen nehmen an, ich könne nicht für mich selbst sprechen. Statt mit mir direkt zu reden, wenden sie sich an meine Eltern oder Freunde. Ich schreibe einen Artikel über Geldanlage, klappe den Laptop zu – und kaum auf der Straße, werde ich geduzt und behandelt wie ein Kind. Oder es endet mit übergriffigen Hilfs-Attacken, wie im vergangenen Sommer bei einem Open-Air-Konzert. Ich wartete gerade auf eine Freundin, als mich auf einmal ein Paar Hände am Rücken packte und energisch durch die Menge schob. Sie habe nur helfen wollen, wehrte die Frau ab, als ich mich losmachen konnte.

Für mich ist Ableismus nicht nur, wenn am Ebertplatz seit einem Jahr Rolltreppen und Fahrstühle abgeschaltet sind. Oder wenn die Rentenversicherung ihre Schreiben in der Lesbarkeit eines Steuerbescheids an die überwiegend älteren oder kranken Empfänger aufsetzt. Ich hatte auch schon die Diskussion, ob „Hauptsache gesund“ ein guter Wunsch für werdende Eltern ist. Und rege mich regelmäßig auf, dass es in Krankenhäusern nur Tetrapacks und 0,1-Liter-Gläser für die Patienten gibt – das sind drei Schlücke. Es sind oft Kleinigkeiten, die uns ausgrenzen, aber es sind viele. Manchmal treffen sie mich unvermittelt und der Tag ist gelaufen.

Oft werde ich kränker gemacht, als ich bin, um anderen Menschen die Arbeit nicht „unnötig zu erschweren“. Auch am Telefon wird mir von Service-Mitarbeitern das Gefühl vermittelt, ich sei eine große Bürde. Weil ich mir nicht schnell etwas notieren kann. Meine Gesundheit verursacht inzwischen so viel Papierkram, dass ich einen Privatsekretär in Teilzeit beschäftigen könnte: Krankenkasse, Ärzte, Therapeuten, Apotheken, Taxiunternehmen, die Rentenversicherung, die Stadt, Ämter und Sozialverbände mit guten Anwälten. Vieles läuft noch immer analog.

Klischee: Tragische Gestalten oder toughe Kämpfer

Dazu kommen die hartnäckigen Klischees, die viele Menschen von Schwerbehinderten haben. Tragische Gestalten, mitleiderregend, leidend und verbittert auf der einen Seite. Oder stark und bewundernswert, Kämpfer, die sich durchbeißen und niemals aufgeben. Weder mit dieser McFit-Mentalität noch mit übertriebenem Mitleid kann ich etwas anfangen.

Die Darstellung von behinderten Menschen in Büchern, Film und Fernsehen hilft dabei wenig. Kaum ein Bericht über Behinderte kommt ohne die Kämpfer-Rhetorik aus. Behinderte sind immer besonders witzig, sportlich oder intelligent. Oder sie werden geheilt – in einer Serie wurde nicht einmal thematisiert, als ein Charakter plötzlich wieder gehen konnte. Jedes Mal wenn deutsche Comedians einen Schlaganfall als Metapher nutzen, zieht es sich in mir zusammen. Als sei das nur ein Moment, in dem man sein Leben nicht im Griff hat und dabei besonders lustig aussieht.

Diversität: „Jetzt auch noch Behinderte!“

Diversität ist für viele Menschen immer noch ein lästiges Thema. Nach dem Motto: Nach Frauen, Schwarzen und LGBTQI jetzt auch noch Behinderte. Verantwortliche Werber und Medienmenschen unterschätzen, wie groß diese Gruppe ist und schreiben ihr keine große Kaufkraft zu. Außerdem zeigen sie lieber junge, fitte Menschen. Behinderte erinnern an Krankheit und die eigene Verwundbarkeit und kommen deshalb nicht vor. Auch diese fehlende Repräsentation ist ableistisch.

Für mich ist Ableismus, wenn mir Menschen von den „ganzen Vorteilen“ und den „Benefits“ erzählen, die Behinderte ihrer Meinung nach haben. Ich verstehe, was sie sagen wollen und fand das Wort „Nachteilsausgleiche“ anfangs auch umständlich. Aber niemand kann mir erzählen, er hätte gerne eine Behinderung, um im Gegenzug die Bahncard günstiger zu bekommen. Und nein, Arbeitgeber stellen nicht „total gerne Behinderte ein, weil sie eine Quote erfüllen müssen“. Das ist leider nur die halbe Wahrheit: 60 Prozent der Unternehmen zahlen lieber eine sogenannte Ausgleichsabgabe als so viele Schwerbehinderte zu beschäftigen wie vorgegeben.

Wie klein unsere Lobby ist, beweist allein das Desaster um den Steuerfreibetrag für Schwerbehinderte. In diesem Sommer wurde eine Erhöhung beschlossen – das erste Mal seit 40 Jahren. Zurzeit ist der Betrag, den Schwebehinderte steuerfrei verdienen dürfen, auf dem Stand von 1980. Man stelle sich das gleiche Szenario für den Kinderfreibetrag vor. Ein Aufschrei blieb allerdings aus. So wie bislang zur Diskussion über alltäglichen Ableismus.

Aktivistin Rebecca Maskos: Behinderung ist politisch

Bei der #Metoo-Bewegung und der anhaltenden Rassismus-Debatte wurde den benachteiligten Gruppen erst geglaubt, dass es ein strukturelles Problem gibt, als genug Menschen von ihren Diskriminierungserfahrungen erzählt hatten. In einer deutlich kleineren Dimension passiert das gerade mit #AbleismTellsMe.

„Nur selten wird Behinderung als politisches Thema gedacht“, erklärt die Fachjournalistin und Aktivistin Rebecca Maskos in einer Kolumne für das Online-Magazin „Edition F“. Sie ist selbst schwerbehindert und forscht zu Disability Studies. Beim Thema Diskriminierung werde in Deutschland zwar an Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und LGBTQI gedacht, erklärt Maskos. Behinderung aber bleibe meist außen vor. Selbst kritische, aufgeklärte Menschen würden das Thema Behinderung noch immer bei Pädagogik, Fürsorge und Medizin verorten.

Wenn ich von Diskriminierung erzähle, schauen mich die Menschen aus meinem näheren Umfeld ungläubig an. Sie können sich nicht vorstellen, dass mir diese Dinge tatsächlich passieren. Dass ich angestarrt oder ausgelacht werde. Sie behandeln mich, wie sie es immer getan haben und das lässt mich hoffen.

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