Virologin Brinkmann„Wir haben keine Strategie, um eine dritte Welle zu verhindern“

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Brinkmann Dezember 2020

Virologin Melanie Brinkmann

  • Virologin Melanie Brinkmann hat eine Professur am Institut für Genetik der TU Braunschweig und arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) Braunschweig.
  • Sie berät die Bundesregierung und die Regierungen der Länder und setzt sich für die sogenannte No-Covid-Strategie ein.
  • Im Interview spricht Brinkmann über die Gefahr einer dritten Welle, Verlierer- und Gewinnerstrategien sowie die Schlachterei Tönnies als Vorzeigefall.

Frau Professorin Brinkmann, angesichts anhaltend hoher Inzidenz-Werte und Infektionszahlen lautet eine Empfehlung, dass wir „mit dem Virus leben“ müssten. Als Virologin tun Sie das schon. Können Sie uns sagen, wie das geht?

Das Virus ist kein guter Partner. Es macht krank, und es tötet. Das wird also keine glückliche Partnerschaft, und es jetzt damit zu versuchen, ist der falsche Zeitpunkt. Wir haben noch kein hinreichend großes Schutzschild – weder durch Immunisierung nach Infektion noch durch die Impfungen. Wer von einem „Leben mit dem Virus“ spricht, verschweigt außerdem die permanente Beziehungskrise: viele Menschen, die Covid-19 überstanden haben, sind noch längst nicht gesund. Selbst Patienten mit leichteren oder mittelschweren Verläufen haben oft Langzeit-Symptome. Ich höre häufig Geschichten von Patienten, die immer noch nicht richtig riechen können, permanent müde sind, schlecht Luft bekommen, und mittlerweile gibt es viele wissenschaftliche Studien zu Long-Covid. Das ist ein ernstzunehmendes Problem. Ich jedenfalls weiß: Ich will diese Krankheit nicht bekommen, und ich wünsche es wirklich niemandem, dass er sie bekommt. Langfristig ist es natürlich richtig, dass wir „mit dem Virus leben“ werden. Es wird nicht wieder verschwinden. Aber der richtige Zeitpunkt dafür wird gekommen sein, wenn der größte Teil der Bevölkerung eine Immunität gegen Sars-CoV2 durch die Impfung hat, und nicht jetzt. Jetzt gilt es, da hinzukommen mit möglichst geringen Schäden für die Gesundheit, die Gesellschaft und die Wirtschaft.

Das soll die Pandemiebekämpfung leisten.

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Es ist die Aufgabe der Regierung, die Menschen zu schützen. Ständig höre ich, „wir wollen das Gesundheitssystem nicht überlasten“. Und gemeint sind die Intensivbetten. Das klingt manchmal danach, als wollte man am liebsten neue Krankenhäuser mit Intensivstationen bauen, damit man nur ja „da draußen“ das Leben wieder zulassen kann. Diesen Ansatz halte ich für völlig falsch. Richtiger wäre es, von vornherein zu verhindern, dass Menschen sich anstecken. Und das ist durch intelligente Methoden, durch gute Kommunikation und nachvollziehbare Regeln möglich.

Sie klingen zornig…

Wir lockern jetzt bei zu hoher Inzidenz, haben aber keine Folge-Strategie um eine dritte Welle zu verhindern. Was uns gerade präsentiert wird, ist eine intellektuelle Beleidigung an alle und keine Perspektive. Es ist wie bei einer Waage, bei der man etwas in die eine Waagschale legt ohne Gegengewicht für die andere Schale. Und dann wundert man sich, wenn die Waage aus dem Gleichgewicht gerät. Auf Twitter habe ich gelesen: „Wir schaffen es, in Deutschland den Punkt des größten Schadens zu treffen: Genug Zögern, um viele Kranke und Tote zu verursachen, und genug Lockdown, um Wirtschaft und Psyche zu schädigen.“ Genau diesen Kurs fahren wir gerade. Das ist doch einfach nur traurig. Der Shutdown hat uns Zeit verschafft. Neue Maßnahmen wie effizientere Kontaktnachverfolgung, zügiges Impfen, intelligentes Testen hätten implementiert werden können – diese Maßnahmen müssen am Start sein, bevor ich Lockerungen zulassen kann. Ich fühle mich da als Bürgerin mit alten Eltern einerseits und drei schulpflichtigen Kindern andererseits im Stich gelassen, das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Seit Monaten sind die Kinder zu Hause, und seit mittlerweile vier Monaten können sie keinen Vereinssport mehr machen.

Wozu raten Sie?

Wozu ich seit Monaten rate – zum Beispiel mehr zu testen und frühzeitig zu reagieren, sobald wir in ein exponentielles Wachstum schlittern, nicht erst, wenn wir schon mitten drin sind und sich die Betten in den Krankenhäusern füllen. Wir hätten die zweite Welle vermeiden, uns den langen und zähen Shutdown sparen können, wenn wir im Oktober früh und entschieden gehandelt hätten. Und wir hätten viele Menschenleben, wirtschaftliche Existenzen und Bildungskarrieren retten können.

Woran machen Sie das fest?

Ich gebe mal ein Beispiel: ich habe im Sommer einen Corona-Ausbruch in der Großschlachterei Tönnies untersucht. Der Firma wurde damals auferlegt, dass sie ihre komplette Belegschaft regelmäßig testet und viele weitere Maßnahmen für den Infektionsschutz umsetzt, wie Maskenpflicht, Abstände in der Kantine wahren und so weiter. Die haben bei Tönnies natürlich erst gestöhnt. Das war mit viel Aufwand und hohen Investitionen verbunden. Aber dann haben sie unternehmerisch reagiert und gesagt, „okay, so ist es jetzt. Dann machen wir’s, verhandeln gute Konditionen mit Laboren und ziehen das durch“. Inzwischen sind sie stolz, dass sie das Virus bei sich in den Griff bekommen haben. Bis heute übrigens. Das zeigt erstens: Es geht. Und zweitens: Es funktioniert. Im Grunde genommen ist Tönnies ein Vorzeige-Fall für gelungene Pandemiebekämpfung.

Ausgerechnet Tönnies… Warum bekommen wir das in anderen Bereichen nicht hin?

Im Moment bin ich tatsächlich etwas desillusioniert, wie schlecht die Pandemiebekämpfung in Deutschland gelingt – und das an vielen Fronten. Eigentlich will ich solche Sätze von mir gar nicht zitiert haben. Schließlich bin ich Wissenschaftlerin. Aber ich bin auch Bürgerin. Ich halte es für eine sehr schlechte Idee, bei den aktuell hohen Inzidenzen in Deutschland die Schulen aufzumachen – ohne Testkonzept. Wer die Dynamik des Virus verstanden hat, kann darüber nur entsetzt sein. Ich habe noch einen anderen Satz auf Twitter im Kopf: „Ich muss kein Virologe sein, um zu kapieren, dass das schief gehen wird.“ Da kann ich nur sagen: Ja, das stimmt. Leider.

Manche nennen Sie schon die „Corona-Kassandra“.

Oh je (lacht). Erstens hoffe ich, dass ich nicht recht habe. Zweitens glaube ich aber, dass viele Menschen nach wie vor an die Wissenschaft glauben. Und die Corona-Kassandra hat auch eine gute Nachricht: Wir haben noch eine Chance. Wir können den Kampf immer noch gewinnen, und ich propagiere mit der No-Covid-Strategie eine Gewinner-Strategie. Dafür muss man jedoch zuerst erkennen, dass die Strategie „Mit dem Virus leben“ die Verlierer-Strategie ist, mit der wir in den nächsten Shutdown rennen werden.

Warum?

Wir werden ja nicht so „mit dem Virus leben“, dass überfüllte Kliniken uns egal sind. Das wird nicht so sein, also werden wir wahrscheinlich in ein paar Wochen vieles wieder dicht machen müssen, um die dritte Welle zu brechen, die bei dem jetzigen Kurs unweigerlich kommen wird. Außerdem haben wir auf diesem Weg wahnsinnig viele Kranke und Tote. Anscheinend wurde aus den Fehlern im Herbst nicht genug gelernt.

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Ihr Vorschlag, mit der No-Covid-Strategie die Inzidenzen gegen Null zu drücken, erscheint vielen als unrealistisch, das damit verbundene Konzept roter und grüner Zonen als viel zu theoretisch.

Wir hatten tatsächlich die Idee eines drastischen Strategiewechsels. Aber weil wir „Corona eliminieren“ gesagt haben, wurde das von vielen so verstanden, als wollten wir das Virus ausrotten, und dafür sei ein ewiger Shutdown nötig. Aber das stimmt so nicht. Die No-Covid-Strategie ist eine Öffnungsstrategie, und zwar eine nachhaltige. Vielleicht haben wir unseren Ansatz einfach nicht gut genug kommuniziert, obwohl viele Medien ihn sehr gut erklärt haben. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass er funktionieren würde. Schon jetzt gibt es viele Gemeinden und einige Städte und Landkreise, die fast keine Fälle mehr haben. Man müsste nun also regional viel stärker differenzieren. Vor allem haben wir nun neue Tools, etwa Antigen-Schnelltests für zuhause. Das würde schon mal sehr viel bringen. Testen muss so selbstverständlich werden wie Zähneputzen. Man muss das Stäbchen für den Abstrich ja auch gar nicht mehr tief in die Nase schieben. Klar war das unangenehm. Aber das Problem haben wir eigentlich nicht mehr. Jetzt reicht ein gründlicher Abstrich im vorderen Nasenraum. Und wenn es uns dann noch gelingt, die Zeit zwischen Infektion und Isolierung um ein, zwei Tage zu verkürzen, dann ist schon richtig viel gewonnen.

Sie wollen aber auch bei jedem Auftreten des Virus die Mobilität unterbinden, um eine weitere Verbreitung zu verhindern.

Nicht jede Mobilität. 80 Prozent der Mobilität in einer Familie finden zwischen Wohnung, Arbeitsplatz und Schule statt. An diesen Knotenpunkten zu testen, brächte uns einen Riesenschritt nach vorn. Und mit intelligenten Wegen der Kontaktverfolgung würden wir Mobilität sogar wieder ermöglichen. Ich verstehe ja, dass die Läden wieder öffnen sollen. Aber dann sollte man stark dafür werben, dass die Leute die „Luca-App“ benutzen und alle Gesundheitsämter diese Plattform nutzen. Manche Städte machen es einfach. Rostock zum Beispiel, Jena auch. Da habe ich es mir mal angesehen. Und wenn die Leute vom dortigen Gesundheitsamt mir sagen: „Frau Brinkmann, das ist so toll, das bringt uns so weit nach vorn“ – dann denke ich: „Genau!“ Aber warum macht die Politik es nicht überall? Das dauert und dauert. Und das macht mich ganz kirre. Denn die Zeit haben wir nicht.

Sie sagten vorhin, das Virus sei ohnehin kein guter Partner. Was treibt es da eigentlich gerade mit den verschiedenen Mutationen?

Wenn ich einem Virus freien Lauf lasse, verändert es sich. Das ist völlig normal. Es liegt an der Art, wie diese Viren ihr Erbgut replizieren. Durch die weltweit riesengroße Zahl Infizierter findet Virus-Evolution hier gerade im Zeitraffer statt, das Coronavirus verändert sich schnell. Und es ist tatsächlich so: Die Mutanten, die fitter sind, setzen sich durch.

Aber was bedeutet das genau?

Die mit der B.1.1.7-Mutante infizierten Patienten haben in ihrer Abstrichprobe deutlich mehr Viren. Man könnte also vermuten, dass mit jedem ausgeatmeten Tröpfchen aus der Atemluft beim Gegenüber mehr Viren ankommen. Dadurch sind die Virusträger entsprechend infektiöser, stecken also mehr Menschen an.

Aber wie schafft es das Virus, dass auf einer bestimmten Fläche oder einem bestimmten Volumen „mehr davon“ da sind?

Das kann ich – ehrlich gesagt – auch noch nicht genau erklären. Jedenfalls ist es wahrscheinlich, dass die Atemluft deutlich mehr Viren enthält, und das erhöht die Infektionsgefahr entsprechend. Denn die Chance ist geringer, dass die Viren, die ich einatme, über Schleimhäute oder Flimmerhärchen in der Nase rechtzeitig wieder ausgeschieden werden. Daraus folgt: Wenn Sie früher 15 Minuten lang die mit Viren belastete Luft einatmen mussten, um sich zu infizieren, sind es jetzt vielleicht nur noch fünf Minuten. Ich füge hinzu, das ist ein Schätzwert, weil wir dazu unter realen Bedingungen keine Experimente machen konnten. Sie müssen sich das so vorstellen wie mit einem Raum, bei dem die Tür aufgeht, und es kommen nicht – wie erwartet – zehn Leute gleichzeitig herein, sondern 100. Auf einen Schlag ist der ganze Raum voll, die Garderobe kracht unter der Last der vielen Mäntel zusammen, und der Gastgeber auch.

Also, die Masse macht’s?

Ich schätze, es ist so. Aber wir haben wissenschaftlich noch nicht den letzten Aufschluss. Deswegen drücken wir Virologen uns im Moment ein bisschen um genauere Auskünfte herum. Aber die Kollegen aus der Epidemiologie stellen eindeutig fest, dass die mutierten Viren das Ruder übernehmen. Das heißt: Diese Mutanten sind erfolgreicher, fitter, besser, und sie verdrängen das vorherige Virus. Vielleicht wissen wir in ein paar Wochen dann auch, warum das so ist. Aber weil wir es noch nicht wissen, ist jetzt sicher der schlechteste Zeitpunkt für Lockerungen, wenn dadurch die dritte Welle Fahrt aufnimmt.

Wie hat man individuell eine Chance gegen den Ansturm der Viren?

Mit gut anliegenden FFP2-Masken, wo immer es geht. Dazu zeitlich begrenzte Aufenthalte in geschlossenen Räumen, häufigeres Lüften. Die wärmeren Temperaturen kommen uns da zupass. Man kann jetzt bald wieder die Fenster geöffnet lassen.

Noch mehr Abstand halten?

Die 1,5 Meter reichen immer noch. Dabei geht es ja darum, dass die größeren Tröpfchen meines Gegenübers mich nicht erreichen, sondern vorher zu Boden fallen. Das tun sie immer noch. Die physikalischen Gesetze sind nach wie vor in Kraft. Das Problem ist die Anreicherung der Tröpfchen in der Luft. Stichwort: Aerosole. Sich in Innenräumen ohne Lüftung und ohne Maske treffen – keine gute Idee!

Sie sagten, Sie wollten nicht recht behalten. Wagen Sie eine Prognose bis Juni/Juli?

Mit dem, was jetzt in der Bund-Länder-Runde beschlossen worden ist, werden wir in die nächste Welle rauschen. Und wir werden wieder schließen müssen, weil uns die Intensivstationen volllaufen werden. Dann aber nicht mehr mit den über 80-Jährigen, denn die sind ja nun geimpft. Aber mit den 50- bis 80-Jährigen. Und deren Gesamtzahl ist weitaus größer. Aber wie gesagt: Wir haben das Rennen noch nicht verloren. Wir müssen jetzt nur unseren Raketenantrieb zünden.

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