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Mit dem Zug durch EuropaSechs Geschichten über das Abenteuer Interrrail

Lesezeit 11 Minuten
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In den 70er Jahren total populär, heute ein wiederentdeckter Mythos: Das Reisen mit dem Interrail-Ticket.

Köln – Bei seiner Einführung war es eine Revolution des Verreisens: Das Interrail-Ticket. Es wurde zum 50. Geburtstag des Internationalen Eisenbahnverbands am 1. März 1972 aus der Taufe gehoben. Mittlerweile gibt es wegen der zu geringen Nachfrage nur noch Interrail-Tickets für ein Land oder alle – „Global Pass“ nennt sich letztere Version, durch 30 Länder darf man damit reisen.

Um in Zukunft wieder mehr Reisende für das Abenteuer auf Schienen zu begeistern, wurden in diesem Sommer im Rahmen des Programms „DiscoverEU“ schon einmal 15.000 Tickets gratis an 18. Jährige versendet, Im Gegenzug sollen diese von ihren Erlebnissen berichten. Im Herbst ist eine zweite Runde mit 10.000 Teilnehmern geplant. Vielleicht hilft dieses Projekt, die Lust am Reisen mit Interrail wieder neu zu entfachen.

Wir erzählen sechs spannende und berührende Geschichten, die es ohne Interrail nicht gegeben hätte.

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Reiseabenteuer Light: Unser Autor Jonah Lemm reiste mit dem Interrail-Ticket durch England

Wir sind verdammte Feiglinge. Das muss ich feststellen, als ich in der kleinen Küche im Dachgeschoss stehe, in unserem Hostel in London, und mir Maria aus Maastricht von ihrer Reise erzählt. Erst war Maria in Wien, anschließend mit dem Zug durch Italien. Florenz, Gardasee, Rom, alles gesehen. Dann wieder hoch, Frankreich. „Großartige Landschaften und was für nette Leute“, sagt sie, imitiert  einen Eisverkäufer an einem bretonischen Strand, zeichnet mit  Fingern die  Küstenlandschaft des Atlantiks in die Luft.

Mit der Fähre ist Maria nach England gekommen.

Das hat extra gekostet. „War’s aber wert. Ich war noch nie in Großbritannien“, sagt sie. Und überhaupt: Hier fährt sie ja wieder gratis. Alles kein Problem mit ihrem Interrail-Ticket, „Global Pass“. Die grenzenlose Freiheit für 305 Euro. Maria nimmt sich noch etwas von dem Rührei, das mein bester Freund Lukas gekocht hat. Ihr ist das Geld ausgegangen, zwei Tage, bevor es zurückgeht, in die Niederlande. Passiert. „Und man trifft ja immer Leute“, sagt Maria und meint wohl: Leute wie uns. Leute, die noch etwas Geld in der Tasche haben. Als Dank übernimmt sie den Abwasch. Später sage ich zu Lukas: „Vielleicht hätten wir uns das auch trauen sollen.“ „Vielleicht“, sagt er, „Aber ich glaube, wir sind zu ängstlich für sowas.“ Wir verdammten Feiglinge.

Es ist Sommer 2015. Ich bin nach ein paar Orientierungspraktika kurz vor meinem Studienbeginn, Lukas hat vor ein paar Monaten sein Abitur gemacht. Wir beide wissen: So viel Zeit wie jetzt haben wir vielleicht nie mehr im Leben. Kurz dachten wir darüber nach, es wie Maria zu machen. Meine Mutter hatte uns von ihren Interrail-Erfahrungen erzählt. Ein Leben auf Schienen, einen Monat lang: Ein bisschen Bildungsreise, aber mehr Dauerparty einer ganzen Generation.

Wir wollten das „Abenteuer light“

Wir sind eine andere. Die Geschichten aus den 80ern klangen für uns kaum nach einer guten Zeit. Eher nach verzweifelter Schlafplatzsuche, nach Konservenessen und ungeduschten Wanderungen durch fremde Landschaften. Lukas und ich, beide verwöhnte Mittelstandskinder, aufgewachsen in einer Welt, die so klein ist, dass man bequem Kleidung aus den USA bestellen und für 30 Euro Hunderte Kilometer auch einfach per Flugzeug zurücklegen kann, wollten ein Abenteuer. Aber keins, das so groß war, dass es uns in ungewohnte Situationen hätte bringen könnte. Wir wollten das Abenteuer light, Version 21. Jahrhundert. Deswegen kauften wir uns ein Interrail-Ticket nur für England, fünf Fahrten innerhalb eines Monats, An- und Abreise per Flieger. Unterkünfte vorab gebucht.

An jenem Tag, in der Londoner Küche, begriffen wir, dass wir vielleicht einen Fehler gemacht hatten. Und dennoch: Rückblickend hatten auch wir beide einen der aufregendsten Sommer unserer Jugendzeit. In Brighton wussten sie nichts von unserem reservierten Zimmer. Nachts um 3 Uhr gingen wir also auf die Suche nach einem Bett. Auf dem Weg nach Birmingham vergas ich die Gitarre meines Vaters beim Aussteigen auf der Gepäckablage. Ich sprintete zurück in den Zug, schaffte es nicht mehr rechtzeitig hinaus. Die Reise ging einen Ort weiter und dann wieder zurück.

In Oxford tranken wir uns mit Astronomie-Student Alfie durch die Nacht, in Liverpool sahen wir spontan, ohne Ticket, unsere Lieblingsband, The Kooks, live. Das ging nur durch stundenlanges Warten in einem Pub, in dem alle anderen Gäste mit dem Wetten auf Pferderennen beschäftigt waren. Ein gewisser „Georgie“ wollte uns ins Konzert bringen. Am Ende lotste er uns für 40 Pfund an den Sicherheitsleuten vorbei, mit denen er irgendeinen Deal hatte. Wir fühlten uns fast kriminell.

Nach Jahren voller Ferienhaus-Spießer-Urlaube überlegen Lukas und ich gerade, ob wir im kommenden Sommer nicht mal wieder eine längere Reise machen. Meine Mutter schlug wieder Interrail vor, dieses Mal richtig. „Vielleicht“, habe ich geantwortet. Ich denke, wir würden uns trauen.

Interrail 2: Eine Kölner Familie rettete Stephanie Schmidt ihren Urlaub

In den Sommerferien 1985 startete ich mit drei Schulfreundinnen aus Krefeld zu unserer ersten Interrail-Tour. Wir wählten die unbekanntere Route entlang der Atlantikküste durch Frankreich, Spanien und Portugal. Ausgerüstet mit den damals favorisierten Traveller Checks und wenig Bargeld fuhren wir los. Nach ein paar Stationen in Frankreich und Nordspanien fuhren wir schließlich über die spanische Grenze in das damals noch wenig touristische Nord-Portugal ein.

Geld wechseln auf dem Campingplatz

Im Küstenort Espinho wollten wir zuerst halten. Der Campingplatz  war sehr sauber, gepflegt und kostete umgerechnet nur wenige Mark. Als wir unsere Traveller Checks in portugiesische Escudos wechseln wollten, mussten wir leider feststellen, dass alle Banken am Wochenende geschlossen waren. Für den Notfall hatte ich einen 100-Mark-Schein dabei und so kam uns die Idee, auf dem Campingplatz deutsche Urlauber zu suchen, die uns Geld tauschen konnten. Wir fanden tatsächlich eine Familie aus Köln, die uns mit der Summe Geld aushalf, die wir brauchten.

Reisen ist eine meiner großen Leidenschaften, und an die Interrail-Tour denke ich immer noch gerne zurück. Nicht nur an diese Geschichte, sondern auch an andere, wo wir  in den verschiedenen Ländern viel Gastfreundschaft erfahren haben. Es ist einfach toll, was man alles unterwegs erlebt und man kann gar nicht genug betonen, welche Vorteile die jetzige EU mit offenen Grenzen und einer einheitlichen Währung gerade für das Reisen hat. Ich kann alle Jugendlichen nur dazu ermutigen und viel Spaß dabei wünschen.

Interrail 3: Bei Andrea Weber und ihren Freunden lief nicht alles nach Plan

Was lang geplant, wird endlich gut. Von der Idee bis zur Durchführung dauerte es ganze sieben Monate. Am 1. August 1987 starteten Anja, Jörg und ich endlich unseren vierwöchigen Interrail Trip. Von Solingen ging es zunächst nach Paris. Auf dem kürzesten Weg aus Deutschland raus, denn nur im Ausland konnten wir mit dem Interrail Ticket fahren, ohne noch draufzahlen zu müssen. Von Paris fuhren wir über Avignon, Nizza und Finale Ligure in einem völlig überfüllten Zug nach Rom.

Nach zwei Tagen Stadtbesichtigung ging es weiter nach Neapel, wo wir in der Jugendherberge Plätze reserviert hatten. Die Stadt gefiel uns überhaupt nicht, überall lauerten Diebe, Mafiosi und latente Vergiftungsgefahr. Deshalb schnell weiter nach Brindisi, von wo aus wir mit der Fähre nach Griechenland übersetzten. Nach zwei Strandtagen machten wir uns auf den Weg nach Olympia, das aufgrund eines Streiks leider nicht zu besichtigen war. Also Pläne umgeworfen und statt Olympia direkt nach Athen, wo wir in einem Dreibettzimmer ohne Bettzeug und ohne Fensterscheiben übernachteten. Wir verließen Athen mit dem Nachtzug nach Belgrad, wo wir aufgrund der Renovierung unserer Herberge am Bahnhof schlafen mussten.  Über Dubrovnik und Sarajevo ging es weiter nach Wien. Hier aßen wir auf der Terrasse des Hotel Sacher die gleichnamige Torte und sahen uns  das Musical „Cats“ an. Einmal um die Bundesrepublik herum führte unser Weg über Basel und Brüssel nach über 24 Stunden Zugfahrt zurück nach Solingen.

Interrail 4: Lothar Schmalen auf den Spuren von Simon & Garfunkel

Zu meiner ersten Interrail-Tour brach ich 1976 auf. Zwei-Mann-Zelt, Luftmatratze, Kochgeschirr, Fotoapparat, Tütensuppen und rausgetrennte Seiten aus Kursbüchern und Campingplatzführern ergaben schnell 20 Kilo Gepäck in meinem Rucksack. Meine beiden Freunde und ich begannen mit der Etappe von Köln nach Paris. Inspiriert von Simon & Garfunkel mit ihrem „Marrakesch-Express“ wurden Frankreich und Spanien dann in einer Woche durchquert.

Mit dem Zug durch Marokkos Wüstenlandschaft

Mit der Fähre ging es nach Tanger, und dann waren wir in einer fremden Welt! Simon & Garfunkel hatten nicht gelogen: Auf dem Trittbrett des 3.-Klasse-Waggons fuhren wir Richtung Marrakesch durch die Wüstenlandschaft Marokkos, ließen den Wind durch die Haare streichen und waren die glücklichsten Menschen der Welt.

Überwältigt von den vielen Eindrücken dieser Reise begann für mich das neue Schuljahr und das „neue“ Mädchen in unserer Klasse war sofort begeistert von meinen Erzählungen. So begeistert, dass wir die nächsten drei Touren gemeinsam machten. Jetzt sind wir seit über 40 Jahren zusammen und verheiratet und haben manche Reise rund um den Globus gemeinsam erlebt – aber die Interrailtouren dabei nie vergessen. Diese waren nie luxuriös und die Kommunikation mit den besorgten Eltern bestand aus kurzen Anrufen aus Postämtern und Postkarten, die nach uns zu Hause ankamen. Aber ebenso in Erinnerung geblieben sind uns die vielen hilfsbereiten und freundlichen Menschen, denen wir begegnet sind. Unser Tipp: Probiert es aus, bevor es zu spät ist!

Interrail 5: Wie ein Autounfall im Schwedenurlaub dazu führte, dass Joachim die Frau seines Lebens kennenlernte

Im Sommer 1972 starteten mein Freund Joachim und ich in einem alten Ford 12 M, den ich kurz zuvor nicht mehr durch den Tüv bekommen hatte, in einen Skandinavienurlaub. In Schweden missachtete ein älterer Herr unsere Vorfahrt und unsere Auto-Rundreise endete mit einem Totalschaden. Wir blieben zum Glück unverletzt. Auf einem Campingplatz brauchten wir unsere Essensvorräte auf und warteten auf die fürstliche Entschädigung der gegnerischen Versicherung. Mein Freund fuhr nach Norwegen und kaufte dort für uns beide ein Interrail Ticket.

Kennenlernen in Sibenik

Im Zug Richtung Heimat lernten wir zwei Norwegerinnen kennen, die auch mit Interrail unterwegs waren. Nach einem Zwischenstopp in Deutschland fuhren wir nach Wien. Dort suchten wir mit dem Finger auf der Landkarte eine Stadt an der jugoslawischen Adria mit Jugendherberge aus. Der Zufall führte uns nach Sibenik. Dort machten wir schnell Bekanntschaft mit einem gewissen Vlada aus Belgrad, der uns abends mit in einen Weinkeller nahm. Nach einigen Trinkspielen und vielen Liedern zogen wir zusammen den Berg hinauf in die Jugendherberge. Vladas Cousine, ein junges, ausgesprochen hübsches Mädchen namens Mira hatte den Wein nicht so gut vertragen, also half ich ihr auf dem Heimweg. Am nächsten Tag fuhren wir alle mit dem Boot an den Solaris Strand, wo ich ihr unter anderem zeigte, wie man mit Spucke das Beschlagen der Taucherbrille verhindert.

Kurz darauf reisten die zwei Norwegerinnen, mein Freund und ich weiter nach Athen. Von dort aus führte unsere Interrail Tour über Venedig, Sète, Paris und London zurück nach Hause. Die nicht ganz so trinkfeste Mira hatte ein Foto von meinem Freund Joachim und mir – auch Joachim – gemacht. Sie fragte in der Jugendherberge nach unserer Adresse, um uns das Foto zu schicken. So erreichte mich ihr Brief, den sie am 13. September 1972 in Paris schrieb. Denn auch, wenn sie in Belgrad geboren war, so lebte sie in Paris und ging dort zur Schule.

Liebe in Paris

Mein Freund Joachim, Theo und ich hatten nach Klausuren einige Tage Zeit. Wir beschlossen, nach Paris zu fahren. Von Meschede fuhren wir nach Solingen, um in der Nacht weiter zu fahren. Leider hatte Theo seinen Personalausweis vergessen. Dafür hatte Joachim zwei Ausweise, von denen einer ein Kinderfoto von ihm zeigte. So kam die Idee: Theo und ich fahren mit dem falschen Ausweis über die belgische Grenze. Ich lade Theo in Belgien ab und fahre mit Joachim erneut über die Grenze. Das Ganze wiederholten wir zwischen Belgien und Frankreich, sodass wir schließlich in Paris ankamen.

Und wenn wir schon mal da waren, wollten wir auch die Absenderin des Briefes besuchen! Wir kamen uns näher, nach meinem Studium zog ich 1974 zu Mira nach Paris, wo ich arbeitete und dann Französisch studierte. 1976 haben wir in Belgrad geheiratet. Seit 1977 leben wir in Köln, wo ich Französischlehrer wurde. Heute leben wir mit unseren Kindern und Enkelkindern in Köln. Zufälle sind das, was Gott uns zufallen lässt: So bin ich im Interrail zur Frau meines Lebens gefahren!

Interrail 6: Ein  Schaffner machte Hans-Peter Oswald  zum „Vater“ einer Tochter 

Auf der Rückfahrt von einer Reise an die Côte d'Azur rumpelte mein Zug über die Bahnschwellen. Ein junges Mädchen kam zur Abteil-Tür herein und hatte – bevor ich meine Hilfe anbieten konnte – ihren Rucksack mit Schwung auf die Ablagefläche für Gepäck befördert.

Ohne Geld durch Europa

Sie machte einen sehr selbstbewussten Eindruck, zeigte aber auch Symptome von Nervosität. Ich sprach sie darauf an. „Ich habe keine Fahrkarte“, gestand sie mir. Gut, dass ich aufgrund des Interrail-Passes nicht in einer solchen Klemme stecke, dachte ich mir, ohne diese Gedanken laut auszusprechen. „Hast du kein Geld?“, fragte ich. „Ich habe Geld, aber ich darf es nicht ausgeben“, antwortete sie.

Dann begann sie mir von ihrem Projekt zu erzählen. Es bestand darin, in den ganzen Sommerferien durch Europa zu reisen, ohne Geld auszugeben. Das bedeutete Trampen, was wir jungen Leute trotz der Gefährlichkeit in den 70er Jahren fast alle taten. Das hieß, auf Bauernhöfen für Essen und Unterkunft zu arbeiten.

Die Sommerferien gingen gerade zu Ende. Sie musste schnell nach Hause zurück und hatte daher die Eisenbahn genommen – selbstverständlich ohne von ihrem Projekt abzuweichen. Mein Rat lautete: „Erzähle dem Schaffner von deinem Projekt“. Sie fand die Idee gut.

Plötzlich Vater

Nachdem ein junger, fröhlicher Schaffner alle in unserem Abteil kontrolliert hatte, fing sie an in Schulfranzösisch von ihrem Projekt zu erzählen. Der Schaffner, der kaum älter war als wir, wirkte sichtlich beeindruckt. Aber er sagte dennoch: „Ich kann das nicht entscheiden. Ich hole den Oberschaffner“.

Der etwas rundliche Oberschaffner betrachtete alle Reisenden im Abteil und erklärte dann: „Mein Kollege berichtete mir von einem angeblichen Problem“. Dann sagte er zu mir: „Monsieur, ich hörte von meinem Kollegen, dass Sie mit einem Interrail-Pass reisen. Ihre elfjährige Tochter fährt aufgrund Ihres Interrail-Passes natürlich umsonst mit“.

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