20 Jahre Wikipedia in DeutschlandWarum das Online-Lexikon dringend Nachwuchs braucht

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Wikipedia: Eine Welt voller Wissen. Oder?

Köln – Wenn ich über Wikipedia nachdenke, dann kommt mir unweigerlich diese Szene aus der Uni vor vielen Jahren ins Gedächtnis: Eine Kommilitonin hatte ein Referat gehalten, im Anschluss gab es Diskussionen um einen Sachverhalt. Es ging hin und her, hin und her, bis die Kommilitonin schließlich verkündete, dass ihre Version stimmen müsse. Schließlich stünde das so auch bei Wikipedia. Daraufhin breitete sich schlagartig betretenes Schweigen aus und wir alle starrten die Kommilitonin mit weit geöffneten Mündern an – inklusive der Dozentin. Die Kommilitonin hatte sich gerade selbst ihrer wissenschaftlichen Expertise beraubt.

Wikipedia: Kofferwort zusammengesetzt aus wikiwiki, hawaiianisch für schnell, und -pedia, der Endung von Englisch encyclopedia; ein freies Lexikon im Internet

Nun müssen Sie nicht glauben, dass ich ständig über Wikipedia nachsinnen würde. Es ist eher so, dass ich das digitale Lexikon nutze, täglich eigentlich, aber eben in der Art und Weise wie meine Eltern früher die Brockhaus-Enzyklopädie. Nur, dass ich dafür keinen schweren Wälzer aus dem Schrank ziehen muss, sondern einfach ins Internet gehe. Und doch muss ich manchmal, wenn ich dort etwas recherchiere, an diese Szene in der Uni vor zwölf Jahren zurückdenken, und dann frage ich mich, ob sie heute noch genauso ungeheuerlich wäre wie damals.

Klar ist: In den vergangenen 20 Jahren hat sich Wikipedia von einem kleinen Underdog-Projekt zu einer der weltweit zehn größten Seiten im Internet gemausert. Vier von fünf Internetnutzern recherchieren laut einer Studie bei Wikipedia, bei den unter 30-Jährigen sind es mehr als 90 Prozent. Und ja: Auch Journalisten beginnen dort regelmäßig. Doch wie seriös ist die Plattform heute? Wie hochwertig ist die Qualität der Beiträge? Ist Wikipedia als Quelle überhaupt vertrauenswürdig? Am 16. März 2001 ging die deutschsprachige Wikipedia-Seite online. Zum 20. Jubiläum habe ich mit Wissenschaftlern und Wikipedianern über den Werdegang der Plattform gesprochen.

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Wikipedia-Gründer Jimmy Wales

„Als Wikipedia im Januar 2001 gegründet wurde, war das eine Revolution“, sagt Christian Pentzold von der Uni Leipzig. Der Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft untersucht das Phänomen Wikipedia seit 2008, ist in der Community vernetzt und kennt sich gut hinter den Kulissen, sorry: Seiten, aus. „Ein offenes Schreibprojekt, bei dem jeder mitmachen konnte, und das die Inhalte für jeden Nutzer zur Verfügung stellt – kostenlos! So etwas hatte es vorher noch nicht gegeben.“ Dabei war die Gründung dieser revolutionären Plattform, wie das so häufig in der Geschichte ist, eher ein Zufall. Eigentlich war der US-Unternehmer Jimmy Wales nämlich gerade dabei, ein anderes Online-Lexikon auf den Markt zu bringen: „Nupedia“ hatte einen Chefredakteur, ließ seine Texte ausschließlich von Fachkundigen schreiben und hatte ein langwieriges Kontrollsystem.

„Wikipedia war nur ein kleines Nebenprojekt, sozusagen die Spielwiese von Jimmy Wales und dem damaligen Nupedia-Chefredakteur Larry Sanger“, erzählt Christian Pentzold.

Wikipedianer: So nennen sich die aktiven Mitarbeiter der Wikipedia selbst

Aus dem Spiel wurde Ernst: Die Plattform wuchs in rasender Geschwindigkeit. Was wohl auch daran liegt, dass man kein Software-Experte sein muss, um die Seite zu bedienen und Artikel einzustellen. Weniger als einen Monat nach dem Launch in den USA am 15. Januar 2001 gab es schon 1000 Artikel in der englischsprachigen Wikipedia. Die beiden Initiatoren Wales und Sanger akquirierten ihre ersten Mitstreiter über Mailinglisten und schrieben auch selbst. Schon zwei Monate später gingen auch die deutsche, die französischsprachige und die spanischsprachige Seite an den Start. Vor allem in Deutschland ging der Aufbau rasant voran – was auch an dem Kölner Biochemie-Studenten Magnus Manske lag, der schon zu den Autoren von Nupedia gehörte, die deutsche Seite einrichtete und auch die ersten Artikel schrieb.

Zahlen, Zahlen, Zahlen

2,5 Millionen

Artikel gibt es zurzeit in der deutschsprachigen Wikipedia

6,2 Millionen

Artikel gibt es zurzeit in der englischsprachigen Wikipedia

5,4 Millionen

Artikel gibt es in cebuanosprachigen Wikipedia. Damit ist sie die zweitgrößte der Welt.

40,5 Millionen

Wikipedianer*innen gibt es weltweit. 133.000 von ihnen arbeiten zurzeit aktiv an der Plattform mit.

19.000

Ehrenamtliche schreiben derzeit für die deutschsprachige Wikipedia

10 bis 15 Prozent

der Wikipedianer sind weiblich, schätzen Experten.

2.9.2018

Die Kölner Wikipedia Community bekommt den Ehrenamtspreis der Stadt.

305

verschiedene Sprachen gibt es zurzeit auf Wikipedia

1 Prozent

der Wikipedia-Artikel sind Schätzungen zufolge weltweit für die offene Bearbeitung gesperrt. Dabei geht es um polarisierende Themen, etwa Sexualkunde-Themen.

Heute ist Wikipedia in mehr als 300 Sprachen verfügbar, auch auf Arabisch, Weißrussisch oder Schottisch-Gälisch. Und ja, die Wikipedia-Sprachausgabe mit den zweitmeisten Artikeln, nämlich mehr als fünf Millionen, ist auf Cebuano verfasst. Noch nie gehört? Kein Problem: Die Sprache wird von etwa 18 Millionen Menschen im Süden der Philippinen gesprochen. Und nein, nicht jeder dritte Bewohner dort schreibt Wikipedia-Artikel. Die große Anzahl der Texte verdanken die Menschen einem in Schweden programmierten Bot. Texte von Computern schreiben zu lassen ist in Deutschland übrigens verboten – und wird in Schweden auch nicht mehr gemacht. Deswegen gibt es in der deutschsprachigen Version auch „nur“ 2,5 Millionen Artikel, die aber von echten Menschen verfasst wurden. Den Wikipedianern.

Editor: von Englisch to edit, also bearbeiten. Jemand, der unentgeltlich Texte für Wikipedia schreibt. Auch: Autor oder Schreiber

Ein Wikipedianer, der Texte verfasst, nennt sich Editor. Er schreibt aber nicht nur, sondern redigiert und aktualisiert die Lexikon-Einträge auch. „Manche Wikipedianer arbeiten fünf bis sechs Stunden pro Tag für Wikipedia. Und niemand bekommt Geld dafür“, sagt Maiken Hagemeister, Pressesprecherin bei Wikimedia, dem eingetragenen Verein hinter der deutschsprachigen Enzyklopädie. Die Spenden, um die Wikipedia zum Ende eines Jahres regelmäßig bittet, kommen übrigens nicht den Editoren zugute, sondern werden für die Wikipedia verwendet.

Für die Server und die ganze technische Instandhaltung und Modernisierung der Plattform. Für Projekte und Trainings der Community, aber auch, um Editoren Rechtsbeistand zu leisten. Für die Mitarbeiter in Vereinen wie Wikimedia Deutschland e.V. Und letztlich auch, um die Enzyklopädie weltweit noch bekannter und erfolgreicher zu machen – auch in Ländern, in denen die Situation in puncto Bildung und  Meinungsfreiheit nicht ganz so komfortabel ist wie bei uns.

Doch auch, wenn diese ehrenamtliche Tätigkeit der Editorinnen und Editoren löblich ist, stellt sich letztlich doch die Frage, wie gesichert Wissen sein kann, das von hunderttausenden Amateuren auf der Welt zusammengetragen wird? Ist das nicht eher ein Risiko?

Christian Pentzold

Professor Christian Pentzold

„Nein, das ist ein Gewinn“, sagt Christian Pentzold. „Die Editoren sind Profis in einem bestimmten Gebiet und steuern dieses Wissen bei.“ Fällt einem Wikipedianer eine Leerstelle auf, kann er oder sie darüber einen Text schreiben. Einfach so, ohne, dass ein Verlag im Hintergrund bereits einen Plan hat, welche Themen überhaupt abgedeckt werden sollen und wie lang welcher Text zu welchem Thema sein darf. „In der Wikipedia gibt es keine Vorgabe, die sagt: Der Artikel zu chinesischer Kunst muss länger sein als der zu Klingonisch“, sagt Pentzold und lacht. Denn die Zeichenzahl und der Platz sind unbegrenzt.

Ein Wikipedia-Urgestein wie Achim Raschka ist Diplom-Biologe und verfasst einen Großteil seiner Texte über Tierarten. Bei der Kölner Wikipedianerin Elke Wetzig hingegen hat der Beruf nichts mit ihrer Wikipedia-Tätigkeit zu tun: Wetzig erstellt Websites, schreibt aber am liebsten über Köln, Architektur und Menschen. Ein Widerspruch ist das für sie nicht. „Man muss vor allem die Fähigkeit haben, sich in ein Thema einzuarbeiten und mit Quellen umgehen können.“ Denn es ist ja nicht so, als könne jeder Editor einfach schreiben, was er wolle. Ganz im Gegenteil: Die Wikipedianer achten streng darauf, dass jeder Text mit Belegen abgesichert ist – und diese müssen auch hinterlegt und am Ende des Artikels aufgeführt werden. „Dass Wikipedia so groß geworden ist, bringt natürlich eine große Verantwortung mit sich“, sagt Elke Wetzig. „Aber bei mir persönlich hat das vor allem dafür gesorgt, dass ich noch mehr auf die Quellen und Belege achte.“

Hoax: Englisch für Scherz, wird heute vor allem für Falschmeldungen in der digitalen Welt verwendet, die Nutzer für wahr halten und weiter verbreiten

Doch nicht alle Wikipedianer sind so vorbildlich, weiß Professor Christian Pentzold. Denn das ist die Kehrseite des Systems: In den ersten Jahren konnte jeder, wirklich absolut jeder, einfach so etwas rein schreiben – und der Text war sofort online abrufbar. Und weil eben auch sehr viele Journalisten gerne bei Wikipedia ihre Recherche beginnen, taucht vieles, was falsch in der Wikipedia steht, irgendwann auch in den Medien auf.

Dabei gehen die Falschmeldungen in der Wikipedia manchmal gar nicht auf die Ungenauigkeit der Editoren zurück, sondern sind perfide Absicht. Der größte Hoax etwa hielt sich ganze 15 Jahre in der englischsprachigen Wikipedia (und in einigen anderen Sprachen) und beschreibt die Vorgänge in den Gaskammern des Warschauer Konzentrationslagers. Dabei existierte dieses Lager nie. 2019 deckte ein israelischer Journalist die Falschmeldung auf.

In der analogen Welt wurde sie übrigens schon lange vor Wikipedia von polnischen Nationalisten verbreitet. Und genau das ist die Krux: Wikipedia kann eben nicht nur für Hobby-Enzyklopädisten eine Spielwiese sein, sondern auch für Verschwörungstheoretiker und PR-Leute. Im Schnitt werden beispielsweise die Artikel der Dax-Unternehmen in Wikipedia rund 670 Mal am Tag aufgerufen, schreibt Wikipedia-Experte Pavel Richter in seinem Buch „Die Wikipedia-Story: Biografie eines Weltwunders“.

Und weiter: „Das ist beeindruckend, wenn man aber mit einbezieht, dass die Informationen in Wikipedia eine enorme Verbreitung etwa durch die Suchergebnisse in Google haben, die sich in dieser Statistik nicht widerspiegeln, so wird klar: Wikipedia hat einen enormen Einfluss darauf, wie ein Unternehmen in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.“

Ist doch nett, wenn man seine Meinung so einfach verbreiten kann, oder? Doch so leicht ist das gar nicht mehr. Denn natürlich haben auch die Wikipedianer die Kritik an ihrer Informationsqualität mitbekommen.

Sichter: Ein Editor, der eine bestimmte Anzahl an Artikeln verfasst hat oder schon länger bei Wikipedia ist, wird zum Sichter. Er überprüft die Änderungen von nicht angemeldeten oder neuen Nutzern und schaltet diese frei

„Den Wikipedianern ist klar geworden, dass sie zu einer zentralen kulturellen Ressource und Informationsquelle geworden sind“, sagt Christian Pentzold. „Die haben sich schon vor Fake News Gedanken darüber gemacht, wie sie die Unabhängigkeit und Qualität ihrer Artikel sichern können und einen doppelten Boden eingebaut.“ Und der besteht vor allem aus den sogenannten Sichtern: Das sind Wikipedianer, die schon etwas länger dabei sind und eine gewisse Anzahl von Artikeln veröffentlicht haben. Möchte nun ein nicht angemeldeter Nutzer oder Neuling eine Änderung an einem Artikel vornehmen, dann wird diese Änderung nicht direkt veröffentlicht, sondern muss zunächst von einem Sichter überprüft und freigeschaltet werden.

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Auf ihrem Youtube-Kanal „Unboxing Wikipedia“ gewähren die beiden Wikipedianer Elke Wetzig und Achim Raschka Einblicke in das Innenleben von Wikipedia. In einem Video lassen die beiden die Zuschauer am Prozess des Sichtens teilhaben: Auf einer Liste sehen sie alle noch nicht zugelassenen Änderungen und klicken sich durch. Da ist etwa diese norwegische Band „22“, die angeblich im April 2020 ihre Auflösung bekannt gegeben hat. Doch stimmt das überhaupt? Raschka und Wetzig schauen auf der norwegischen Wikipedia-Seite nach, auf der Homepage der Band, auf Spotify – doch nirgends finden sie einen Beleg für die Auflösung. Deswegen lassen sie die Änderung zunächst nicht zu. Anfang Januar 2021, einige Monate nach Veröffentlichung des „Unboxing“-Videos, ist die Auflösung der Band auf der Wikipedia-Seite zu sehen. Ein anderer Sichter hatte wohl noch weitere Informationen.

„Das ist ein Drahtseilakt“, sagt Professor Christian Pentzold. „Einerseits will die Wikipedia offen sein, doch andererseits bringt diese Offenheit Probleme bezüglich der Informationsqualität mit sich.“ Doch die Mechanismen zur Qualitätssicherung wirken. Untersuchungen zeigten, dass die Fehlerquote in der Wikipedia und in gedruckten Lexika in den vergangenen Jahren ungefähr gleich groß war. Denn ja, auch in gedruckten Lexika schleichen sich Fehler ein. Und die sind dann nicht mit ein paar Klicks behoben.

 Apropos gedrucktes Lexikon: Dem mächtigen Brockhaus hat die Wikipedia den Garaus gemacht. Die 21. und letzte Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie erschien in ihrer Druckfassung im Jahr 2005/2006, der Vertrieb des gedruckten Lexikons wurde 2014 komplett eingestellt. In dieser Form ist so eine Enzyklopädie einfach nicht mehr zeitgemäß. Was nicht nur an den Wälzern, sondern vor allem an der Aktualität liegt. Rund zehn Jahre brauchte der Brockhaus für eine neue Edition – auf den Wikipedia-Seiten kann man gewisse aktuelle Entwicklungen hingegen in Echtzeit mitlesen.

Wikidata: Eine freie Datenbank, die jeder bearbeiten kann. Die Daten verknüpfen sich automatisch mit anderen Wiki-Projekten

Und für gewisse Aktualisierungen gibt es seit einigen Jahren ein sehr hilfreiches Instrument: Wikidata. Die frei bearbeitbare Wissensdatenbank wurde von Wikimedia Deutschland entwickelt, ging im Oktober 2012 online und verknüpft Daten miteinander. Maiken Hagemeister von Wikimedia Deutschland erklärt die Funktion mit folgendem Beispiel: „Wenn eine Wikipedia Wikidata verwendet, können zum Beispiel Daten wie Einwohnerzahl eines Landes, das Geburtsdatum einer Person oder die Bürgermeisterin einer Stadt automatisch auf den neuesten Stand gebracht werden.“

Das ist sehr praktisch, funktioniert aber eben nur mit Daten. Andere Aktualisierungen müssen weiterhin händisch ausgeführt werden – und das bei, wir erinnern uns, 2,5 Millionen Artikeln in der deutschen Wikipedia. „Housekeeping“, also Hausmeisterarbeiten, nennt Christian Pentzold diese Arbeit. „Es ist eine große Herausforderung, alle Artikel aktuell zu halten.“ Vor allem, da die Menge an Texten mehr wird, die Menge an ehrenamtlichen Mitarbeitern jedoch stagniert – teilweise sogar zurückgeht.

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Wikipedia könne nur mit Hilfe von Autorinnen gerettet werden, postuliert Pavel Richter in seinem Buch über die Enzyklopädie. Damit spielt er auf die geringe Anzahl weiblicher Editorinnen an. Die meisten Schätzungen gehen von zehn bis 15 Prozent aus. So wirklich weiß das aber niemand. Denn die allermeisten Wikipedianer veröffentlichen unter Pseudonym und ob hinter „pixeldragon“ nun ein weiblicher, männlicher oder gar diverser Editor steckt – wer kann das schon sagen?

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Die Kölner Wikipedianerin Elke Wetzig

„Elya“ jedenfalls ist eine Frau aus Köln, wir haben sie zuvor schon unter ihrem richtigen Namen Elke Wetzig kennengelernt. Wetzig glaubt, dass auf Wikipedia mehr Frauen schreiben als die Zahlen glauben machen, aber: „Es sind auf jeden Fall viel weniger Frauen als Männer.“ Sie schreibt seit 2003 für Wikipedia und hat darüber sogar ihren Partner kennengelernt.

Die geringere Frauenquote erklärt sie sich damit, dass viele Frauen mit Job und Familie immer noch mehr belastet seien als Männer – und vielen einfach die Zeit für ein so aufwendiges Hobby wie Wikipedia fehle. Dazu komme, dass viele Frauen sich und ihr Wissen unterschätzen würden. „Ich glaube, Männer sind da einfach selbstbewusster und sendungsbewusster als Frauen.“

Sie selbst ist vor allem um des Schreibens willens dabei. „Das ist meine Leidenschaft und das Gute daran ist: Ich schreibe, wenn ich Lust dazu habe. Aber ich muss es nicht tun, weil ich nicht mein Geld damit verdiene.“ Vor allem Biografien haben es ihr angetan. „Wenn ich morgens im Kölner Stadt-Anzeiger von einer interessanten Person lese, über die es noch keinen Wikipedia-Eintrag gibt, dann ist der abends geschrieben – im Bestfall.“ Unnötig zu sagen, dass diese Personen oft weiblich sind.

Edit-a-thon: Eine Veranstaltung, bei der Wikpedianerinnen und Wikipedianer gemeinsam Artikel zu einem bestimmen Thema schreiben oder bearbeiten. Die Wortschöpfung setzt sich zusammen aus dem Englischen to edit, auf Deutsch bearbeiten, und Marathon

Denn: Stand 2020 handelten nur 17 Prozent aller Biografien in der deutschsprachigen Wikipedia von Frauen, führt Pavel Richter in seinem Buch „Die Wikipedia-Story“ an. Das liegt natürlich auch daran, dass Männer über Jahrhunderte hinweg Kunst, Kultur, Wissenschaft, Politik, Sport, kurz die gesamte Öffentlichkeit, dominiert haben.  Mit einem Edit-a-thon, einem gemeinsamen Schreibwettbewerb wollten die Wikipedianer und Wikipedianerinnen daran etwas ändern: 100 Tage vor dem Weltfrauentag am 8. März 2021 hatten die Editoren begonnen, so viele Artikel wie möglich über Frauen zu veröffentlichen. Elke Wetzig etwa hat zuletzt über Sylvia Heuchemer, Vizepräsidentin für Studium und Lehre an der Technischen Hochschule Köln, geschrieben. Und auch über Entgen Lenarts, das letzte in einem Prozess zum Tode verurteilte Opfer der Hexenverfolgungen in Köln.

Elke Wetzig findet es wichtig, dass alle Teile der Bevölkerung in die Wikipedia-Prozesse eingebunden sind, Schwerpunkte setzen können, diskutieren, schreiben und bewerten. Doch es fehle nicht nur an weiblichen Wikipedianerinnen, sagt sie, sondern auch an jungen. „Auf Veranstaltungen sehe ich das immer wieder: die Kern-Community altert und es gibt einfach zu wenig Nachwuchs.“

Zum Weiterlesen

Pavel Richter: „Die Wikipedia-Story: Biografie eines Weltwunders“, Campus Verlag, 232 Seiten,  22,95 Euro

Peter Grünlich:  „Der Alleswisser: Wie ich versucht habe, Wikipedia durchzulesen, und was ich dabei gelernt habe“, Yes Publishing, 272 Seiten, 14,99 Euro

Eine interaktive Zeitreise durch 20 Jahre Wikipedia gibt’s hier: www.wikimedia.de/wikipedia20-timeline

Wenn Wikipedia auch die nächsten 20 Jahre überdauern soll, dann braucht es mehr Diversität, mehr Frauen, mehr junge Leute, mehr Behinderte, mehr Handwerker, mehr Migranten. Einfach mehr Menschen, die sich einbringen. Und die dazu beitragen, dass jede und jeder kostenlos und werbefrei Zugang zu Wissen hat. Zu neutralem Wissen. Denn das ist wichtiger denn je. „Wenn wir in diesen Zeiten von Fake News auf Wikipedia schauen, dann ist die Plattform von einem Outcast des enzyklopädischen Systems zu einem Paradebeispiel von netzbasiertem, geprüften und halbwegs verlässlichem Wissen geworden“, sagt Professor Christian Pentzold. „Die Debatte hat sich gewandelt: Heute gilt uns Wikipedia als eine Insel von geprüften Informationen.“

Ich jedenfalls habe durch die Recherche zu dieser Titelstrecke eine Antwort auf die Ausgangsfrage meines Artikels gefunden: Nein, heute  würde ich meiner Kommilitonin nicht mehr die wissenschaftliche Expertise absprechen. Wikipedia ist eine gute Sache. Es ist sinnvoll, sich dort zu informieren und ja, es ist auch in Ordnung, Wikipedia zu zitieren. Ein kurzer Faktencheck und eine vertiefende Recherche in anderen Quellen haben aber noch nie geschadet. Den machen gute Wikipedianer ja schließlich auch.

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