Autor schreibt seit 17 Jahren für Wikipedia„Wikipedianer können keinen Small Talk“

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Wikipedia-Autor Achim Raschka aus Erftstadt

Köln – Achim Raschkas Tag beginnt für gewöhnlich mit einer Tasse Kaffee und einem Blick in die Wikipedia. Gleich nach dem Aufstehen schaltet der 50-Jährige den Computer an, loggt sich bei der Online-Enzyklopädie ein und schaut, was es Neues gibt. Hat über Nacht jemand etwas an einem seiner Artikel verändert? Gibt es neue Meldungen auf der Vandalismus-Seite? Muss er eine Aktualisierung freischalten? Die deutschsprachige Seite der Wikipedia ging heute vor 20 Jahren online. Am 16. März 2001. Achim Raschka ist seit 17 Jahren dabei. „Aber heute nicht mehr so viel wie früher“, sagt Raschka. Früher habe er so sechs bis acht Stunden dort verbracht. Pro Tag. „Heute sind es so ein bis zwei Stunden am Tag.“ Nun könnte man denken, der Mann mit dem grauen Rauschebart, den langen Haaren und der kleinen, runden Brille sei Single. Jemand, der in dieser digitalen Welt sein Zuhause gefunden hat. Stimmt aber nicht: Raschka lebt mit seiner Familie in Erftstadt. Er ist verheiratet und hat mehrere Kinder. Und arbeitet nebenher noch Vollzeit. Wie schafft er das?

„Ich gucke kein Fußball, das verschafft mir schon mal viel Zeit“, sagt Raschka und lacht in die Kamera. In diesen Zeiten sind wir zu einem Videocall verabredet. Und wenn abends eine Serie laufe, schaue er oft mit einem Auge auf den Fernseher und mit dem anderen auf den PC. „Man darf mich dann aber nicht nach den Details der Serie fragen.“

Arbeit für Wikipedia ist ein Hobby

Seine Frau akzeptiere seine Tätigkeit für die Enzyklopädie. „Sonst könnte ich das auch gar nicht machen.“ Damit zu tun habe sie aber nichts. Und natürlich nehme er sich auch Zeit für die Kinder. Deswegen sind auch die acht Stunden täglich nicht mehr drin. Aber es spreche ja nichts dagegen, bei einem Familien-Spaziergang noch ein paar neue Fotos für einen Artikel zu knipsen, findet er.

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Das Logo der Plattform

Raschka sieht sich vor allem als Autor. Texte schreiben, das macht er am liebsten. Doch wie jeder Editor bei Wikipedia bekommt Raschka kein Geld für seine Mühe. Das Texteschreiben, das Korrigieren, das Freigeben – all das macht er ehrenamtlich. Aber das stört ihn nicht. „Ich sehe das so: Ich verdiene genug Geld in meinem Job. Die Arbeit für Wikipedia ist mein Hobby.“ Zuletzt hat Raschka gemeinsam mit ein paar Freunden einige Artikel zu alten Schlagern aus den 1960er und 1970er Jahren verfasst. Sein Beitrag zu „Immer wieder sonntags (Lied)“ startet so: „Immer wieder sonntags ist ein Lied des deutschen Schlagersänger-Paares Cindy & Bert aus dem Jahr 1973. Es war zugleich der erste Top-10-Hit des Duos in den deutschen Singlecharts und das Lied mit der höchsten Platzierung für Cindy & Bert in den Charts.“ Und obwohl sich das sehr spröde anhört, sagt Raschka: „Wenn ich abends so einen Schlagertext schreibe, dann ist das für mich Entspannung.“ 

300 Arten von Hörnchen beschrieben

Die meisten seiner Texte hat der 50-jährige Erftstädter jedoch zu biologischen Themen verfasst – nicht sonderlich verwunderlich, schließlich ist er Diplom-Biologe. Er arbeitet als Industrieberater und hilft Unternehmen dabei, ihre Produktion nachhaltiger zu gestalten. Seine Artikel jedoch verfasst er vor allem über verschiedene Tierarten. Die Arbeits- und die Wikipedia-Welt will er inhaltlich trennen. „In den vergangenen Jahren habe ich fast 300 Arten von Hörnchen beschrieben.“

Am Anfang jedoch, da habe er noch richtig Grundlagenarbeit leisten können. Damals, im Dezember 2003, gab es weder einen Eintrag zu den Walen noch zu den Krokodilen. Rund 40.000 Artikel konnte man damals auf den deutschsprachigen Seiten finden – heute sind es mehr als 2,5 Millionen. Trotzdem beschäftigte Raschkas allererster Artikel sich mit einer ziemlich außergewöhnlichen Tiergruppe: den Deinotherien, einer ausgestorbenen Elefantengattung.

So kam Raschka zu Wikipedia

Und das kam so: Achim Raschka hatte gerade sein Studium in Berlin abgeschlossen und noch einen Lehrauftrag an der Universität. Trotzdem engagierte er sich bei den Studentenstreiks. Um auf die Bedeutung ihres Studiums hinzuweisen, versammelten sich einige Biologen zu einer Protestaktion im Berliner Naturkundemuseum: Sie erklärten den Besuchern dort etwas über die Exponate in den Vitrinen. Und Raschka stand eben bei den  Deinotherien. „Bei meiner Recherche zu ausgestorbenen Elefantenarten bin ich dann zufällig über die Wikipedia-Seite gestolpert“, erzählt er. „Da stand etwas von bearbeiten. Ich habe draufgeklickt, was reingeschrieben, es gespeichert und dann war es auch schon online. Von da an war ich dabei.“

Zurzeit schreibt er ungefähr ein bis zwei Artikel pro Woche. Das meiste dafür recherchiert er in der Fachliteratur, für einiges zieht er aber auch andere Internetseiten zu Rate.

Nicht mehr so leicht wie früher

Heute wird es Wikipedia-Neulingen nicht mehr ganz so leicht gemacht wie Raschka damals. Zwar sind die allermeisten Seiten auch heute noch offen – das heißt, nicht angemeldete oder neue Nutzer können direkt eine Veränderung vornehmen. Doch diese ist nicht sofort öffentlich.  Denn: Die Änderung  muss  noch von erfahrenen Wikipedia-Nutzern, sogenannten Sichtern, freigegeben werden.

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Während unseres Gesprächs fügt ein nicht registrierter Nutzer das neue Buch des Bonner  Virologen Hendrik Streeck in dessen Wikipedia-Eintrag hinzu. „Ja, da muss ich gleich erst mal gucken, ob das wirklich stimmt“, sagt Raschka. Die Änderung wird ihm auf der „Beobachtungsliste“ angezeigt. Unfassbare 13.000 Artikel hat Raschka sich auf diese Liste gezogen, einige davon sind seine eigenen, andere interessieren ihn einfach. „Bei den allermeisten Texten passiert eigentlich nichts. Aber die Corona-Seiten haben sehr viele von uns unter Beobachtung.“

Seiten sollen keine Beleidigungen enthalten

Zum Teil gesperrt sind nur solche Seiten, die besonders viele Fehler, Beleidigungen oder gar Vandalismus anziehen: Corona, Zweiter Weltkrieg, Holocaust. Oder auch Geschlechtsorgane – hier nehmen vor allem Schüler gerne pseudowitzige Veränderungen vor, bevorzugt während der Schulzeit. „Wir haben diesen Zwischenschritt eingeführt, weil wir nicht wollen, dass Fehler oder Beleidigungen sofort sichtbar sind“, erklärt Raschka. 

Er selbst ist inzwischen nicht mehr nur Sichter, sondern auch sogenannter „Admin“. Das ist eine Abkürzung für  „Administrator“, sprich: Seitenverwalter. Für diese Aufgabe wurde er gewählt – und sie befugt ihn auch dazu, Änderungen auf komplett gesperrten Seiten vorzunehmen oder sogar Seiten ganz zu löschen.

„Jeder nutzt es, jeder glaubt es“

Denn Wikipedia ist von einer Graswurzel-Bewegung zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden, die Seite ist eine der am häufigsten aufgerufenen in ganz Deutschland. „Jeder nutzt es, jeder glaubt es. Dabei sagen wir immer wieder: Ihr dürft nicht alles glauben, was in der Wikipedia steht“, sagt Raschka und seine Stimme wird jetzt drängender. „Wir können auch Fehler machen.“

Zwar schätzt Raschka die Qualität der meisten Beiträge als sehr hoch ein, was er vor allem auf die Schwarm-Intelligenz der Editoren zurückführt. „Meistens schreibt man ja über ein Thema, von dem man Ahnung hat. Im biologischen Bereich fühle ich mich sehr sicher, aber an hochpolitische Themen wie den Israel-Konflikt würde ich mich niemals heranwagen.“ Trotzdem spüren viele Editoren die Last der Verantwortung. Und dadurch sei es in der Community zum Teil unentspannt geworden, findet Raschka.

Entscheidungen trifft die Community schriftlich

Entscheidungen werden in der Community basisdemokratisch gefällt – und ausschließlich schriftlich. Auf  Diskussionsseiten wird erörtert, wie man mit Prominenten umgeht, die öffentlich in der Kritik stehen. Wie man die politischen Positionen von AfD-Bundestagsabgeordneten beschreibt. Oder ob ein Jude bei seinem Todesdatum nicht besser einen Stern als ein Kreuz stehen haben sollte. Und ganz pingelige Nutzer merken dann auch gerne schon mal an, dass der Bindestrich nicht die richtige Länge hatte.

Von den mehr als 19.000 angemeldeten Nutzern in der deutschsprachigen Wikipedia zählt Schätzungen zufolge nur ein harter Kern von vielleicht 2000 Leuten zu den wirklich aktiven Editoren. Zu den Wikipedianern, wie sich diese Gruppe selbst nennt. Die Endung „–ianer“, so sagt es ausnahmsweise mal nicht Wikipedia, sondern eine Internetseite namens „Rechtschreib-Werkstatt“, bezeichne eine Ordensgemeinschaft (eher nicht) oder die Anhänger einer bestimmten politischen oder wissenschaftlichen Richtung. Da haben wir’s. Die Wikipedianer reihen sich damit bei den Kantianern, den Freudianern oder den Börsianern ein.

So sind die Wikipedianer drauf

Im Internet kursieren Gerüchte, die Wikipedianer seien zu ruppig, zu unfreundlich zu Neulingen, hätten keine Willkommenskultur. Achim Raschka sagt: „Die meisten sind total nett, mit denen kann man gut ein Bierchen trinken. Aber tatsächlich sind wir schnell im Thema drin und reden zum Beispiel über die letzten Konflikte auf den Diskussionsseiten.“ Small Talk hingegen könnten viele Wikipedianer nicht.

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Im Kölner Lokal K treffen die Wikipedianer sich regelmäßig – wenn kein Corona ist.

Wenn nicht Corona ist, trifft Raschka sich regelmäßig mit einer Gruppe von zehn bis 15 Leuten aus dem Raum Köln zum Stammtisch. Analog im Lokal K in Ehrenfeld. Auch offene Treffen gibt es. Und einmal im Jahr kommen Wikipedianer aus ganz Deutschland zur WikiCon zusammen. Normalerweise. „Klar, jeder hat seine eigene Fachrichtung, aber was die Wikipedianer eint, ist, dass wir alle neugierige Menschen sind, Buch- und Software-affin und sehr bedacht auf Korrektheit und Präzision. Und ja: Natürlich sind wir auch alle Nerds.“

Der durchschnittliche Wikipedianer sei der klassische, deutsche, weiße Mann. Und die Community werde immer älter. Raschka wünscht sich mehr Editoren. „Wir haben immer mehr Artikel auf den Seiten, aber die Zahl der Autoren bleibt gleich – oder nimmt sogar ab. Der Pflegeaufwand für die Aktualisierungen wird größer.“ Er versuche die Nicht-Wikipedianer in seinem Bekanntenkreis immer für Wikipedia zu gewinnen. „Ich sage: Macht doch mit, das macht total viel Spaß! Aber irgendwie glaubt mir keiner.“

Neue Artikel schreiben gehört zum Urlaub dazu

Wikipedia zu nutzen, gehört inzwischen zu Achim Raschkas Alltag wie Kaffeekochen und Abendbrot zubereiten. Im Urlaub mal konzentriert zwei oder drei Stunden am Stück an neuen Artikeln zu feilen gehöre einfach dazu, sagt Raschka. Tage ohne die Plattform kann er auch aushalten – wenn er sich vorher darauf einstellen kann. Wenn er weiß, dass auf der Dienstreise keine Zeit dafür sein wird oder seine Eltern das beim Besuch nicht gutheißen.

„Aber wenn spontan der Computer kaputt geht oder das Internet nicht funktioniert, ist es schlimm. Ich will doch immer gucken, ob was passiert ist.“ Achim Raschka sagt über sich selbst, er habe so etwas wie eine positive Internetsucht. Wenn er an diesem Abend nach der Arbeit nach Hause kommt, wird er wohl an dem Artikel weiterarbeiten, den er morgens bereits begonnen hat. Und vor dem Schlafengehen wird er vielleicht noch mal auf die Diskussionsseite schauen. Nur ganz kurz.

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