Faktencheck zum SchnellfahrenDie größten Denkfehler von Rasern auf der Autobahn

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Ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen – ja oder nein? Diese Diskussion erhitzt seit Jahren die Gemüter. (Symbolbild)

  • Es ist eine hitzige Diskussion, die immer wieder aufflammt: Die Frage nach dem Tempolimit auf Autobahnen.
  • „Wer schneller fährt, kommt schneller an" oder „ein Tempolimit gefährdet Arbeitsplätze", heißt es oft. Aber stimmt das auch?
  • Ein Verkehrswissenschaftler und eine Verkehrspsychologin klären die Faktenlage und sagen, was an solchen Behauptungen dran ist.

Köln – Die Grenze zwischen Österreich und Deutschland ist gerade passiert, da geht der Stress wieder los: Im Rückspiegel können wir die Augenfarbe des Fahrers hinter uns erkennen, so dicht klebt er an unserer Stoßstange. Er blendet auf, er gestikuliert, er kommt noch ein wenig näher. Willkommen in Deutschland, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten für all jene mit Benzin im Blut. Der Tempomat ist abgeschaltet. Wir fahren keine 130 Kilometer pro Stunde mehr, sondern deutlich schneller. Und sind doch im Weg. Stören empfindlich den Freiheitsdrang unseres Verfolgers. Der es eilig hat. Der es sich leisten will, ein paarmal öfter zu tanken. Der unbedingt zeigen möchte, was sein Auto kann. Denn er hat sich das Gefährt mit den beeindruckenden Pferdestärken ja nicht gekauft, um das Klima zu schonen. Er will tun, was er abseits ausgewiesener Rennstrecken nur in Deutschland tun darf: Vollgas geben.

Tempolimit – ja oder nein?

Tempolimit auf deutschen Autobahnen ja oder nein? Das ist eine sehr emotional geführte Debatte. Sie rüttelt am Stolz einer Nation auf ihre Ingenieurskunst. Stellt auf den Prüfstand, worum wir von Autofahrern aus aller Welt beneidet werden. Will uns ein letztes Stückchen Freiheit nehmen. „Das macht Spaß, ich geb' Gas, ich geb' Gas.“ Mit diesen 1982 veröffentlichten Zeilen landete Pop-Sänger Markus auf Platz eins der deutschen Singlecharts.

Drei Jahre später, 1985 – es war das Jahr, in dem in Deutschland die ersten Fahrzeuge mit Katalysator zugelassen wurden – leistete sich die Regierung Kohl den so genannten „Abgasgroßversuch“. Die Fakten seien damals genauso eindeutig gewesen, wie sie es noch heute sind, erinnert sich Professor Udo Becker, Verkehrswissenschaftler an der TU Dresden. Er verfolgte Testergebnisse und Debatte damals als junger Mitarbeiter am Institut für Verkehrswesen der Uni in Karlsruhe. Würde ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen die Abgasemissionen und das Risiko für schwere Unfälle deutlich verringern? Klimaschutz und Verkehrssicherheit, es sind Themen, die uns seit mehr als 35 Jahren beschäftigen.

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Udo Becker ist Verkehrswissenschaftler an der TU Dresden.

„Natürlich brächte ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen etwas. Die Schlussberichte lasen sich schon damals eindeutig“, sagt Becker. Doch die Papiere verschwanden in dunklen Schubladen, die „Freie Fahrt für freie Bürger!“ blieb. Den Slogan hatte 1974 der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC) geprägt. Die Ölkrise, vier autofreie Sonntage in Deutschland und ein Tempo-100-Großversuch hatten das Land einem Tempo-100-Limit auf Autobahnen nahe gebracht – schließlich wurde aber nur eine bis heute gültige, unverbindliche Richtgeschwindigkeit von 130 km/h eingeführt.

Deutschland als letztes Land der Erde ohne Tempolimit

Der aktuelle Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer will „dieses hoch emotionale Thema“ nicht „wieder und immer wieder ins Schaufenster“ gestellt wissen. Doch nun ist Anfang des Jahres sogar der ADAC von seiner strikten Haltung gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen abgerückt. In Umfragen zeichnet sich ab, dass der Rückhalt in der Bevölkerung für die freie Fahrt schwindet. Das Tempolimit werde kommen, sobald damit „mehr Stimmen gewonnen als verloren werden können“, meint Becker. Der Wissenschaftler wartet seit 35 Jahren darauf und ist zuversichtlich, dass es nun bald so weit sein könnte. Dass Deutschland als letztes Land der Erde in Sachen Tempolimit auf Autobahnen (Becker: „Abgesehen von Afghanistan, wo es allerdings auch überhaupt keine Autobahnen unserer Art gibt“) an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter steht.

Wir nehmen das zum Anlass, noch einmal die Fakten in der Debatte zu beleuchten:

Behauptung: Wer schneller fährt, kommt schneller an

Stimmt. Zumindest individuell betrachtet. Wenn alles gut geht. Aber oft genug geht es schief. Denn die Leistungsfähigkeit einer Autobahn sei sicher nicht am höchsten, je schneller Einzelne fahren, betont Udo Becker. Das gar nicht so geheime Geheimnis laute: „Gleichmäßig fahren, am besten alle gleich schnell.“ Dann gäbe es weniger Störungen, weil viele Spurwechsel entfielen, sagt Becker: „Jedes Bremsmanöver verringert die Kapazität. Ganz platt vereinfacht: Bei jeder 1000sten Störung ist eben doch der alte Mann mit Hut noch direkt vor dem Ferrari ausgeschert und es hat gekracht. Das Resultat: Eine Blockade für anderthalb Stunden, irrsinnig hohe Zeitverluste für viele wegen dieser einen Unregelmäßigkeit.“

So bringe die Fahrt mit Tempo 200 nur einen scheinbaren Zeitgewinn. „Über das Jahr gerechnet würde man im Einzelfall sogar Zeit sparen, wenn man langsamer und gleichmäßiger fahren würde“, so Becker. Auch wenn das für den Parlamentarier mit Dienstwagen und Fahrer und langen Touren am Wochenende vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich sei.

Auf Fußgängertempo programmiert

Der Mensch ist nicht fürs Autofahren gemacht und schätzt deshalb einen mit hohem Tempo herausgefahrenen Vorsprung oft falsch ein. Der Verkehrspsychologe Jörg-Michael Sohn hat das im SZ-Magazin mal so erklärt: „Das menschliche Hirn ist evolutionsbiologisch auf Fußgängertempo programmiert.“

Heißt: Ein Fußgänger, der einen Kilometer Vorsprung vor einem anderen Fußgänger hat, ist dem anderen etwa 15 Minuten voraus. Ein Autofahrer, der 120 km/h fährt, braucht für einen Kilometer 30 Sekunden. Wer schneller fährt, verschafft sich tatsächlich einige Kilometer Vorsprung. Das fühlt sich für unser Fußgänger-Empfinden dann an wie eine halbe Stunde Vorsprung, in Wirklichkeit sind es aber nur ein paar Minuten. Und die sind beim nächsten Tankstopp schon wieder verloren, bevor wir überhaupt bezahlt haben.

Behauptung: Wer langsamer fährt, kommt sicherer an

Einer allein reicht nicht, aber wenn alle langsamer fahren, würden deutsche Autobahnen sicherer werden. Auch hier spielt der Verkehrsfluss eine Rolle. Bei gleichmäßigerem Tempo kommt es zu weniger Störungen und damit seltener zu Unfällen. Hinzu komme banale Physik, so Becker: „Wenn Sie 180 km/h fahren und jemand vor Ihnen auf die Überholspur wechselt, sind Sie so schnell, dass Sie den noch innerhalb der Reaktionszeit ungebremst treffen. Das geht dann übel aus. Wenn Sie 130 km/h fahren, ist Ihr Reaktionsweg viel kürzer und der Geschwindigkeitsunterschied zum anderen Fahrzeug kleiner. Statt eines schweren Unfalls passiert: bestenfalls nichts.“

Die Kölner Diplom-Psychologin Daniela Rechberger, die Verkehrssünder nach dem Verlust des Führerscheins auf die Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) vorbereitet, hält dennoch nichts davon, ein gesetzliches Tempolimit auf deutschen Autobahnen einzuführen. Sie glaubt, dass allein ein Verbot diejenigen, die rasen wollen, nicht vom Rasen abhalten würde. Sinnvoller wären ihrer Ansicht nach mehr Kontrollen und deutlich härtere Strafen für jene, die sich nicht an bestehende Regeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen halten.

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Verkehrspsychologin Daniela Rechberger.

„Bis jemand den Führerschein verliert, weil er nicht angepasst fährt, vergeht viel zu viel Zeit“, sagt sie. Becker sieht das ähnlich und schlägt gar vor: „Wir müssen die Autobahnen anders bauen, nämlich so, dass schon der visuelle Eindruck jedem klarmacht: Tempo 200 ist nicht sinnvoll.“

Behauptung: Wer langsamer fährt, schont die Umwelt

Das wollen viele nicht wahrhaben, aber es stimmt natürlich. Und das bedürfe keiner zusätzlichen wissenschaftlichen Studien, sagt Becker. „Das weiß jeder, der sein Auto regelmäßig betankt.“ Doppelt so hohe Geschwindigkeit bedeute viermal so hoher Energieverbrauch. Auch das, bei aller Emotionalität des Themas: pure Physik. Langsamer fahren macht zudem weniger Krach und verbraucht weniger Platz beim Straßenbau. Becker hofft auf Vernunft in der Bevölkerung. Diese habe schließlich auch eine Herabsetzung der Promillegrenze irgendwann akzeptiert. Er sagt: „Man hat heute nicht mehr das Recht, sich mit zwei Liter Bier abzufüllen, sondern man hat das Recht, auf dem Weg nach Hause nicht totgefahren zu werden. Ich möchte irgendwann auch das Recht haben, dass die Natur auf diesem Planeten halbwegs erhalten bleibt. Dann fahre ich eben 120 oder 130, komme insgesamt wegen des harmonischen Verkehrsflusses auch nicht später an und habe viel Benzingeld gespart.“

Behauptung: Ein Tempolimit gefährdet Arbeitsplätze

Deutschland ist eine Autofahrernation und stolz auf seine Autobauer. Die Autoindustrie schafft Arbeit, und das nicht zu knapp. Stimmt. Und ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen würde das alles gefährden? Weil sich die teuren Autos nicht mehr verkaufen ließen, wenn man eh nicht schnell mit ihnen fahren dürfte? Weil der gute Ruf im Ausland dahin wäre, wenn selbst in Deutschland die freie Fahrt nicht mehr möglich wäre? Vielleicht. Und doch hält Verkehrswissenschaftler Becker das Tempolimit und auch eine Verringerung des Autoverkehrs für unvermeidbar. „Ich will ja gar nicht, dass Mercedes und Porsche Pleite gehen, ich will diese Firmen erhalten. Aber nicht mit Produkten, die den Planeten ruinieren, das geht nicht, die werden irgendwann verboten werden“, sagt er. Zukunftsfähige Geschäftsmodelle müssten sich seiner Ansicht nach viel mehr um den Bau von Fahrrädern, Bussen und Bahnen und die Entwicklung umweltfreundlicher Mobilitätskonzepte drehen: „Wir brauchen Mobilität und nicht schnelle Autos.“

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Behauptung: Ein Tempolimit nimmt uns die letzte Freiheit

Die Zeilen von Neue-Deutsche-Welle-Sänger Markus lassen sich wunderbar mitträllern. „Das macht Spaß, ich geb' Gas, ich geb' Gas. Will nicht sparen, nicht vernünftig sein, tank' nur das gute Super rein.“ Im Auto Gas geben zu können, bedeutet für viele eine Art von Freiheit. „Und wenn man etwas hat, möchte man das nicht weggenommen bekommen“, sagt Verkehrspsychologin Daniela Rechberger. Würde das Tempolimit eingeführt werden, würden sich viele notgedrungen daran halten und ärgern, dass sie ihr schnelles Auto nicht wie gewohnt auch mal ausfahren können. „Und der Rest würde es einfach trotzdem machen.“ Verkehrswissenschaftler Becker glaubt: „Wenn alle merken, dass es nachher besser und sicherer und flüssiger und überhaupt nicht zeitraubender wäre, dass ein Tempolimit weniger CO2 und weniger Kosten und keine Nachteile mit sich brächte, dann würden sich alle fragen: Wieso haben wir das nicht schon früher ausprobiert?“

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