„Ich könnte nicht anders leben”

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Ingrid Andree tritt nach drei Jahren Absenz wieder im Kölner Schauspiel auf.

Ingrid Andree tritt nach drei Jahren Absenz wieder im Kölner Schauspiel auf.

Theater gehört zu ihrem Leben. Aber auch die Familie. Ingrid Andree spricht über sich und die Welt.

Sie hat sogar den Alten Fritz gespielt. Über den Krückstock gebeugt, stand sie auf der Bühne des Kölner Schauspielhauses. Preußische Soldaten zogen an ihr vorbei in die Schlacht und stürzten, tödlich getroffen. Es war, Mitte der 80er Jahre, ein erschütternder Augenblick in einem traumhaften Theaterereignis. Der Amerikaner Robert Wilson hatte gegen Ende der Ära Jürgen Flimm ein wichtiges Teilstück seines Kriegsspektakels „CivilWars“ inszeniert.

Bilder wie dieses fressen sich fest, auch in Schauspielerköpfen. Für Ingrid Andree gehört die Rolle wohl zu den Fixpunkten ihres Theaterlebens, ein magischer Moment wie die erste Begegnung mit Gustaf Gründgens, der sie 1959 engagiert hatte. Zusammen spielten sie „Cäsar und Cleopatra“ von Shaw. „Die Menschen“, so erinnert sich Ingrid Andree, „standen Schlange ums Hamburger Schauspielhaus“. Dann aber wurde sie schwanger, und Gründ¦gens nahm die Aufführung für gut ein Jahr vom Spielplan - nicht nur, bis Tochter Susanne auf der Welt war, sondern auch „bis ich meine alte Figur hatte und wieder ins Kostüm der Cleopatra passte“.

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Damals war die Andree ein Star des deutschen Films. Blutjung, zart, hübsch und lieblich, passte sie vortrefflich ins unterhaltsame Kino und zum Frauenbild der 50er Jahre. Doch längst spricht sie nicht mehr über Filme wie „Primanerinnen“ (1951), „Ewig bleibt die Liebe (1953), „Verlobung am Wolfgangsee“ (1956). Sie nimmt keine Film- oder Fernsehangebote an. „Man muss“, sagt sie beim Blick zurück, „Entscheidungen treffen. Ich kann nicht sechs Wochen hier und sechs Wochen dort sein; ich möchte da sein, wo mein Kind ins Gymnasium geht. Außerdem wollte ich mit Literatur zu tun haben, mit Shakespeare und Tschechow und anderen guten Texten.“

Die Gründe, warum sie so und nicht anders handelt, machen diese Schauspielerin - über viele glänzende Erfolge in ihrem Metier hinaus - besonders interessant. Zwei Leidenschaften begegnen sich in ihr: die Neigung zum Theaterspielen, die für sie „etwas von Süchtigkeit“ hat, und die Begeisterung fürs Familienleben. Damit hat sie, so scheint es, zwei Leitmotive.

Jetzt, vor ihrer Kölner Premiere mit „Die arabische Nacht“ von Roland Schimmelpfennig, gibt sie ohne Umschweife zu, dass sie sich versteckt hat: Nach ihren letzten Kölner Auftritten in Inszenierungen von Generalintendant Günter Krämer spielte sie noch zwei Rollen in Wien. Seit anderthalb Jahren aber hat sie sich in ihre Berliner Wohnung zurückgezogen, um sich der Familie widmen zu können.

Eine Schauspielerfamilie: Susanne Lothar, Ingrid Andrees Tochter aus der Ehe mit dem jung verstorbenen, seinerzeit beliebten und berühmten Schauspieler Hanns Lothar (1929-1967), ist eine sehr selbständige Größe in Theater, Fernsehen, Film. Sie ist verheiratet mit Ulrich Mühe, einem Charakterspieler allererster Güte. Beide, erzählt Ingrid Andree, lehnen mit Rücksicht auf ihre Kinder und ihr Zusammensein, so manches Angebot ab. Gleichwohl ist es gut, wenn das Zentrum der Familie in Berlin besetzt ist. Andree: „Ich darf eigentlich nicht spielen, ich muss da sein.“

Günter Krämer ist es gelungen, sie wegzulocken: „Er hat mich angerufen, schließlich haben wir viele Jahre gut miteinander gearbeitet. Er erzählt »Die arabische Nacht« ganz anders, als es bisher geschehen ist. Es ist ein wunderbares Ensemble, es macht mir Spaß.“

Krämer ist der einzige Regisseur, um den die Andree sich jemals bemüht hat. Das war vor gut zehn Jahren, bevor Krämer von Bremen nach Köln wechselte. Sie hatte seine Inszenierungen von Brechts „Dreigroschenoper“ (in Hamburg) und Barlachs „Der arme Vetter“ (in Bremen) gesehen, „toll“ gefunden und wünschte sich nun auch selbst die Erfahrung der Krämer-Regie. Doch wie nähert man sich einem fremden, wenn auch geschätzten Regisseur? Susanne Lothar hat es dann gerichtet. Das Gespräch bei Kaffee und Kuchen in Hamburg hat viele Rollen in Köln zur Folge gehabt, nicht zuletzt schwebend-feines Neues von Friederike Roth, Brechts „Guter Mensch von Sezuan“ oder in Heiner Müllers Fassung von Shakespeares „Titus Andronicus“ jene Prinzessin, der in einer grausamen Szene die Hände abgehackt werden.

Aber warum kniet eine souverän wirkende Frau wie Ingrid Andree sich mit derart verzehrender Inbrunst in solch ein zerstörtes Wesen hinein? Die Antwort klingt einfach: „Das ist interessanter, als die schöne Gesellschaftsdame zu spielen, die gut zu plaudern weiß.“

Schock, Schaudern, Blick in den Abgrund. Dies sind vielleicht die Momente, in denen Schauspielerei und Leben einander am nächsten kommen. Ingrid Andree hat sich niemals als politische Theaterfrau empfunden, es wäre ihr eher „fragwürdig - die meisten 68er haben das schnell vergessen“. Doch auf die Frage, ob historische Einschnitte wie der 11. September auf sie oder ihre Arbeit verändernd wirken, antwortet sie mit tiefer Grundsätzlichkeit: „Ich finde das komplizierter. Ich denke darüber nach, dass, während wir miteinander sprechen, jede Sekunde ein Kind stirbt. Es gibt so viele Kriege. Millionen verhungern. Es ist nicht nur Afghanistan, es ist auch Afrika, es sind die Aids-Opfer und die Aids-Waisen. Was sind dagegen unsere Ärgernisse? Es ist nicht nur der 11. September, es ist das, was Schreckliches auf der ganzen Welt passiert. Ich glaube auch, dass wir gar nichts ändern können. Da traue ich auch den Politikern nicht. Warum wurden so viele Waffen verkauft? Und die Not der verhungernden Kinder - Sie merken, ich kann kaum weitersprechen.“

Sätze wie diese, spürbar gesprochen aus der Empörung über die Welt, in der wir leben, lassen ahnen, wie schwer es ist, dieses Leben, diese Welt in Einklang zu bringen mit der Schauspielerei. Der frühe Abschied vom Trallala der Unterhaltung, die Entscheidung für die Literatur, die Aufmerksamkeit für die Erziehung der Tochter („fünf Jahre lang habe ich damals überhaupt nicht gespielt“). Weil sie den Schauspielerberuf so schwer und familienfeindlich findet, wollte Ingrid Andree nicht, dass die Tochter Schauspielerin wird, und versuchte, sie vom Theater fern zu halten. Der Erfolg: „Suse“ bewarb sich mit 17 an der Hamburger Hochschule für Darstellende Kunst und bestand grandios.

Neugierde als Triebfeder

Über sich selbst gesteht Ingrid Andree allerdings: „Ich könnte nicht anders leben.“ Die „schwierigen und schönen Rollen“, die ihr von Anbeginn ihrer Karriere zuteil wurden, sind für sie existenzielle Herausforderung, auch deshalb, weil sie jede Routine ablehnt: „Man lebt mit einer solchen Figur Tag und Nacht.“ Immer noch entdeckt sie Unbekanntes in sich selbst: „Die Neugierde ist die große Triebfeder, die Neugier auf Stücke, auf Schauspielerkollegen, auf spontane Reaktionen, auf Regisseure, die wiederum mit ihrer Neugier auf mich dies alles hervor holen. Ich habe ja das Glück gehabt, mit vielen großen Regisseuren zu arbeiten: Gründ¦gens, Noelte und Kortner, Schweikart, Zadek und Giesing, Flimm, Wilson und Krämer.“

Bei Jürgen Flimm, in dessen Kölner Jahren sie zum Ruf des Schauspiels viel beigetragen hat, spielte sie auch den Narren in Shakespeares „König Lear“, einen wachen Kommentator der immer tiefer in Verzweiflung führenden Geschichte. Flimm baute die Rolle für sie aus. Wilson, der Fanatiker der Präzision, brauchte schier unendlich lange, um sie in der Szene des Alten Fritz auszuleuchten. Langsam entwich das Licht. Am Ende fiel es nur noch auf den Krückstock. Drei Probentage stand Ingrid Andree, über den Krückstock gebeugt. So unerbittlich kann Theaterarbeit sein.

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