Apnoe-TauchenStärker als der Atemreflex

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Apnoe-Taucher Christian Redl bei einem Tauchtripp im Roten Meer. (Bild: Frank Schneider)

Apnoe-Taucher Christian Redl bei einem Tauchtripp im Roten Meer. (Bild: Frank Schneider)

Sauerstoff ist jetzt das Wichtigste, alles andere kann warten. Christian Redl atmet, atmet, atmet, er pumpt sich die Lungen so voll es nur geht. Dann, obwohl er der Bewusstlosigkeit nur knapp entgangen und noch grün im Gesicht ist, lächelt er und reckt seine rechte Faust in die kalte Winterluft. Es ist ein erleichtertes, ein stolzes, ein Siegerlächeln. Geschafft. Christian Redl hat sich an diesem bewölkten Februartag einen Traum erfüllt, den kaum ein Mensch mit ihm teilt: er legte eine Strecke von 100 Metern zurück, unter Wasser, unter Eis. Der Österreicher verschwand in einem in den zugefrorenen Kärntener Weißensee gesägten Loch und tauchte 100 Meter weiter aus einem anderen wieder auf. Einfach nur, um sich und der Welt zu beweisen, dass das geht.

Es ist nicht das erste Mal, dass der 33-Jährige zeigt, wozu der Mensch unter Wasser fähig ist. Redl ist Freitaucher und Weltrekordjäger. Dabei hat er es nicht auf die klassischen Bestmarken seiner Disziplin abgesehen, sondern auf neue, spektakulärere. Die 100-Meter-Distanz ist seit 2003 sein dritter Strecken-Weltrekord unter Eis. Mit seinem Freund und Trainingspartner Jaromir Foukal erfand er das Eishockeyspiel im gefrorenen See, auf der im üblichen Sinne falschen Seite der Eisfläche. Er tauchte in mexikanischen Höhlen, 101 Meter weit - ohne dass es unterwegs eine Möglichkeit gab, aufzutauchen - und 71 Meter tief. „Ich will schaffen, was noch keiner geschafft hat“, sagt Redl. Im Guinnessbuch der Rekorde stehen. Bewundert und bestaunt werden. Ein Held sein.

Redl atmet, um zu leben, wie jeder Mensch. Aber er liebt es, nicht zu atmen, sich frei zu fühlen in einer für den Menschen fremden Welt. Unter Wasser, in absoluter Stille. Deshalb taucht er ohne Sauerstoffflasche auf dem Rücken, mit angehaltenem Atem. Apnoe- oder Freitauchen ist inzwischen nicht mehr nur Redls Passion, sondern auch sein Beruf. Andere können weiter und tiefer tauchen als er, sie führen die Bestenlisten des Freitaucher-Verbandes Aida an. Aber Geld lasse sich damit nicht verdienen, sagt Redl.

Atemreflex unterdrücken

Trotzdem: Ob er auch diese Rekorde brechen könnte? 250 Meter Streckentauchen mit Flossen im Pool zum Beispiel oder 214 Meter im Tieftauchen mit variablem Gewicht? „Ich könnte schon“, sagt Redl, „aber ich sehe keinen Sinn darin“. Weil dabei niemand zuguckt, keine Kamera die Bilder einfängt, kein Sponsor bezahlt. „Die anderen Freitaucher sind mehr Sportler, ich bin mehr Marketingmaschine“, sagt der Wiener. Als er 17 Jahre alt war, begeisterte ihn der Film „Im Rausch der Tiefe“. Die tragischen Helden des Tauchdramas empfand er als „coole Typen“. So einer wollte er auch sein. Christian Redl braucht weniger Luft als andere, dafür aber mehr Aufmerksamkeit.

Bevor er zu seinem Weltrekordversuch am Weißensee im Eisloch abtaucht, folgt Redl einem Ritual. Mental geht er den perfekten Tauchgang durch. „90 Prozent des Erfolgs hängen von meiner mentalen Leistung ab“, sagt er. Daran, dass er bei 100 Metern von einem seiner sechs Sicherungstaucher bewusstlos aus dem Wasser gezogen werden könnte, denkt er nicht. Er weiß ja, wie das ist, dreimal ist es ihm bei seinen Projekten schon passiert. Im einen Moment tauchte er noch, im nächsten lag er draußen, über ihm der Arzt, der ihm eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht presste. 100 Meter zu tauchen, ist im Prinzip kein Problem für Redl. Wird der Flossenschlag jedoch zu hektisch, weil es kalt ist, dunkel und unheimlich, steigt der Puls zu stark an und der Körper verlangt schneller wieder Sauerstoff. Das ist das Problem des Eistauchens, daran scheitern häufig auch die, die im Pool viel weiter kommen.

Redl hat trainiert, cool zu bleiben und seinen Atemreflex zu unterdrücken. Entspannungs- und Atemtechniken, etwa aus dem Yoga, helfen dabei. „Aber es kann passieren, dass der Körper sagt: Okay, du gibst mir keinen Sauerstoff, also muss ich dich vor dir selber schützen und setze dich auf Notstrom.“ Redl schnippt mit den Fingern, um zu zeigen, wie plötzlich die Bewusstlosigkeit dann kommt. Sie verhindert, dass seine Muskeln weiter den kaum noch vorhandenen Sauerstoff verbrauchen. Das, was noch da ist, ist ab jetzt für das Gehirn reserviert. Deshalb sollte ein Freitaucher sich niemals allein unter Wasser begeben. Im Notfall müssen Sicherungstaucher oder ein Kollege bereit sein, den Bewusstlosen so schnell wie möglich an die Wasseroberfläche zu holen. Dort kommt er dann in der Regel relativ schnell wieder zu sich. Gefährlicher sind die extremen Tieftauch-Versuche, dabei passieren häufig schwere bis tödliche Unfälle.

Als Sechsjähriger bekam Redl von seinem Onkel, einem Hobbytaucher, eine ABC-Ausrüstung geschenkt: Taucherbrille, Schnorchel, Flossen. Der Junge fühlte sich von Anfang an im Wasser zu Hause. Manchmal besuchte er seinen mit Sauerstoffflasche tauchenden Onkel in zehn bis 15 Metern Tiefe. Ohne Luft. Einfach so. Als Zehnjähriger begann er mit dem Gerätetauchen und vergaß darüber beinahe sein eigentliches Talent, das Tauchen ohne Luft. Doch nachdem er „Im Rausch der Tiefe“ gesehen hatte, erinnerte er sich seiner Leidenschaft aus Kindertagen und ließ sich von Könnern ausbilden.

25 Pulsschläge

Am Weißensee sitzt Christian Redl auf der Eiskannte, atmet, schlägt seine rechte Faust in die flache linke Hand, atmet, streift sich die Flossen über, taucht die Beine ins Wasser, atmet, gleitet in das eisige Nass. Eine Weile bleibt er noch oben, atmet, beruhigt seinen Puls, er kann ihn bis auf 25 Schläge pro Minute drosseln, atmet, atmet, atmet. Dann ist er weg. Atmet nicht mehr.

Die Rekordjagd in den klassischen Disziplinen nennt Redl: „Null Challenge, null Abenteuer, null Geschichte.“ Und vor allem: „Null vermarktbar.“ Doch er entdeckte im Guinnessbuch der Rekorde die Bestmarke des Italieners Nicola Brischigiaro, der 1998 unter Eis 85 Meter weit getaucht war. Redl schaffte 2003 90 Meter. Seine Jagd auf skurrile Rekorde war eröffnet. Bis vor drei Jahren arbeitete er noch als Aktienhändler. Heute lebt Redl von Sponsoren, Freitauchkursen, Mentalcoachings, Atemtechnikseminaren.

Am Weißensee erschließt sich dem Laien die Leidenschaft des Österreichers kaum. Tauchen unter einer 27 Zentimeter dicken Eisschicht, um sich frei zu fühlen? Doch die Rekorde im kalten Wasser, immer an der Grenze zur Bewusstlosigkeit, ermöglichen Christian Redl die wahre Freude an seinem Sport: Ägypten zum Beispiel, das Rote Meer klar und blau, angenehme Luft- und Wassertemperaturen - und Redl macht vor, was er mit Freiheit meint. Er gleitet an Korallenriffen entlang, durch Fischschwärme hindurch, schwimmt in für ihn moderaten 17 Metern Tiefe Seite an Seite mit einer Schildkröte. Ohne klobige Sauerstoffflasche, ohne blubbernde Blasen, die sein Menschsein verraten. Lautlos, schwerelos, fast so, als gehörte er hier hin.

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