Böll-AusgabeKraftakt mit Schwachstellen

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Ganz in Rot: Heinrich Bölls Werke liegen in 27 Bänden vor. (Bild: dpa)

Ganz in Rot: Heinrich Bölls Werke liegen in 27 Bänden vor. (Bild: dpa)

Ist wirklich mit dem Ende alles gut? Die Wendung, die das nahelegt, ist schon von ihrer Herkunft her verdächtig: Es ist der Titel eines Stücks von Shakespeare mit höchst bizarren komödiantischen Verwicklungen. Zweifel an dem schlichten Motto sind entsprechend wohlbegründet. Erst recht im vorliegenden Fall mit seinem Vorlauf langen Ärgers. Da wurde eine Wuppertaler Forschungsstelle eingerichtet, um eine gesicherte, verantwortbare Ausgabe der Werke Heinrich Bölls zu leisten, und dann überwarfen sich die Erben Bölls und ihre Parteigänger mit ihrem akademischen Widerpart in Wuppertal, Professor Werner Bellmann. Sie versicherten sich anderer Gelehrter und machten ohne ihn weiter. Was da an Versehrungen und Kränkungen die Seiten wechselte, kann niemand ungeschehen machen.

Als dann das Kölner Stadtarchiv mitsamt dem Nachlass Heinrich Bölls am Waidmarkt in der Grube lag, war die Ausgabe so gut wie abgeschlossen. Ja, mehr noch, was für die aktuelle Arbeit an Dokumenten ausgesondert war, ist durch die seltene Koinzidenz von Edition und Einsturz absichtslos gerettet. Nun ist das Ziel der Anstrengungen fristgerecht erreicht, die Werkausgabe abgeschlossen. Heinrich Bölls Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch hat den größten Kraftakt seiner Verlagsgeschichte termingerecht gestemmt: Neun Jahre dauerte das Erscheinen der 27 kommentierten Bände, das mit zwei Interviewbänden und dem Gesamtregister jetzt zu Ende geht. Die Ausgabe wird morgen in einer Festveranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vorgestellt.

Professor Ralf Schnell, der Sprecher des internationalen Herausgebergremiums, weiß als Fachmann, wie viele solcher „Langfristvorhaben“ schon mitten im Fluss gescheitert sind. „Böll in seiner Entwicklung, bis hin zu der Figur, die er geworden ist“, sagt Schnell, sei noch nie so detailliert erkennbar gewesen wie jetzt, mit den Texten von 1936 bis 1985. In der Tat: Fülle wie Breite der Sujets Heinrich Bölls stehen in der Nachkriegsliteratur einzigartig dar. Sie blieben schon jetzt, 25 Jahre nach dem Tod des Autors, ohne ausführliche Kommentare häufig unklar und dunkel. Und wenn die Romane und Erzählungen als Fiktionen ihre Welt erst selber schaffen, so wurzeln sie doch auch in einer Wirklichkeit, die lange schon vergangen ist.

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Was etwa heißt „Blumen ohne!“ in der Erzählung „Mein Onkel Fred“ von 1952, einer Self-Made-Man-Geschichte aus der Zeit des Wiederaufbaus? Ohne Blüten, ohne Papier, ohne Bezugsschein? Hier muss man leider sagen: Ohne Kommentar. Und wer sind „Malenkow, Bulganin und Serow“? Im „Irischen Tagebuch“ werden alle drei aus Anlass einer Zeitungslektüre erwähnt. Die beiden Nachfolger Stalins, so der Stellenkommentar, träten hier mitsamt dem (tatsächlich jahrelang schon toten) Dichter „Surow“ auf. Nur: warum Surow, wenn es doch auch einen Serow gibt: Iwan A. Serow (1905-1990), „den Metzger“ im Urteil der britischen Presse, damals Chef des KGB?

Die Frage stellt im Aprilheft der Fachzeitschrift „Wirkendes Wort“ kein anderer als Werner Bellmann, der einstmals Wuppertaler Germanist, nunmehr im Ruhestand, wenn auch nicht untätig. Er weist nach, dass im selben Text Türstürze zu „Türstütze(n)“ geworden sind, bemängelt einen insgesamt „entstellten Text“ und endet mit dem Fazit: „Diese Edition ist nicht zitierfähig.“

Vernichtendes Urteil

„Edition“, so Bellmann, „ist ein Handwerk, das gelernt sein will.“ Er selber hat es gar zur Meisterschaft gebracht. Aus keinem anderen Grund war er, der sich an Brentano und Hugo von Hofmannsthal bewiesen hatte, einst auch vorgesehen als Herausgeber. In vier fachwissenschaftlichen Publikationen hat sich Bellmann inzwischen mit der Kölner Böll-Ausgabe befasst und kommt zu einem vernichtenden Urteil: Die Kölner Ausgabe sei „von hinten bis vorne unprofessionell“. Bereits beim „allerersten Schritt“, der Suche nach der besten Textgrundlage, habe man Fehler gemacht: „Der Handschriftennachlass ist nicht gesichtet worden, der Briefwechsel ebensowenig.“ Mitunter, wie bei „Und sagte kein einziges Wort“, seien gar zwei Drucke, die von 1952 und 1963, schlicht verwechselt worden.

Wo man auf die Typoskripte aus Bölls berühmter Schreibmaschine zugegriffen habe, von denen „Katharina-Blum“-Verfilmer Volker Schlöndorff überliefert hat, dass „die Buchstaben chaotisch herumtanzten“, seien typische Tippfehler des Zwei-Finger-Dilettanten Böll nicht sachgerecht berichtigt worden. So steht nun in Band 4 tatsächlich „eine verdammte dünne Gegend“, wo Böll in konsequenter Kleinschreibung tatsächlich mit zwei unterschiedlich schnellen Fingerspitzen „dünnegegend“ getippt hat und „eine verdammte Dünengegend“ gemeint hat. Rund 50 Fehler, so Bellmann, habe er in „Wo warst du, Adam?“ ermittelt, die gleiche Größenordnung gelte für „Und sagte kein einziges Wort“.

Noch schlimmer sei es mit den Texten, die nur als Handschrift überliefert seien. Wer Bölls kleine verschliffene Schrift einmal gesehen hat, wird dem mit Nachdruck beipflichten. Für J. H. Reid, der eins der besten Bücher über Böll geschrieben hat und als Engländer mit einer völlig anderen Schrift aufgewachsen ist, dürften die Manuskripte des Studenten Böll vollends zum Alptraum geworden sein: Er liest (und gibt in Druck) „sobald ich die Form ausgemacht hatte“, wo es nach Bellmann (und der Handschrift) heißen müsste: „Sobald ich die Feder eingetaucht hatte“. Und zu einem Kaffeeklatsch im Hause des Erzählers soll tatsächlich „die ganze scheußliche Bande von Ober-, Unterinspektoren, Weinhändlern und Regimentern“ angetreten sein? Nicht eher die von „Weinhändlern und Regierungsräten“, wie Bellmann entziffert hat? „Das hat Heinrich Böll nicht verdient!“, so lautet Bellmanns Fazit.

Ralf Schnell, der selbstverständlich auch das „Wirkende Wort“ abonniert hat, spielt nichts herunter. „Die sachlichen Einwände“, sagt er, auf die Fehler angesprochen, „müssen, wo sie berechtigt sind, berücksichtigt werden“. Eigens für sie wird es im Registerband der Edition eine Errata-Liste geben, „nicht sehr umfangreich, auch nicht substantiell bedeutend“. Nicht nur Bellmanns Fehler-Blütenlese wird sich darin wiederfinden, auch eigene Entdeckungen. Doch da Bellmann vorderhand nur weniger als vier von 27 Bänden durchgemustert hat, dürften weitere Entdeckungen nur eine Frage der Zeit sein. So könnte Bölls poetisches Prinzip der „Fortschreibung“ letztlich auch auf seine Werkausgabe übertragen werden. Genauer: Werden müssen.

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