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ErlebnisberichtEin Kölner überlebt das Titanic-Unglück

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Köln – Das ist der Stoff, von dem Abenteuer-Serien vergangener Epochen lebten: Ein junger Mann aus guter Familie wird nach Amerika geschickt, weil er eine der Hausangestellten geschwängert hat. Froh, dem konservativen Köln entkommen zu sein, gibt Alfred Nourney auf der Titanic den Globetrotter. Der gerade mal 20 Jahre alte Student behauptet gar, Baron Alfred von Drachstedt zu sein, als er am 10. April 1912 im französischen Cherbourg das Schiff betritt. Sein Ticket für die zweite Klasse lässt er beim Zahlmeister sofort aufbuchen auf die erste – zum Aufpreis von 28 Pfund. Nourney glaubt sich an Bord des Luxus-Dampfers in bester Gesellschaft.

Nourney ist kein Gentleman

Schon am zweiten Tag schickt er vom letzten Stopp in Irland vor der Überfahrt nach New York eine Karte an seine Mutter, Adele Wolff in Köln: „Liebe Mutter. Ich bin so glücklich auf meiner ersten Klasse. Ich kenne schon sehr nette Leute! Einen Brillantenkönig! Mister Astor einer der reichsten Amerikaner ist an Bord! Tausend Küsse, Alfred.“ Zweimal telegrafiert er, einmal einen „drahtlosen Gruß“ an die Mama, einmal einen „drahtlosen Kuss in Liebe“ an eine Freundin.

Alfred Nourney spielt in der Nacht des Untergangs im Rauchsalon mit dem Juwelier Henry Blank aus New Jersey und dem Kürschner William B. Greenfield aus New York Karten. Als ein sanftes Kratzen das Schiff durchfährt, geht das Trio neugierig an Deck und bekommt um 0.45 Uhr, 65 Minuten nach der Kollision mit dem Eisberg, einen Platz im ersten Rettungsboot mit der Nummer 7. Die Mutter von Greenfield gehört zu den 16 Frauen, die sich in das Boot wagen. Von den 65 Plätzen sind insgesamt nur 28 belegt. Die in einigen Büchern ausgebreitete Episode, nach der sich der Kölner mit einer Pistole den Platz erzwungen habe, gehört wohl zu den vielen Legenden, die nach dem Untergang um die Welt gingen. So auch die, dass Blank sich in Frauenkleidern den Zugang zum Rettungsboot erschlichen habe.

An Bord des Dampfers Carpathia, deren Besatzung sich rührend um die Überlebenden kümmert, demonstriert Nourney, dass er nicht der Gentleman ist, als der er sich seinen Mitspielern vorgestellt hatte. Er nimmt einen Stapel Decken in Beschlag, die unter den Frierenden verteilt werden sollen. Ein paar couragierte Frauen vertreiben ihn. Als Nourney am 23. April von der „New York Times“ nach seinen Verlusten befragt wird, gibt er an: zehn Anzüge, davon zwei Abendanzüge, zwei Jagdanzüge, vier Mäntel, 40 Oberhemden, 15 Schlafanzüge, 14 Paar Schuhe, 10 Sets von Unterwäsche, 40 Kragen, zehn Paar Handschuhe, 120 Krawatten, 50 Taschentücher.

„Er war ja so jung“

Dazu kommen noch ein Diamantring, mit Rubinen und Diamanten besetzte Manschettenknöpfe, zwei silberne Zigarettenetuis und eine silberne Haarbürste. Die ganze Ausstattung soll 23020 Dollar und 50 Cent wert gewesen sein, die Nourney von der White Star Schifffahrtsgesellschaft einfordert. Der Mann, der in den USA mit großer Geste den falschen Adelstitel ablegte, soll angeblich ein professioneller Glücksspieler gewesen sein.

Seine älteste Tochter, Edith Dahmen, lacht. „Wenn wir mit unserem Vater Skat gespielt haben, haben wir ihn immer nass gemacht.“ Natürlich weiß sie nichts über ihren Vater anno 1912. Er war 48 Jahre alt, als sie geboren wurde. „Er war ja so jung“, sagt sie über den mutmaßlichen Filou, und sie meint es nicht als Entschuldigung, sondern als Feststellung. Sie stammt aus der zweiten Ehe, kennt nur vom Hörensagen die Zeit, als ihr Vater nach der Rückkehr aus den USA einige Jahre in Frankreich und Spanien lebte. Um ihre Mutter, ein zierliches Persönchen von 1,56 Metern muss der Fast-Zwei-Meter-Mann lange geworben haben. „Er hat nichts Richtiges gelernt, vieles gemacht“, erzählt die Tochter, aber er habe als Autovertreter für Mercedes die Familie in Bad Honnef gut ernähren können. 1972 ist er im Alter von 80 Jahren gestorben.

Die Schreie der Ertrinkenden

Heute bedauert Edith Dahmen, dass sie ihn niemals nach seinen Erlebnissen auf der Titanic gefragt hat. Sie erinnert sich an seine Interviews mit diversen Rundfunk- und Fernsehanstalten in den 60er Jahren. Seine Aussagen unterscheiden sich kaum von denen anderer Überlebender, deren Befragungen vor Untersuchungsausschüssen in den USA und Großbritannien protokolliert wurden.

Alfred Nourney, der die Laute der Ertrinkenden als unvergessliche Sirene beschrieben hat, war einer der fünf Deutschen an Bord – so das Titanic Informations Center Deutschland. Vier von ihnen waren Passagiere, der fünfte, Alfred Theissinger, 43, arbeitete als Steward an Bord. Nach seiner Rettung gab er den Beruf auf. Dem aus Hessen stammenden Bäcker August Meyer, 31, der von einem Leben in New York träumte, haben die Verwandten daheim ein Denkmal gesetzt: „Es haben die schäumenden Wogen/ den liebenden Bruder gezogen/ hinab in die schaurige Flut.“

Auch der Leichnam des Paters Joseph Peruschitz ist nie geborgen worden. Ein oberbayerisches Kloster hatte den 41-Jährigen nach Minnesota geschickt, wo er die Leitung eines Benediktiner-Gymnasiums übernehmen sollte. Nach Aussagen von Überlebenden berichtete das katholische Wochenblatt „America“ im Mai 1912 über ihn: „Er hätte in einem Rettungsboot Platz finden können, doch er lehnte ab. Er half allen, die in die Boote kletterten. Er tröstete und segnete die Passagiere, bis das Schiff in den Wellen verschwand.“ Das Amtsblatt von Pfaffenhofen, das sich auf die Irin Agnes Mac Coy und ihre Schwester beruft, bezeichnet sein Ende als Heldentod. (quo)

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