Experten-Interview„Sexsüchtige ruinieren ihr Leben“

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Sexualforscher Volkmar Sigusch sagt: „Bedürfnisse werden heute nicht maßvoll reflektiert begrenzt, sondern maß- und kunstlos befriedigt.“ (Bild: dpa)

Sexualforscher Volkmar Sigusch sagt: „Bedürfnisse werden heute nicht maßvoll reflektiert begrenzt, sondern maß- und kunstlos befriedigt.“ (Bild: dpa)

Herr Professor Sigusch, seit Stars wie Tiger Woods und Michael Douglas sich öffentlich dazu bekannt haben, gilt Sexsucht als schicke Gesellschaftskrankheit. Es gibt Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige, Foren und Psychiater, die sich auf das Thema spezialisiert haben. Gibt es das Phänomen wirklich oder ist Sexsucht, wie Ihr Kollege Kurt Starke kürzlich in einem Interview gesagt hat, lediglich ein „inflationär gebrauchtes Modewort“?

PROF. VOLKMAR SIGUSCH Sexualsucht ist für mich keineswegs wie zum Beispiel Burnout ein Modewort. Seit 45 Jahren bin ich mit diesem gravierenden Problem befasst. Es gehört zu den schlimmsten auf dem sexuellen Gebiet. Menschen, die sexualsüchtig sind, verlieren jeden Halt, können keiner geregelten Arbeit nachgehen, ruinieren sich auf allen Ebenen, von der Familie bis hin zum Geld. Eine Behandlung durch erfahrene Sexualtherapeuten ist absolut indiziert.

Süchte, haben Sie einmal formuliert, greifen immer stärker um sich, seit das Internet die sexuellen Möglichkeiten vervielfacht hat.

SIGUSCH Das muss differenziert werden. Ich dachte wahrscheinlich daran, dass nach meiner klinischen Erfahrung Patienten, die einer sehr seltenen Vorliebe frönen, durch das Internet Gleichgepolte in entfernten Ländern finden und dadurch sich in ihrem Verlangen bestätigt fühlen, was früher nicht möglich war.

Lust oder Frust, Befreiung, Hemmung oder Banalisierung – was verschafft das Internet uns denn vor allem? Müssen sich Wunsch und Wollust nicht fast zwangsläufig weiter voneinander entfernen, wenn wir regelmäßig Pornos gucken?

SIGUSCH Auch das muss differenziert werden. Generell gesprochen, finden sich beide Tendenzen, einerseits Frustrierung und Banalisierung, andererseits freier Zugang zu lustspendenden Darstellungen. Für einen Menschen, der meint, seine Vorliebe sei so abartig, dass nur er sie habe, kann das Wissen durch das Internet beruhigend und entlastend sein. Für einen dagegen, der keine Befriedigung erreicht, kann das Netz zum Teufelskreis werden.

Viele Jugendliche sagen, dass sie mit der Internetplattform „Youporn“ aufgeklärt worden sind, Sex im Internet aber nicht ernst nehmen.

SIGUSCH Da die neuen Technologien verbreiteter und aufdringlicher sind als die alten es waren, werden bereits Kinder pornografisch bedrängt, bevor sie überhaupt ein Interesse an solchen „blöden“ Dingen entfaltet haben. Schließlich genügt es, den 18-Jahre-Button anzuklicken, um an Pornografie zu gelangen. Und wer das nicht selbst tut, den beliefern Freunde mittels neuer Medien. 2010 wurden die heutigen Jugendlichen öffentlich mehrfach von Moralaposteln als „Generation Porno“ kritisiert, ja sie behaupteten sogar eine dramatische sexuelle Verwahrlosung der heutigen Jugend. Ihre Beispiele waren neunjährige Kinder, die im Beisein ihrer Eltern Pornos anschauen, oder ein Vater, der im Beisein seiner Kinder vor dem Fernseher masturbiert. Das ist sehr, sehr traurig. Die These von der generellen Verwahrlosung der heutigen Jugend aber widerlegen alle Ergebnisse seriöser sexualwissenschaftlicher Untersuchungen. Nach den neuesten Studien der Hamburger Forscher um Silja Matthiesen gehen Jugendliche erstaunlich gelassen und reflektiert mit Pornografie um. Mädchen interessieren sich sehr selten persönlich dafür, wollen aber mitreden können und schauen sich das zum Beispiel bei Freundinnen an. Die meisten Jungen dagegen beginnen zur Zeit der Pubertät mit dem Konsum. Im Alter von 16 bis 19 Jahren sucht dann etwa die Hälfte dieser Altersgruppen einmal pro Woche oder häufiger pornografische Darstellungen im Netz auf. Während die jungen Männer es ganz überwiegend tun, um sich zu erregen, tun es die jungen Frauen, wenn überhaupt, ganz überwiegend aus Neugier.

Wie sehr aber beeinflusst dieser Konsum das Bild von der „richtigen“ Sexualität?

SIGUSCH Je älter die Heranwachsenden sind, desto überzeugter sind sie, dass in den Pornos nicht die Sexualität wiedergegeben wird, die im normalen Leben wirklich ist. Außerdem konnten die Forscher nicht feststellen, dass der Konsum von Pornografie das gewissermaßen bereits angelegte Sexualverhaltensmuster der Konsumenten verändert hat. Die Konsumenten entscheiden, was sie verlässlich erregt, nicht die Pornografie. Und diese Entscheidung ist in ihren Grundzügen in der Regel bereits vor dem ersten Konsum von Sexografie festgelegt.

Und wie gehen Paare mit dem pornografischen Angebot um?

SIGUSCH Paare sehen sich selten einen Film zusammen an und wenn doch, dann auf Initiative des Mannes. Der Verlauf ist dann oft: Er erregt sich, sie aber ist genervt und wird immer müder. Der Matthiesen-Studie zufolge ist der Pornografiekonsum schichtübergreifend, aber konzentriert in der Mittelschicht. Von den Gymnasiasten berichteten beinahe 50 Prozent, von den Berufsschülern aber nur gut 20 Prozent eine besonders hohe Pornografienutzung. Es scheint also ein Fehlschluss zu sein, den Konsum vor allem in der Unterschicht zu vermuten.

Sie sehen keine Probleme?

SIGUSCH Selbstverständlich können pornografische Materialien und unerwartete sexuelle Szenen, beispielsweise beim Chatten, negative Auswirkungen haben, wenn Heranwachsende in deletären Familien- und Freundschaftsverhältnissen unumsorgt und unvorbereitet außerstande sind, die Konfrontation mit Hilfe von Altersgenossen oder Erwachsenen als das einzuordnen, was sie ist: ein unerwünschter, unanständiger und unpassender Übergriff. Übrigens fällt mir zur Beruhigung noch ein, dass die Häufigkeit der Selbstbefriedigung trotz der leichten Verfügbarkeit sexuell erregender Vorlagen dank Internet bei jungen Männer nicht zugenommen hat. Auf süchtiges Verhalten sind die Jugendforscherinnen und -forscher auch nicht gestoßen. Eindrucksvoll ist schließlich, wie klar die Jugendlichen zwischen realer und virtueller sexueller Welt unterscheiden können, und weil das so ist, distanzieren sie sich auch von dem sexistischen Frauenbild, das die Pornos verbreiten, und von allem Sexuellen, das ihnen persönlich fremd ist. Soviel zum Medien-Hype „Generation Porno“.

Nun gibt es heute junge Menschen, die sich dazu bekennen, kein sexuelles Verlangen zu spüren. Ist das auch eine Reaktion auf die sexuelle Übersättigung?

SIGUSCH Über diese Frage freue ich mich, weil sie mir Gelegenheit gibt, daran zu erinnern, dass das sexuelle Zeitalter, in dem wir leben, erst vor zwei bis drei Jahrhunderten begonnen hat, und zwar nur bei uns. Es kann also auch wieder verschwinden. Und die Asexuellen, die, die keine sexuellen Beziehungen wünschen oder keine sexuellen Empfindungen haben, sind möglicherweise der Beginn einer Entwicklung, durch die andere Begierden oder Vermögen oder Sehnsüchte ins Zentrum des kulturellen und individuellen Lebens gestellt werden. Denken Sie nur daran, dass wir keine Ars erotica entwickelt haben, dass wir in einer Kulturbeutel-Kultur leben, dass wir an einem gravierenden Mangel an Übermateriellem leiden, an Transzendenz und Spiritualität. Ich denke aber auch, die Asexuellen können sich heute zu erkennen geben ohne Hohn und Mitleid, weil die von mir beschriebene neosexuelle Revolution seit den 80er Jahren die Heterosexualität und die Ehe als Norm und Modell entmachtet hat, diverse andersartige Sexual- und Geschlechtsformen entpathologisierte oder überhaupt zum ersten Mal öffentlich sichtbar machte.

Heißt das, feste, monogame Beziehungen haben ihre Bedeutung verloren?

SIGUSCH Nein, das heißt es nicht. Im Zentrum steht aber heute nicht mehr die Ehe, sondern eine feste Beziehung. Die aber kann sehr unterschiedlich strukturiert sein: mit Trauschein und ohne, mit eigenen Kindern und ohne Kinder, mit Kindern aus anderen Beziehungen. Außerdem kann sie durch eine weitere feste Beziehung heute ziemlich selbstverständlich abgelöst werden. Übrigens haben gerade die US-amerikanischen Forscher Kelly Musick und Larry Bumpass an einer sehr großen Stichprobe über Jahre nachgewiesen, dass Paare glücklicher und gesünder sind als Singles und vor allem: dass Paare in „wilder Ehe“ glücklicher und gesünder sind als offiziell verheiratete Paare. Fehlte der Trauschein, fühlten sich die Männer und Frauen in ihrer Persönlichkeit gestärkter, selbstbestimmter und flexibler.

Was fehlt uns noch? Was sollten wir lernen?

SIGUSCH Uns fehlt eine marktferne Kultur des Erotischen. Und dann natürlich gegenseitiges Vertrauen zum Sichfallenlassen, Herzenswärme, Selbstlosigkeit, ein Schuss integrierte Aggressivität, ein Schuss Spiritualität, natürlich Wissen. Einiges davon können wir uns unter günstigen Bedingungen erarbeiten.Welche neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es?Sigusch Ein empirisches Ergebnis der Hamburger Kolleginnen und Kollegen, das auch mich beeindruckt hat, ist, dass sich rund 95 Prozent aller Sexualakte in festen Beziehungen abspielen, während die Singles, die 25 Prozent der Stichprobe ausmachen, es nur auf fünf Prozent des Gesamtaufkommens bringen. Außerkontakte liegen bei einem Prozent. Wir müssen also sehr unterscheiden, ob wir von Tatsachen sprechen oder von etwas diskursiv Fantasiertem. Die auf Dauer angelegte Beziehung ist nach wie vor die tonangebende Liebes- und Sexualform.

Wagen Sie eine Zukunftsprognose?

SIGUSCH Seit zwei Jahrhunderten geht es bei uns vorrangig um das materielle und manifeste Befriedigen von Gier und Neugier. Leibhafte Bedürfnisse werden nicht wie in der europäischen Antike und im alten China maßvoll reflektiert begrenzt oder gar wie im alten Indien kunstvoll beseitigt. Sie werden vielmehr maß- und kunstlos befriedigt, und zwar massenhaft auf einem niedrigen Ritualitäts- und Reflexivitätsniveau. Solcherart abgespeist, bleiben Gier und Neugier präsent, können also weiterhin neu entfacht werden. Das, was ich Neosexualität nenne, hat also durchaus Zukunft: Bi- und Trisexualität, Fetischismen, Sadomasochismen, Casual Sex und diverse Formen von Internetsex.

Das Interview führte Uli Kreikebaum

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