Jürgen DomianWo das Leben stillsteht

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Jürgen Domian liebt es, über den Melatenfriedhof zu spazieren.

Jürgen Domian liebt es, über den Melatenfriedhof zu spazieren.

Ehrenfeld/Lindenthal – Es ist einer dieser Tage, an denen die Toten kaum Besuch bekommen. Vom Himmel fällt das Wasser in dünnen Fäden, die Kleidung ist klamm, der Körper fröstelt. Es regnet ohne Unterlass. An einem Tag wie diesem bleiben die Lebenden lieber zu Hause. Für Jürgen Domian dagegen ist das Wetter eine Gnade, ideal für einen Spaziergang auf dem Friedhof Melaten. "Es ist menschenleer. Für mich ist die Einsamkeit ein Genuss."

Seit zwölf Jahren lebt Jürgen Domian, 53, in Ehrenfeld. Über Veedelskneipen und Cafés hat der WDR-Nachttalker allerdings wenig zu berichten. Wenn er in der Nähe etwas erleben will, geht er auf Melaten. Einmal pro Woche spaziert er über Kölns ältesten Friedhof. "Es ist ein faszinierender Ort, eine gigantische Parkanlage und mystische Stätte zugleich", sagt er. Hier kommt er zur Ruhe vor seiner nächtlichen Sendung, in der er seit 16 Jahren am Schicksal seiner Anrufer Anteil nimmt. Zwischen den Gräbern kann er nachdenken über das Leben und das Unabwendbare, den Tod, der jeden irgendwann heimsuchen wird auf seine ganz eigene Weise. "Hier wird mir bewusst, dass unsere Zeit begrenzt ist. Von diesem Ort gibt es kein Zurück. Das hilft mir, mein eigenes Leben wertzuschätzen."

Schäbiger Zustand des Haupteingangs-Bereichs

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Domian hat seine feste Route über den Platz der Toten. Meistens kommt er über den Haupteingang an der Piusstraße, und hier beginnt für ihn ein großes Ärgernis. Vor dem Metallzaun im ungemähten Gras liegen Müll und verwitterte Plastikplanen, zwischen den Pflastersteinen wuchert das Unkraut. Domian zeigt auf die beiden heruntergekommenen Backsteinbaracken, in denen Friedhofsgärtnereien Blumen und Grabgestecke verkaufen. "Dieser Anblick macht mich unglaublich wütend. Es ist mir ein Rätsel, wie die Stadt einen ihrer prominentesten Orte in dieser Weise verkommen lässt", zürnt der Moderator. "Melaten ist ein Aushängeschild für Köln, aber dieser Haupteingang ist eine Schande."

Auch beim Blick auf den großen Vorplatz neben der Trauerhalle, der an diesem wolkenverhangenen Nachmittag trostloser wirkt als sonst, regt sich Unverständnis. Domian begrüßt den Willen des Stadtrats, an dieser Stelle eine drei Meter hohe Skulptur aufzustellen. Doch die Bezirksvertretung Lindenthal ist strikt dagegen, nun tobt der politische Zank. Auch der Sohn des Architekten, der die inzwischen denkmalgeschützte Trauerhalle entworfen hat, ist gegen die moderne Skulptur auf dem Vorplatz, weil sie das Werk des Vaters entwerten könnte. Als alternativen Standort regt er die Wiese vor dem Friedhof an. Domian ist empört: "Das ist ein absurder Vorschlag, der am Willen der Leute vorbeigeht, die hier regelmäßig hinkommen."

Einst Aussätzigen- und Hinrichtungsstätte

Er rege sich auf, weil der Friedhof ihm so sehr am Herzen liege, sagt Domian. Das müsse man sich mal vorstellen, was dieser Ort schon alles erlebt hat. Im 12. Jahrhundert befand sich hier ein Leprosenheim, in dem Leprakranke von der Außenwelt weitestgehend isoliert dahinsiechten - worauf auch die Bezeichnung Melaten zurückgeht, die wiederum vom Wort "malade" für krank abgeleitet ist. Wenig später kam eine Hinrichtungsstätte dazu. Räuber, Hexen, Ketzer wurden unter dem Jubel der Bürger gehenkt, verbrannt, verscharrt. Es gab eine Gastwirtschaft, in der nach einer Exekution zünftig gebechert wurde, und Prostituierte, die ihre Liebesdienste anboten. Es war Napoleon, der aus Melaten einen Friedhof machte. "Manchmal stehe ich hier und stelle mir dieses irre Treiben vor. Spannender kann Geschichte nicht sein."

Domian geht vorbei an den neuen Ruhegärten, angelegt gleich hinter dem Haupteingang. Die Urnengräber mit ihren bescheidenen Grabplatten und der stilvollen Bepflanzung seien eine Bereicherung für Melaten und der Beweis dafür, dass "es hier auch Leute gibt, die sich Gedanken machen", sagt er. Ein paar Meter weiter findet er einen Gegenbeweis. Domian zeigt auf einen Baumstumpf. "Seit Jahren beobachte ich, wie auf Melaten ohne Sinn und Verstand gesunde Bäume abgeholzt werden. Das tut mir in der Seele weh. Ich frage mich, wer so etwas anordnet."

Das Beverly Hills von Melaten

Von den Ruhegärten führt der Weg des "Nachtfalken" durch die "Millionenallee", das Beverly Hills von Melaten, mit riesigen Gruften, Statuen und Grabsteinen mit goldener Inschrift. Hier haben sich Prominente und der Kölner Geldadel für die Nachwelt verewigt, der Bankier Deichmann, der Großindustrielle Maus, die Bestatter-Dynastie Kuckelkorn und die Zigeuner-Königin Sophia Czory, die für ihr pompöses Grab eine Sondergenehmigung erhalten hatte. "Dieser Prunk und Protz beeindruckt mich immer wieder", sagt Domian und schlägt den Kragen seiner weißen Jeansjacke hoch. "Manche Menschen sind eitel bis in den Tod. Vielleicht ist es auch der Versuch, dem Vergessen zu entrinnen."

Der Regen wird heftiger, Domian sucht Schutz unter dem Dach eines verwitterten Gemäuers, das zwischen den riesigen Gruften ein bemitleidenswertes Bild abgibt. "Hier sollte ein Café rein", meint er. Ein Ort der Rast für die vielen alten Menschen. Bei heißer Schokolade und Sachertorte könnten die Welten auf sich wirken, das Leben und der Tod im gegenseitigen Angesicht. "Für Köln wäre das eine Sensation."

Jürgen Domian könnte stundenlang hier verweilen. Es gebe noch immer so viel Neues zu entdecken, sagt er. Im vergangenen Jahr war er erstmals an Allerheiligen hier, wenn Hunderte Grableuchten den Friedhof in ein rotes Lichtermeer verwandeln. Selten könne man im Herzen der Stadt so etwas Fantastisches sehen. Aber Melaten ist für Domian vor allem auch ein Ort der persönlichen Erinnerungen und Geschichten. Sein Vater, nach langer Krankheit im Jahr 2006 gestorben, liegt hier begraben. Auf dem Weg zur Grabstelle entbietet er dem Gewerkschaftsfunktionär Hans Böckler, 1875-1951, einen Gruß. Ehrensache für einen langjährigen Genossen mit Parteibuch.

Am Grab vom Willy

Regelmäßig besucht der Autoliebhaber die Ruhestätte von Nicolaus August Otto, der mit der Erfindung des Viertaktmotors die Fortbewegung revolutionierte. "Man muss sich vorstellen, dass es ohne ihn mein liebstes Hobby nicht geben würde." Auch das Grab von Willy Millowitsch gehört zur Domian-Route. "Ja, der Willy", sagt er und betrachtet den bescheidenen Grabstein des Volksschauspielers. "Einmal habe ich ihn persönlich getroffen." Damals war Domian Anfang 20 und hatte sich im Millowitsch-Theater um einen Job als Hilfsinspizient beworben. Im einem Kabuff wartete er auf das Vorstellungsgespräch. Die Tür ging auf und der Willy persönlich kam herein, der Superstar des Schwanks, eine Kölner Ikone. Der Junge war beeindruckt.

Millowitsch gab ihm den Job, doch Domian sagte ab. Er ging zum Theater am Dom, die zahlten eine Mark mehr. Gleich schräg gegenüber liegt Heinz G. Konsalik. Mit seiner Tochter sei Domian gut befreundet, und bis heute nerve es ihn, dass der Bestseller-Autor nie die Anerkennung bekommen habe, die er verdient hätte. Konsalik habe unbedingt neben seinem Freund Millowitsch begraben werden wollen, erinnert sich der Moderator. Auf Melaten sind die beiden nun Nachbarn für die Ewigkeit.

Der Regen wird stärker, Dunkelheit legt sich wie eine Decke auf die Gräber. Es sei Zeit zu gehen, eine Sache aber wolle er unbedingt noch zeigen. Eilig schreitet Domian voran. Und hinter einer Biegung steht er: Der Tod. Eine mannshohe Skulptur aus Sandstein, ein Knochenmann mit Sense und Totenkopf-Fratze. Daneben befindet sich das Grab eines Kindes. "Hier muss ich häufig innehalten, weil es doch ein sehr harter Kontrast ist. Es sind die Augenblicke, in denen ich mich schon frage, was wohl nach dem Tod kommt." Es seien so viele Dinge vorstellbar, vom Nichts bis zur Wiedergeburt. Was eines Tages mit seinen sterblichen Überresten passieren soll, spielt für Domian keine große Rolle. "Eine Flussbestattung auf dem Rhein, das wäre schön", sagt er. "Aber im Grunde ist es mir völlig egal. Hauptsache kein Gedöns."

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