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„Synthesizer sind etwas Sinnliches“

Lesezeit 6 Minuten
Jean Michel Jarre

Jean Michel Jarre

KÖLNER STADT-ANZEIGER: Herr Jarre, „Oxygène“, Ihr Erfolgsalbum von 1976, hat sich rund zwölf Millionen Mal verkauft. Jetzt haben Sie die alten analogen Synthesizer wieder ausgepackt und spielen das Album zum ersten Mal live. Erzählen Sie doch mal, wie es überhaupt zu „Oxygène“ kam.

JEAN MICHEL JARRE: Das Projekt „Oxygène“ begann eigentlich schon, als ich noch an der „Groupe de Recherche Musicale“ unter Pierre Schaeffer studierte. Zu der Zeit gab es weltweit nur zwei Zentren der elektronischen Musik. Das eine hier in Köln mit Karlheinz Stockhausen, das andere in Paris mit Schaeffer. Ich hatte eine klassische Ausbildung genossen und auch in Rockbands gespielt. Also stand ich bereits mit einem Bein in der U- und mit dem anderen in der E-Musik. Dass man plötzlich Musik nicht mehr nur von Noten und Akkorden ausgehend, sondern auch mit verschiedenen Klängen komponieren konnte, das war für mich die wahre Revolution des 20. Jahrhunderts.

Warum haben Sie sich als Rock-Gitarrist überhaupt entschlossen, bei Pierre Schaeffer zu studieren?

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JARRE: Ich hatte ja immer mit meinem Grundig-Kassettenrekorder experimentiert, meine Gitarre rückwärts aufgenommen, versucht neue Klänge zu erzeugen. Ich glaube, das kam von meinem Großvater. Der war Erfinder, hat Anfang des 20. Jahrhunderts eines der ersten Mischpulte fürs französische Radio entworfen. Das hat mich als Kind sehr beeinflusst. Später wurde mir klar, dass ich dank der Elektronik mein eigener Ingenieur sein konnte, eigene Klänge, eigene Instrumente produzieren konnte. Damals interessierte ich mich sehr für abstrakte Malerei. Da gab es für mich eine Verbindung. Bei der abstrakten Malerei arbeitest du mit Strukturen und Farben - bei der elektronischen Musik mischst du statt Farben Frequenzen, aber es ist derselbe Prozess. Mit „Oxygène“ wollte ich eine Brücke zwischen experimenteller und Pop-Musik bauen.

Das versuchten zur selben Zeit auch deutsche Elektroniker.

JARRE: Aber ich wollte etwas schaffen, das ganz im Gegensatz zu so großartigen Bands wie Kraftwerk und Tangerine Dream stand. Die betonten die kalte, maschinelle und robotische Seite der elektronischen Musik. Tangerine Dream verließen zum Ende ihrer Konzerte stets die Bühne und ließen die Sequenzer alleine spielen. Für mich dagegen haben Synthesizer etwas sehr Sinnliches, ist die elektronische Musik viel menschlicher, als zum Beispiel die klassische Musik. Mit dem Bleistift Noten auf Papier zu malen, das ist doch ein viel abstrakterer, entseelterer Prozess, als mit den Händen Frequenzen gewissermaßen zu kochen, mit verschiedensten Zutaten und Gewürzen. Bei „Oxygène“ wollte ich zwar moderne Klänge präsentieren, aber mit einer impressionistischen, sinnlichen Herangehensweise an diese Klänge.

Das Vorurteil, dass elektronische Musik kalt und unpersönlich sei, existiert bei manchen bis heute.

JARRE: Das erste Album, das den Synthesizer populär gemacht hat, war Walter Carlos' „Switched On Bach“. Ich glaube, das hat auf lange Sicht eher negative Gefühle elektronischen Instrumenten gegenüber ausgelöst. Weil jeder dachte, dass die Hauptaufgabe des Synthesizers darin läge, klassische Instrumente zu imitieren, falsche Posaunen, falsche Trompeten. Für mich sind Synthesizer dazu da, neue und ungewöhnliche Klänge zu erzeugen.

Und dann haben Sie sich bewusst entschieden, diese ungewöhnlichen Klänge zu popularisieren?

JARRE: Nein, nicht bewusst. Ich wollte das einfach machen. Es war vielleicht auch eine Reaktion auf die experimentelle Musik der Zeit, auf Pierre Boulez, Iannis Xenakis, auch Stockhausen. Denen waren Melodien verdächtig. Das hat mich schockiert. Für mich ist Musik eine Mischung aus Rhythmus, Struktur und Melodie. Deshalb finden sie bei „Oxygène“ auch so viele melodiöse Teile. Und deshalb ist es wahrscheinlich auch kommerziell so erfolgreich geworden. Nur geplant hatte ich das nicht.

Nun erkennt wahrscheinlich jeder Mensch über 20 die Melodie von „Oxygène IV“. Das funktioniert wie ein Schlüssel zur Welt der elektronischen Musik.

JARRE: Genau, „Schlüssel“ ist das richtige Wort. Ich habe das zwar ohne diese Absicht komponiert, aber „Oxygène IV“ war für viele Leute der Schlüssel, um eine andere Art von Instrument, eine andere Art von Musik zu entdecken.

Haben Sie eigentlich das ganze Album zu Hause aufgenommen?

JARRE: Ja. Wahrscheinlich war „Oxygène“ das erste Homerecording-Album überhaupt. Ich habe das alles zu Hause auf drei oder vier Synthesizern eingespielt.

Man liest viel über die Probleme, die junge Rock- oder Punkbands früher in den Studios der großen Plattenfirmen hatten, wo ihre Musik nicht verstanden oder sogar boykottiert wurde. Die haben Sie also geschickt umgangen?

JARRE: Ich hatte diese Probleme auch. Mischen und aufnehmen, das ist so, als ob du ein Orchester dirigieren würdest. Das kannst du nicht delegieren. Vielleicht, wenn es nur um den Gesangspart bei einem Popsong geht. Aber nicht, wenn deine Musik auf Klängen aufbaut. Bei der neuen Version von „Oxygène“ hatte ich das gleiche Problem. Am Ende habe ich jeden Job im Studio alleine gemacht.

Warum haben Sie sich überhaupt noch einmal Ihres Frühwerkes angenommen?

JARRE: Ich hatte „Oxygène“ nie live gespielt, nur Ausschnitte davon. Der einfache Grund dafür ist, dass „Oxygène“ so viele langsame Strecken hat, dass es nie völlig in die Dynamik eines großen Live-Konzertes passte. Jetzt werde ich damit sogar auf eine kleine Tour gehen.

Dann kommen Sie doch bitte auch nach Köln!

JARRE: Das werde ich auf jeden Fall. Ich habe eine spezielle Verbindung zu dieser Stadt. Als ich bei Pierre Schaeffer studierte, sind wir für zwei oder drei Monate nach Köln gefahren, um Stockhausen in seinem Studio zu besuchen. Da habe ich viel gelernt. Stockhausen war damals der wichtigste musikalische Referenzpunkt.

Sie sind ja bekannt für Ihre riesigen Open-Air-Events, bei denen Sie vor Millionen von Zuschauern inmitten einer Keyboard-Burg thronen. Ist eine kleine Club-Tour die willkommene Gelegenheit, mit Ihrem Publikum auf Tuchfühlung zu gehen?

JARRE: Auf eine Art schon. Aber wissen Sie, ein Konzert ist wie eine Liebesaffäre, bei der die eine Person das Publikum ist und die andere die Musiker auf der Bühne. Da kommt es nicht darauf an, wie groß die Zahl des Publikums ist. Entweder es funktioniert oder es funktioniert nicht. Für mich ist der wichtigste Aspekt des Projekts, den alten analogen Instrumenten die Ehre zu erweisen. Es gibt mythisch überhöhte Instrumente in der Klassik - Stradivari, Bösendorfer - und auch in der Rockmusik - die Fender-Stratocaster, die Les Paul Gibson. Aber in der elektronischen Musik redet man höchstens mal vom Moog-Synthesizer. Ich finde das schade. Schließlich gibt es fantastische analoge Synthesizer. „Oxygène“ soll also auch die großartigen verrückten Männer aufs Podest stellen, die diese Instrumente erfunden haben.

Das Gespräch führte

Christian Bos

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