Abo

Zweckmäßig ohne Zweck

Lesezeit 6 Minuten
Immanuel Kants Grabmal am Dom in Kaliningrad.

Immanuel Kants Grabmal am Dom in Kaliningrad.

Der Philosoph etablierte das Geschmacksurteil als eine eigene Form der Welterschließung.

„Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, heißt es gemeinhin. Aber den Satz gibt es bezeichnenderweise noch in einer Variante: „Über Geschmack lässt sich streiten.“ Worin besteht der Unterschied? Wer Streit für nutzlos hält, sagt damit zugleich, dass es an Kriterien fehlt, die ihn sinnvoll machen. Wer ihn hingegen für möglich erachtet, behauptet, dass es gemeinsame Hintergrundannahmen gibt, die es sogar als denkbar erscheinen lassen, dass der Streit zu einer Einigung geführt wird.

Wenn einer sagt: „Dieses Bild ist schön“ und ein anderer: „Es ist nicht schön“, dann verbindet die Streitenden zweierlei: Beide glauben, dass es Schönes und Nicht-Schönes gibt; und beide glauben, für ihr Urteil Gründe angeben zu können, die nachzuvollziehen sie dem anderen ansinnen. Möglicherweise ist der Beurteilungsgrund ja auch der nämliche - Streit entsteht dann darüber, ob das konkrete Exempel mit diesem allgemeinen Grund zusammenstimmt oder nicht.

Dass das ästhetische Urteil gemeinhin nicht als Ausdruck eines bloßen „Privatgefühls“ gilt, sondern dass derjenige, der es fällt, dafür eine gewisse Verbindlichkeit beansprucht - diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt jener ästhetischen Theorie, die Immanuel Kant im ersten Teil der dritten seiner „Kritiken“ entwirft: in der 1790 erschienenen „Kritik der Urteilskraft“. Im Zusammenhang seines philosophischen Systems ist die „Urteilskraft“ sozusagen der Schlussstein, der die Bereiche des Erkennens („reine Vernunft“) und des Handelns („praktische Vernunft“) zur Versöhnung führen soll.

Die zentrale Frage liegt auf der Hand: Kann die Verbindlichkeit ästhetischer Urteile begründet werden, und wenn ja, wie? Das grundsätzliche Problem: Ein Geschmacksurteil ist, so Kant, kein Erkenntnisurteil, weil es sich „auf keine Begriffe von der Sache gründen soll“. Grund des Urteils ist lediglich „die Lust oder Unlust an einem gegebenen Gegenstande“. Dieser Gegenstand kann sowohl aus der Natur stammen als auch ein Kunstwerk sein - wobei diese Entscheidung sich dadurch relativiert, dass das Kunst hervorbringende Genie selbst wiederum als Naturkraft gedacht wird: „Genie ist die angeborene Gemütslage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“

Der Geniegedanke bezeichnet den produktionsästhetischen Aspekt von Kants Kunstphilosophie. In weiten Teilen ist sie aber eine Rezeptionsästhetik: Schön ist nicht das Ding an sich - darüber sind keine Aussagen möglich -, sondern schön ist die Vorstellung, die es im Rezipienten erzeugt. Dabei ist die Beurteilung eines Gegenstandes als schön eine spontane Reaktion der Einbildungskraft, die durch keinerlei innere oder von außen verhängte Zwänge - etwa ein Besitzenwollen - geleitet wird. Das Wohlgefallen ist „interesselos“, wie Kant sagt.

Wie aber kann ein begriffsloses Urteil Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben? Immerhin definiert Kant: „Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.“ Entscheidend ist nun, dass das ästhetische Urteil selbst kein Erkenntnisurteil ist, sein „Bestimmungsgrund“ aber auf demselben Vermögen wie ein Erkenntnisurteil beruht. Die Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils ergibt sich daraus, dass die Einbildungskraft, die uns etwas als „schön“ hinstellt, im „freien Spiel“ harmonisch „zusammenstimmt“ mit den Kräften des Verstandes, der „reflektierenden Urteilskraft“.

Worin besteht nun das transzendentale, auf die Bedingung seiner Möglichkeit zielende Prinzip des ästhetischen Urteils, was ist sein erfahrungsunabhängiges Richtmaß? Kant bestimmt es als „zweckfreie Zweckmäßigkeit“ (oder auch als „Idealismus der Zweckmäßigkeit“). Zweckmäßigkeit meint dabei die interne Organisation des Gegenstandes im Sinne etwa einer Übereinstimmung von Teilen und Ganzem, das „Zweckfreie“ den Unterschied zwischen „schöner“ und „mechanisch absichtlicher Kunst“, wie sie etwa Haushaltsgeräten eigen ist.

Mit dieser Theorie des Schönen hat Kant einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf seine Zeit ausgeübt. Ästhetik und Kunstpraxis der Weimarer Klassik sind ohne sie kaum zu verstehen. Den tragischen Dramatiker Friedrich Schiller hat zumal Kants Theorie des Erhabenen angezogen - sie fand in dem großen Aufsatz „Über das Erhabene“ ihren unmittelbaren Niederschlag.

Das Erhabene ist bei Kant neben dem Schönen das zweite ästhetische Phänomen. Erhaben ist, „was schlechthin groß ist“. Das kann die Vorstellung des tosenden Ozeans genauso sein wie die des unerreichbaren Hochgebirges oder der kreisenden Planeten. Für das Schöne wie für das Erhabene gilt, dass „beides für sich selbst gefällt“. Aber das Erhabene erregt nicht positive Lust, „vielmehr Bewunderung und Achtung“, und zwar „wider unser sinnliches Interesse“. Unter der Voraussetzung, „dass wir uns in Sicherheit befinden“, kann sich unsere Sinnlichkeit geschlagen geben, während die erhabenen Gegenstände „die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen“ und uns uns selbst als sittliche Wesen begreifen lassen, die der allgewaltigen Natur sogar überlegen sind.

Kants epochales Verdienst besteht darin, das ästhetische Urteil als eine eigene autonome Form der Welterschließung neben den begrifflichen Formen des theoretischen und praktischen Erkennens etabliert zu haben - im Gegensatz etwa zu seinem Vorgänger Alexander Gottlieb Baumgarten, der das Geschmacksurteil noch den „unteren Erkenntniswegen“ zugeordnet hatte. Hegel und die Ästhetiker in seiner Nachfolge - bis hin zu Adorno - haben Kants systematische Differenzierung wieder aufgehoben: „Denn in der Kunst“, so Hegel, „haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.“ Damit wächst dem Ästhetischen eine zuvor ungekannte Würde als Erkenntnismedium zu. Zugleich fragt sich, ob die Institution Kunst nicht mit solchen Ansprüchen überlastet und überfordert wird - und ob die Ineinssetzung von Schönheit und Wahrheit nicht einen Rückfall hinter Kant signalisiert, für den Schönheit allenfalls „ein Symbol der Sittlichkeit“ ist.

Einwände ergeben sich anderweitig: Kant hat in der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ die - erfahrungsunabhängige - Bedingung der Möglichkeit des Geschmacksurteils erkannt. Das ist eine rein formale Kategorie, auf eine inhaltliche Diskussion der „Zweckmäßigkeit“ hat er sich nicht eingelassen. Der strikte Formalismus begründet die Ungeschichtlichkeit von Kants ästhetischem Denken. Warum Menschen zu unterschiedlichen Zeiten ästhetisch unterschiedlich geurteilt haben, wie sich Geschmackswandel vollziehen, warum heute anerkannt ist, was gestern verrufen war - auf diese Fragen antwortet Kant nicht.

Tatsächlich ist die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ihrerseits ein historisch bedingtes Prinzip. Politische Dichtung etwa, die ja, insofern sie aufrüttelt, lobpreist, anklagt, einen außerästhetischen „Zweck“ hat, fällt heraus aus dem, was für Kant kunstwürdig ist. Die Lyrik Heines und Brechts - keine Kunst also? Zur Not lässt sich sogar die reaktionäre Parole „Ein garstig Lied, ein politisch Lied“ mit Kant rechtfertigen. Darüber hinaus hat die Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts, ja die Auflösung eines verbindlichen Kunstbegriffs, Kants „schöne Kunst“ obsolet gemacht. Dieser Mantel ist - man wird es so sagen müssen - zu eng geworden.

KStA abonnieren