„Das Vorgehen ist einmalig“Kann eine KI Suizide in NRW-Gefängnissen verhindern?

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Symbolbild

  • Neun Gefangenen haben im laufenden Jahr im NRW-Strafvollzug Suizid begannen.
  • Zwischen 600 und 1000 selbstmordgefährdete Häftlinge sollen aktuell einsitzen.
  • Mit künstlicher Intelligenz im Strafvollzug soll das Leben von Häftlingen gerettet werden.

Düsseldorf – In diesem Jahr haben sich im Strafvollzug von NRW bereits neun Gefangene das Leben genommen. Etliche Suizidversuche scheiterten, weil JVA-Bedienstete die Häftlinge in letzter Sekunde in ihrer Zelle entdeckt haben. Vollzugspraktiker schätzen, dass zwischen 600 und 1000 selbstmordgefährdete Häftlinge in den NRW-Gefängnissen einsitzen. NRW-Justizminister Peter Biesenbach will sie jetzt besser überwachen lassen: „Die Augen der Mitarbeiter können nicht überall sein. Deswegen setzen wir auf den technischen Fortschritt und künstliche Intelligenz.“

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Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

Der CDU-Politiker setzt darauf, dass Videokameras in den Zellen verdächtige Vorgänge registrieren und an den Vollzugsbeamten melden. Ein Unternehmen aus Sachsen wurde jetzt damit beauftragt, einen entsprechenden Algorithmus zu entwickeln. In Chemnitz wird dazu ein typischer Haftraum aus NRW nachgebaut. Der Software dort wird „beigebracht“, wie man zum Beispiel Messer, Schlingen oder Feuerzeuge von anderen Gegenständen unterscheiden kann. Studenten sollen Suizidsituationen nachstellen.

„Das Vorgehen ist einmalig“, sagte Biesenbach. Wenn die künstliche Intelligenz (KI) fit ist und sich im Alltag bewährt, soll das System in allen 36 Haftanstalten von NRW zum Einsatz kommen. Für die Erprobung stehen rund 160 000 Euro bereit.

Manager hatte sich beschwert

Biesenbach verspricht sich von der KI nicht nur Fortschritte bei der Suizidprävention, sondern auch eine Verbesserung der Haftbedingungen. Denn längst nicht alle selbstmordgefährdeten Häftlinge werden derzeit mit Kameras beobachtet. Oft müssen die Bediensteten die Gefangenen engmaschig durch Sichtkontrollen überwachen. Auch nachts finden regelmäßig Kontrollen durch eine Luke in der Zellentür statt. Der wegen Untreue verurteilte frühere Topmanager Thomas Middelhoff hatte den Strafvollzug in NRW scharf kritisiert, weil er alle Viertelstunde mit grellem Licht geweckt worden sei. Wegen des Schlafentzugs sei er in der Haft schwer erkrankt.

Suizid dauert sechs Minuten

Die künstliche Intelligenz sei auch einer Erleichterung für die Bediensteten, stellte Biesenbach klar. Sie müssten nicht mehr eine Vielzahl von Bildschirmen gleichzeitig im Blick behalten. Bilder aus der Zelle würden erst dann in den Überwachungsraum übertragen, wenn es Anhaltspunkte für einen Suizid gebe.

Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

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Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter:

Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.

Telefonseelsorge

Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

Kinder- und Jugendtelefon

Das Angebot des Vereins "Nummer gegen Kummer" richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams "Jugendliche beraten Jugendliche" die Gespräche an. nummergegenkummer.de

Muslimisches Seelsorge-Telefon

Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch türkisch. mutes.de

Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention

Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de

Retter können so schnell einschreiten. Laut Biesenbach benötigen Häftlinge etwa sechs Minuten, um sich in einer Zelle umzubringen. Die Software soll nicht nur Objekte, sondern auch Verhalten oder etwa bestimmte Emotionen an Gesichtsmerkmalen erkennen.

Im Jahr 2018 haben sich elf der insgesamt rund 16.000 Gefangenen umgebracht, 2017 waren es 13, im Jahr 2016 töteten sich 19 Häftlinge. Justizministerialrätin Caroline Schröttchen erklärte die meisten Gefangenen würden sich nicht zu Beginn ihrer Haft umbringen, sondern eher im zweiten Halbjahr. NRW habe deshalb die Zahl der Untersuchungen auf Suizidgefahr im ersten Haftjahr verdreifacht.

Nicht jeder der fast 19.000 Haftplätze in NRW werde künftig Video-Überwachung mit KI haben, sagte Biesenbach. „Der Aufwand, um alle zu überwachen, ist nicht erforderlich, aber wir werden die Technik künftig überall dort einsetzen, wo sie nötig ist.“

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Biesenbach betonte, der tödliche Zellenbrand in der JVA-Kleve habe nichts mit der Idee zu dem Projekt zu tun. Der Syrer Amad A., der nach einer Verwechslung zu Unrecht in Haft saß, soll seine Zelle in Selbstmordabsicht selbst in Brand gesetzt haben. Derzeit befasst sich ein Untersuchungsausschuss des Landtags mit der Aufklärung des Vorgangs.

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