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„Elias, die Maske!“Zu Besuch an der Gesamtschule Holweide

Lesezeit 7 Minuten
Ein Klassenraum im Kreis Heinsberg. Ähnlich sah es an der Gesamtschule Holweide aus – weil Lehrer und Schüler lieber anonym bleiben wollten, konnten wir dort nicht während des Unterrichts fotografieren. Auch ihre Namen haben wir geändert.

Ein Klassenraum im Kreis Heinsberg. Ähnlich sah es an der Gesamtschule Holweide aus – weil Lehrer und Schüler lieber anonym bleiben wollten, konnten wir dort nicht während des Unterrichts fotografieren. Auch ihre Namen haben wir geändert.

  • Seit Donnerstag müssen in NRW Zehntklässler, die vor dem Abschluss stehen, wieder zum Unterricht.
  • Doch wie schaffen es die Schulen, die Abstandsregeln einzuhalten? Und wie verändert sich die Atmosphäre im Klassenzimmer?
  • Zu Besuch an einer Gesamtschule im Kölner Osten.

Köln – 8.32 Uhr. Alle sind schon da, Elias ist spät dran. Die letzten Dings und Dongs der Glocken keuchen durch den Kastenbau der Gesamtschule Holweide im Kölner Osten, versagen allerdings beim Versuch, Elias – Batik-Shirt, Kappe mit dem Schirm nach hinten, graue Jogginghose – zu stressen.

Ein bisschen verschlafen, eher aber gelassen, schlurft er die Stufen hinauf in den zweiten Stock, zieht schon im ersten die Stoffmaske wieder ab, die Frau S. ihn noch im Erdgeschoss gebeten hatte, aufzusetzen. Kommt man sich schon albern mit vor, sagt Elias, vor allem wenn sonst doch gerade niemand auf dem Flur ist.

Raum B 215. Fuck, wo war das noch mal? Normalerweise haben sie ja im Pavillon Unterricht. Aber ist ja gerade nichts normal. Ist ja Corona.

Dritter Versuch, dritte grüne Tür, diesmal die richtige. „Elias, die Maske!“ ruft Frau T. „Bitte erst absetzen, wenn du auf deinem Platz sitzt. Und bitte, vorher Hände waschen.“ Elias zieht seine Maske wieder an, geht zum Waschbecken auf dem Flur. Wasser läuft über seine Finger, es ist kalt, sie haben hier kein warmes. Aber immerhin genug Seife. Der Hausmeister, so erzählen es die Lehrer, hat selbst noch ein paar Flaschen besorgt. Auf den Pulten steht Desinfektionsmittel bereit.

Zwei Tage für die Vorbereitung

Elias ist einer von rund 250 000 Schülern in Nordrhein-Westfalen, die seit diesem Donnerstag wieder zum Unterricht müssen, weil sie in den kommenden Wochen ihre Prüfungen nach der zehnten Klasse schreiben sollen. Während den Abiturienten freigestellt wurde, ob sie erscheinen, herrscht für alle anderen Abschlussklassen Anwesenheitspflicht. Das hatte die Landesregierung in der vergangenen Woche beschlossen, in einer Mail an die Schulen am Samstag noch einmal betont und Hygienevorschriften gleich mitgeschickt. Ausreichend Seifenspender sollten vorhanden sein, in den Unterrichtsräumen ein Mindestabstand von 1,5 Metern. Zwei Tage hatten die Lehrer Zeit, das umzusetzen.

Hände sauber, Elias darf rein. Elf andere Schüler sitzen schon auf den Holzstühlen, die Tische sind weit auseinandergerückt, auf ihnen kleben pinke Zettel mit Namen. Jede Klasse wurde in zwei Untergruppen aufgeteilt, aus neun Klassen wurden quasi 18. Nur so schaffen sie es, die Abstandsregeln einzuhalten.

Frau T. ist eine sanfte Frau mit braunen, zusammengebundenen Haaren, sie lächelt viel, lobt noch öfter und vielleicht ist das auch der Grund, warum hier gerade niemand stöhnt oder ächzt oder heimlich mit dem Handy spielt, wenn nach sechs Wochen ohne Unterricht direkt dreieinhalb Stunden Mathe anstehen. Erst mal aber Corona-Fragerunde.

Was, wenn wir Niesen müssen, wegen Staub oder so? Bitte in die Armbeuge.

Gibt es keine Pause mehr? Nein, aber ihr dürft natürlich nach draußen gehen, um mal durchzuatmen. Nur bitte fallt euch nicht in die Arme.

Wo ist Janis? Der ist zu Hause, weil seine Geschwister Asthmatiker sind.

Müssen wir die Arbeiten noch schreiben, die wegen Corona ausgefallen sind? Nein, die fallen aus.

Was kommt in den Zentralen Prüfungen dran? Das, was wir jetzt üben.

Dann schreibt Frau T. an die Tafel: „Termine ZPs: Deutsch, 12.5.; Englisch 14.5; Mathe 19.5.“

Die ZPs aber sind eigentlich gar keine ZPs mehr, auch wenn sie die hier immer noch so nennen. Zum ersten Mal seit sieben Jahren werden die Abschlussprüfungen in den drei Hauptfächern nicht zentral, nicht vom Land gestellt, sondern wieder von den Lehrern an der Schule selbst.

Hielt man offenbar für fairer in diesen chaotischen Zeiten.

„Wer von euch“, fragt Frau T. „hat denn schon viel im Heft geübt?“ Zwei Meldungen.

„Und wer von euch denkt, dass es gut ist, wieder in der Schule zu sein, weil er hier mehr schafft?“ Zehn Meldungen.

War hart, wird Elias später in der Pause erzählen, das ganze Lernen zu Hause. Sie haben Aufgaben bekommen und Fristen zur Abgabe, manche Lehrer hätten das per Mail gemacht, andere über ein spezielles Programm. „Das war voll unübersichtlich, weißt du“, sagt Elias, diesmal die Maske die ganze Zeit vor dem Mund, um den sich schon die Bartstoppeln breitmachen.

Das erste Mal in seinem Leben habe er sich selbst organisieren müssen. Hat gut geklappt, findet er. Aber es sei jetzt auch gut, wieder in die Schule zu kommen. Sonst gewöhne er sich noch daran, immer bis 14, 15 Uhr zu schlafen.

„Waren halt lange Nächte“, sagt Elias. „Netflix und so.“

Fünf gehören zur Risikogruppe

Jetzt aber wieder Auflösen nach x. Elias, der Abi machen und Jura studieren will, hat bisschen Schiss vor Mathe, sagt er, aber wird schon. Immerhin weiß er, dass der Graph einer Quadratischen Funktion eine Parabel ist. Kurzer Augenkontakt mit dem sichtlich überraschten Kumpel Deniz. Dann stolzes Lächeln.

„Und Exponentialfunktionen?“, fragt Frau T. „Wie sehen die aus? Habt ihr doch alle in den vergangenen Wochen in den Nachrichten gesehen.“ Die Schüler zeichnen gleichzeitig eine steile Kurve in die Luft, ja, das scheinen sie tatsächlich in den vergangenen Wochen ziemlich oft gesehen zu haben.

10.05 Uhr. Ab jetzt arbeiten die Schüler eigenständig weiter, Frau T. wird abgelöst, Herr O. übernimmt die Aufsicht, sie muss zur nächsten Gruppe. Aber erst noch schnell Arbeitsblätter besorgen. Der Weg zum Kopierer führt wieder durchs Treppenhaus, sie haben hier eine Einbahnstraßenregel eingeführt. Auf den Türen kleben rote und grüne Schilder, zwischen den Stufen flattert Absperrband. Niemand soll sich hier aus Versehen entgegenkommen.

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Im Lehrerzimmer ist es still, Stapel aus Büchern und Arbeitsblättern recken sich wie nach einem Nickerchen. Die meisten Kollegen sind im Haus unterwegs, fünf gar nicht da, sie gehören zur Risikogruppe, drei sind über 60, zwei vorerkrankt. Referendare vertreten sie, so gut es geht. „Das war jetzt schon ein Kraftakt in den vergangenen Tagen“, sagt Frau T., atmet kurz durch, „das alles mal eben zu organisieren.“ Sie unterrichtet Mathematik und Deutsch, hat also doppelt viel zu tun, weil gerade ja nur die Hauptfächer stattfinden. Erst Dienstag hätten sie entschieden, was eigentlich in ihren Abschlussprüfungen drankommen soll, sagt Frau T. Das Ministerium sei in seinen Angaben doch sehr vage geblieben, lediglich, dass sich die Aufgaben von Frau T. an den inhaltlichen Vorgaben des Landes orientieren sollen, steht in dem Schreiben vom 14. Mai.

Sie hat für sich beschlossen, mit den Schülern nur den Stoff zu wiederholen, den die auch in ihrer Arbeit brauchen werden. „Alles andere wäre ja nur ungerecht“, sagt sie. Auf dem Startbildschirm ihres Laptops hat Frau T. Screenshots von Videokonferenzen mit den Schülern gespeichert.

Zurück nach oben. Frau T. zieht sich die Maske ins Gesicht, schwarz mit weißer Bestickung. Eine Kollegin hat ihre nicht an. „Bitte, zieh die auf, wir müssen da echt üben, selbst auch konsequent zu sein“, sagt Frau T., man sieht ihr Lächeln in den Augenfalten. Dann verschwindet sie zur nächsten Stunde.

Auf dem Schulhof stehen Schüler in Gruppen, reden, hören Musik, manche legen sich den Arm auf die Schulter. Auch Deniz und Elias sind auf dem Weg nach draußen. „Ich hab ja jetzt nicht so krasse Angst vor dem Virus“, sagt Elias. „Ich kenne keinen, der das hat. Und ich habe mich in den vergangenen Wochen auch selten mit Freunden getroffen. Eigentlich nur geschrieben, bei WhatsApp.“ Deniz nickt. „Aber ist schon cool, jetzt alle auch in echt wiederzusehen.“ Sie wollen kurz an die Luft. Bisschen quatschen, weißt du.

Um 16.08 Uhr, als die Gesamtschule Holweide wieder leer ist und alle zu Hause sind, wird Bildungsministerin Yvonne Gebauer per Pressemitteilung verkünden, der Schulstart sei gut verlaufen, sie bedanke sich bei allen Lehrern, Schulleitungen und Schulträgern.

Um 10.30 Uhr, als die Gesamtschule Holweide noch voller Schüler ist, sind im zweiten Stock die Papierhandtücher am Waschbecken leer.

Um 16.08 Uhr wird Gebauer auch schreiben, dass dieser Tag ein wichtiges Signal in Richtung verantwortungsvoller Normalität gewesen sei.

Um 10.30 Uhr zeigt die Uhr an der Wand im Raum B 215 noch 9.30 Uhr an. Winterzeit. Als wirklich noch alles normal war. Sie kamen wohl noch nicht dazu, sie umzustellen.

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