„Es fehlt die Struktur“Drei Wochen Homeschooling in NRW – eine durchwachsene Bilanz

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Homeschooling Stefan Noller

Stephan Noller hilft beim Unterricht seinen beiden Töchtern Carla und Tilda.

  • Seit dem 16. März sind die Schulen in ganz NRW geschlossen.
  • Drei Wochen danach haben wir Schüler, Eltern und Lehrer nach ihrer Bilanz des Homeschooling gefragt.
  • Die Ergebnisse offenbaren: Beim digitalen Unterricht gibt es noch Luft nach oben.

Unser Schulsystem durchläuft gerade einen Härtetest – und es sieht nicht gut aus“. Stephan Noller, Kölner Vater von zwei Mädchen, hat dieses Fazit zum Lernen auf Distanz am 23. März in seinem Blog gezogen. Zu diesem Zeitpunkt sind die Schulen in NRW gerade einmal eine Woche geschlossen, um die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland zu verlangsamen.

Seit dem 16. März, dem Tag des Schul-Lockdowns in NRW, herrscht in vielen Haushalten, in denen die knapp zwei Millionen Schüler leben, der Ausnahmezustand. Ein zäher Marsch durch die Gefühlswelten liegt hinter Schülern, Lehrern und Eltern: Verwirrung, Chaos, Unsicherheit, Wut, Verzweiflung, aber mitunter auch Erstaunen darüber, dass das Lernen auf Distanz mancherorts besser geklappt hat, als erwartet.

Digitalisierung von Unterricht als Graswurzelbewegung

Während viele Schüler in Jubel ausgebrochen sind, weil sie die Corona bedingten Schulschließungen für sich als vorgezogene Osterferien deuteten, schlugen sich Eltern entsetzt die Hände vors Gesicht: Homeoffice, Kinder, Lagerkoller und nebenbei auch noch Lehrer spielen. Wie soll all das nur gehen?

Drei Wochen sind seitdem vergangen. Die gute Nachricht: Sie sind vorbei. Die Bilanz indes ist durchwachsen. Schon jetzt aber lässt sich mit Gewissheit und wenig überraschend sagen, dass NRW auch im Bereich Schule sicher nicht als Musterland der Digitalisierung in die Geschichtsbücher eingehen wird. Was sich aber auch sagen lässt: Digitalisierung von Unterricht klappte in der Corona-Krise als Graswurzelbewegung. Hunderte Lehrer, die sich in Eigenregie bemühten, Lösungen zu finden, um Schüler in dieser schwierigen Zeit bei Laune zu halten und mit Aufgaben zu versorgen. Die Videochats anboten, Apps runterluden. Die Podcasts einsprachen und im Wohnzimmer Lernvideos produzierten. So manchen Lehrer hat die Krise zum Techie gemacht.

Unterricht an manchen Kölner Schulen: „Schlimm, unkoordiniert, hilflos“

„Das Land hat jahrelang geschlafen. Wer digital arbeiten möchte, muss sich die passende Umgebung selber bauen“, sagt Jens Krämer (Name geändert). Seit fünf Jahren unterrichtet er an einer Grundschule im Bergischen Land. Nach der Schulschließung beschloss der 34-Jährige seinen eigenen Weg zu gehen. Drei Mal pro Woche streamte er über einen versteckten Link seinen Unterricht via YouTube. Immer um neun Uhr und immer eine halbe Stunde. Fragen zum Stoff konnten die Kinder später interaktiv über eine App stellen.

Für seine Schüler ist das alles kein Novum. Digitale Arbeitsblätter und Kommunikation übers Internet setzt er schon seit vier Jahren ein. „Für uns ist das Normalität.“ Doch es gibt auch die andere Seite. Und dort fällt das Zeugnis für die digitale Performance der Lehrkräfte teils vernichtend aus. Vielerorts nämlich lief der Unterricht zu Hause alles andere als reibungslos. Drucker im Dauerbetrieb, leere Toner.

„Schlimm, unkoordiniert, hilflos“, bilanziert ein Kölner Vater mit einer Tochter in der fünften Klasse. Eine Mutter spricht von „blankem Horror“. Viele Lehrer hätten offenbar vergessen, dass es in manchen Haushalten gar keinen Drucker und höchsten einen Computer gebe, der dann im Schichtbetrieb zwischen Homeoffice und Homeschooling hin- und hergereicht werden musste. Tage wurden länger, Nerven strapaziert.

Nicht ansprechbare Lehrer

Auch Nollers Töchter, siebte und zehnte Klasse verschiedener Schulformen, erzählen, was dieser Tage viele Eltern und Kinder erlebt haben: Von manchen Lehrkräften seien sie von E-Mails überhäuft worden, an denen ein Rattenschwanz von auszudruckenden Arbeitsblättern in zweistelliger Zahl hing. Viele Eltern bemängelten, dass Lehrer nicht ansprechbar gewesen seien.

Einige hätten die E-Mails gar über den Verteiler der Elternpflegschaften verschicken lassen, um jede persönliche Kontaktaufnahme zu vermeiden. Manche seien quasi mit der Schulschließung vorzeitig in den Urlaub verschwunden. Es sei in hohem Maße dem Zufall überlassen, ob ein Kind eine Top-Betreuung erhalte oder nicht, sagt Noller. Er spricht von „Flickenteppich“ und „Varianz auf niedrigem Niveau“.

550 Schulen erhalten Zugang zur Lernplattform

Das NRW-Schulministerium ist anderer Meinung. Die Rückmeldungen aus Schulen und Bezirksregierungen seien positiv, heißt es. Das Ministerium selbst gibt den Schulen unterdessen keine Anweisungen, wie sie den Unterricht in dieser unvorbereiteten Situation zu gestalten haben. Es gebe eine Materialsammlung mit Angeboten und Tipps für das Lernen auf Distanz, heißt es auf Anfrage.

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Materialien müssten dem Alter und Lernstand der Schüler entsprechend genutzt werden, lautet eine vage Ansage. Stolz spricht die Behörde von der Lernplattform Logineo NRW, die viele Features bieten würde, die man für digitales Lernen brauchen würde. Jahrelang hatte die Behörde an dem Tool gebastelt. Im November 2019 ging das Programm an den Start. Bis heute hätten rund 550 Schulen einen Zugang erhalten, schreibt das Ministerium.

In der Krise allerdings spielte die Software offenbar keine große Rolle. In den zahlreichen Gesprächen, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ für diesen Beitrag mit Lehrern geführt hat, wurde Logineo nicht einmal erwähnt. „Ganz ehrlich: Im Kollegenkreis wird darüber geschmunzelt“, sagt Grundschullehrer Krämer.

Reaktionen der Schüler deutlich unterschiedlich

Die Gewinner bei den Homeschooling-Tools waren andere: Moodle, uCloud, Schulcloud NRW, Anton, Microsoft Teams, Zoom, Padlet, Seesaw. Selbst innerhalb einer Schule variierten die Anwendungen. Für Vater Nolle war es die Umkehr des gewohnten Bildes: Es waren nicht die Lehrer, die sich auf 30 unterschiedliche Charaktere in einem Klassenraum einstellten. Vielmehr mussten sich die Kinder den technischen Fähigkeiten ihrer Lehrer anpassen.

„Insgesamt haben wir uns ganz gut geschlagen“, sagt Regina Schröder, Lehrerin für Englisch und Gesellschaftslehre an der Gesamtschule Holweide. Von den 2000 Schülern hätten sich immerhin 1200 bei der Plattform Schulcloud NRW angemeldet. „Wir haben vor allem erstmal versucht, den Stress rauszunehmen und persönlichen Kontakt zu den Schülern aufrecht zu erhalten.“ Das sei nicht immer einfach gewesen.

„Es gab Schüler, die komplett abgetaucht sind. Andere verlangten mehr Druck durch Abgabetermine.“ Für die 52-Jährige war es eine sehr stressige Zeit. Den ganzen Tag habe sie vor dem Rechner gesessen, um für die Schüler erreichbar zu sein, Fragen zu beantworten und die Aufgaben zu koordinieren. „In dieser Form könnte das nicht immer so weitergehen.“

Hausaugabenorganisation nicht einheitlich

Johanna, 13 Jahre alt, besucht die achte Klasse eines Gymnasiums in der Kölner Innenstadt. Sie ist eine gute Schülerin. Ihre Lehrer haben sich auf die Plattform Moodle verständigt. Für jedes Fach wurden Ordner eingerichtet mit Links, Fotos und Arbeitsblättern für die Hausaufgaben, auf die jeder Schüler zugreifen konnte. „Das lief eigentlich ganz gut“, sagt sie. „Trotzdem hatte ich oft Probleme, mich zu motivieren. Immer nur von zu Hause zu arbeiten, ist einfach etwas anderes. Es fehlt die Struktur.“

Morgens habe sie oft länger geschlafen und sei dann nur mühsam in Schwung gekommen. Manche Lehrer hätten die Hausaufgaben zum Ende der Woche verlangt, manche wollen sie erst nach Ostern sehen. Ein Lehrer habe täglich Aufgaben hochgeladen und verlangte die Ergebnisse zu einer genauen Uhrzeit zurück. Wer nicht pünktlich lieferte, bekam den Vermerk „Hausaufgaben vergessen“.

Digitales Lernen ist kein gleichwertiger Unterricht

Für die Lehrerverbände war die Homeschooling-Phase der Beweis dafür, dass Schule als Ort der Wissensvermittlung unersetzlich ist. „Auch wenn wir insgesamt eine positive Bilanz ziehen, sollte klar geworden sein, dass Eltern die Lehrer unterstütze, aber nicht ersetzen können und das reine digitale Lernen kein gleichwertiger Unterricht sei kann“, sagt Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologenverbands NRW, der vor allem die Gymnasien repräsentiert. „Uns ist bewusst, was Eltern und Schülern in dieser Zeit aufgebürdet wurde. Aber für die Lehrer war es nicht einfach, sich plötzlich auf diese Situation einzustellen.“

Der für die Realschulen zuständige Verband Lehrer NRW schreibt, dass der Lehrerberuf in der gesellschaftlichen Anerkennung eine Aufwertung erfahren habe. „Dass es dazu erst einer Krise solchen Ausmaßes bedurfte, ist traurig“, sagt der stellvertretende Vorsitzende Sven Christoffer. Stefan Behlau vom Verband VBE, der sich auch um die Hauptschulen kümmert, weist darauf hin, wie wichtig es ist, Schüler und Lehrer mit geeigneten Endgeräten auszustatten, um soziale Unterschiede auszugleichen.

Bei den anstehenden Prüfungen sieht Behlau die anderen Schulformen im Gegensatz zu den Gymnasien im Nachteil. In NRW wurden die Abitur-Prüfungen um drei Wochen, die zentralen Abschlussprüfungen an Haupt- und Realschulen nur um fünf Tage verschoben.

Widersprüchliche Aussagen

Das Schulministerium indes weist darauf hin, „dass es sich bei den bis zum Beginn der Osterferien von Lehrerinnen und Lehrern zur Verfügung gestellten Aufgaben grundsätzlich nicht um Inhalte von Prüfungsrelevanz handeln kann.“ Noller überrascht diese Aussage: Die Tochter in der zehnten Klasse müsse durchaus Material zur Vorbereitung auf die Prüfung bearbeiten. Das sei von den Lehrern klargemacht worden.

Noller ist Technologie-Unternehmer, unterstützt Initiativen der digitalen Bildung und hat vor Jahren den Bastelcomputer Calliope Mini mitentwickelt, ein Projekt, das auch die Bundesregierung unterstützt hat. Den Lehrern, die nicht so recht wissen, wie sie ihre Schüler aus der Ferne anleiten sollen, macht Noller Vorschläge: „Das Füllhorn der anderen Quellen im Netz“ sollte genutzt werden, sagt er. Es könne zum Beispiel einen Wettbewerb geben, wer für ein Mathe-Problem die tollste Erklärung auf Youtube finde. Die Kinder könnten selbst digitale Materialien erzeugen, zum Beispiel einen Podcast.

Vor allem gehe es darum, „kleine erste Versuche machen, verbessern, neu aufsetzen“. Noller macht auch weniger Erfahrenen Mut: „Schämen Sie sich nicht, wenn Ihnen das unsystematisch und komisch vorkommt. Das geht den Managern von Bayer genauso, wenn sie plötzlich mit digitalen Arbeitstechniken konfrontiert werden.“ Wir befänden uns in einer Digitale-Schule-Krise, so Noller: „Wie toll wäre es, wenn wir das nicht als Versäumnis, sondern als Chance begreifen würden?“

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