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Ältester Baum in NRWWie ein Dorf um den Erhalt einer Femeiche kämpft

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Die Femeiche in Erle ist der wohl älteste Baum NRWs.

Erle/Köln – Als die Femeiche ihre ersten Wurzeln bildete, herrschten noch Grafen, Ritter und Könige über das Münsterland. Vielleicht saß sogar Karl der Große auf dem Thron über das Frankenreich, als der Baum im Frühjahr zu blühen begann. Burgen aus dieser Zeit sind längst zu Ruinen verfallen, doch die Eiche trotzte unzähligen Stürmen, Blitzeinschlägen und zwei Weltkriegen. Erle, ein kleiner Ort im Kreis Borken, hat zwar den Namen einer anderen Baumart. Berühmt ist er jedoch für eine tausendjährige, von zehn Holzpfählen gestützt Eiche. Sie ist der älteste Baum in NRW – und das Dorf will dafür sorgen, dass dies auch so bleibt.

Man sieht der Femeiche an, dass sie nicht aus den letzten Jahrhunderten stammt, wahrscheinlich nicht einmal aus dem letzten Jahrtausend. Der ehemals majestätische Stamm ist unten hohl. Drei halbmondförmige Teile ranken in die Höhe und verschmelzen einige Meter darüber zu einem Stamm, aus der Baumkrone dringen Taubengurren und das Gezwitscher von Rotkehlchen herab. Rund um die Eiche stemmen sich zehn Holzpfähle gegen die Rinde. Ohne diese, glaubt Norbert Sabellek, wäre die Femeiche längst umgekippt.

Die erste Eiche, die im Frühjahr blüht

„Sie ist immer noch die erste Eiche, die im Frühjahr blüht“, sagt der Vorsitzende des lokalen Heimatvereins mit Stolz in der Stimme. Die Eiche steht nahe dem Dorfzentrum, umgeben von einer Streuobstwiese, einem Pastoralhaus und 200-jährigen Maronen. „Das grüne Herz von Erle“, nennt Sabellek den Ort.

Wenn Forscher das Alter eines lebenden Baumes bestimmen wollen, bohren sie normalerweise ein kleines Loch in den Stamm, ziehen den Bohrkern heraus und lesen die Jahresringe ab. Dem Baum schadet dies kaum: Das Loch ist ungefähr einen halben Zentimeter dick. Uralt-Bäume sind allerdings meist hohl, genau wie die Femeiche – bei ihnen funktioniert das nicht.

„Bei kulturellen Bäumen gibt es meist mündliche und schriftliche Hinweise, in denen das Alter festgehalten ist“, sagt Klaus Striepen vom Landesbetrieb Wald und Holz NRW. So auch bei der Femeiche: Forscher schätzen ihr Alter auf mindestens 650 Jahre, doch einiges deutet auf bis zu 1500 Jahre hin. Möglicherweise wurde die Femeiche als germanische Kultstätte benutzt: In dem Fall war sie bereits ein stattlicher Baum, als Karl der Große über das Frankenreich herrschte.

Erstes schriftliches Indiz im Jahr 1441

Im Jahr 1441 taucht die Eiche zum ersten Mal in alten Schriften auf: In ihrem Schatten tagten damals Femgerichte, Verhandlungen, in denen Grafen über Mord, Raub und Totschlag urteilten. Freigraf Bernt de Duiker entschied 1441 über das Schicksal des Adeligen Gerd Diepenbrock. Dieser hatte mit seinen Knechten zwei Schöffen ermordet, die ihm eine Gerichtsvorladung überbrachten.

Unter der Femeiche erklärte der Graf Diepenbrock für vogelfrei: Jeder Bürger durfte ihn straffrei töten. „Was aus dem Mann wurde, ist nicht bekannt“, sagt Sabellek. Nach ihrer Zeit als Gerichtseiche befahl der spätere König Friedrich Wilhelm IV im Jahr 1819 seinen Soldaten, im Hohlraum der Eiche Stellung zu beziehen. 36 Infanteristen passten hinein. Die Eiche diente sogar als Speisezimmer: 33 Jahre später ließ der Bischof von Münster in der Eiche einen runden Tisch aufstellen und tafelte dort mit elf anderen Geistlichen.

Seit dem späten 19. Jahrhundert dokumentieren Fotos das Leben der alten Eiche: Stürme rissen Äste heraus, ein Blitzeinschlag färbte Teile des Holzes schwarz. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs flogen Bomber über Erle hinweg und legten einen Teil des Dorfes in Trümmer, auch der Kirchturm brach zusammen. Die Femeiche hatte Glück: Sie blieb unbeschädigt.

Kultstätte, Gerichtseiche, Kuriosität

Erst germanische Kultstätte, dann Gerichtseiche und später Kuriosität – die Eiche verdankt ihr hohes Alter vermutlich ihrem kulturellen Wert. Zwar können Eichen zwischen 500 bis 800 Jahre alt werden, doch selbst in Urwäldern sind tausendjährige Eichen selten. Junge Bäume sprießen neben den Alten aus der Erde, wachsen über sie hinweg, rauben ihnen Platz und Licht. Dazu kommt der jahrhundertelange Kampf mit Schädlingen: Je mehr Macken ein Baum bekommt, je öfter die Rinde aufreißt, desto schneller können Pilze und Insekten eindringen. Eichen auf Gerichtsplätzen und Dorfplätzen, sagt Striepen, haben dagegen einen fast mystischen Charakter. „Deshalb werden sie gehegt und gepflegt.“

Heute steht die Femeiche unter Denkmalschutz als älteste Eiche Deutschlands. Das soll auch so bleiben: Schon im 19. Jahrhundert gaben Erler Bürger dem Baum seine ersten hölzernen Krücken. Als sich die Menschen sorgten, ob die herumkletternden Kinder dem Baum schaden könnten, bastelte eine Erlerin Plakate mit der Bitte: Geht respektvoll mit der alten Dame um. Kurz darauf errichtete die Gemeinde einen Distanzzaun um den Baum herum.

Vor 40 Jahren fällte die Gemeinde junge Bäume, damit genug Sonnenlicht auf die Femeiche scheint. Einen Ahorn platzierten sie als Windschutz neben dem Pfarrhaus, die Erde an dem Platz reicherten die Bürger mit Nährstoffen an. Die Erler Eiche ist als Denkmal schützenswert, keine Frage.

„Alte Bäume bieten Lebensräume und sind entscheidend für Ökosysteme“

Doch während die Femeiche ihre kulturelle Aufgabe erfüllt, leisten alte Bäume in Urwäldern einen unverzichtbaren Dienst für das Ökosystem: Einige Tierarten können nur in totem Holz an einem lebenden Baum überleben. „Der Emerit zum Beispiel, ein seltener Großkäfer, lebt in dem abgestorbenen Holz der Baummulden“, sagt Strieben. Von Höhlen, abgebrochenen Ästen und Mulden sind jahrhundertealte Eichen geradezu übersäht. „Alte Bäume bieten Lebensräume und sind entscheidend für Ökosysteme“, so Striepen. „Sie sind durch nichts zu ersetzen.“

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Nein, ersetzen, kann man einen tausendjährigen Baum wirklich nicht. Vor allem nicht, wenn er ein Dorf so prägt wie die Femeiche: Links der Bushaltestelle stehen Menschen vor der „Femeichen-Apotheke“ Schlange, ein paar Meter weiter im Dorfkern verkauft eine Brennerei den „Femetrunk“. An den Wochenenden schlendern Touristen durch den Ort, manche aus dem Ruhrgebiet, andere aus den Niederlanden. „Menschen, die sonst klug daherreden, werden demütig, wenn sie hier sitzen“, sagt Sabellek. Seit 2006 erinnert eine Skulptur an die Urteile, die im Schatten der Eiche gesprochen wurden: ein alter Richtertisch, auf dem Schwert und Strick liegen – die Insignien des Freigrafen.

Jedes Jahr sammelt der Heimatverein die Eicheln des Baumes ein und zieht ihre Nachkommen in Blumentöpfen groß. „Die Töchter und Söhne der Femeiche“, nennt Sabellek sie. Steht er vor der Eiche, stellt er sich gerne vor, wie die Verhandlungen damals abliefen. Doch meist gleitet sein Blick zum Blattwerk – und er staunt, wie der Baum allen Widrigkeiten trotzt. „Man kann die Eiche als Mahnmal sehen, achtsam mit der Natur umzugehen“, sagt der 75-Jährige. „Sie zeigt, was Bäume einem erzählen können. Und was der Mensch anrichten kann, wenn er hier die Säge ansetzt.“

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