Arzt argumentiert gegen EthikerIst die Aufhebung der Impfpriorisierung gerecht?

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Corona-Impfung Hausarzt

Eine Hausärztin impft eine Patientin gegen das Coronavirus.

  • Bayern, Berlin und Baden-Württemberg haben die Priorisierung für alle Seren aufgehoben. Ein Beitrag zur pragmatischen Beschleunigung der Impfkampagne oder am Ende ethisch nicht tragbar?
  • Arzt Jürgen Zastrow fragt sich: „Warum wird die Kassiererin geimpft, derjenige, der die Regale einräumt, aber nicht?“
  • Ethiker Mathias Wirth sagt: „Pragmatismus leistet keine Begründung für ethische Entscheidungen“

Seit dem Beginn der Impfkampagne mangelt es  an Impfstoff. Es war also unvermeidbar, eine  Reihenfolge festzulegen, um diejenigen zuerst zu schützen, die besonders gefährdet sind.  Dabei ist im Wesentlichen nach zwei Risikobereichen vorgegangen worden.

Zum einen geht es um das persönliche Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs im Fall einer Infektion mit dem Coronavirus. Zum anderen geht es um das epidemiologische Übertragungsrisiko, also das Risiko für uns alle, sich mit dem Virus zu infizieren. Deshalb sind vernünftigerweise zunächst die Bewohner der Altenwohnheime geimpft worden, außerdem das dort tätige Personal, dann Ärzte und ärztliches Hilfspersonal in Praxis und Kliniken.

Mit Fortschritt der Corona-Impfungen wurde die Verordnung auf Bundesebene durch immer mehr Sonderregelungen länger und komplizierter. Dazu kamen dann Regelungen der Landesgesundheitsministerium, unterschiedliche Regelungen der verschiedenen Kommunen und der Kassenärztlichen Vereinigungen zur Umsetzung der Prozesse.

Undurchschaubarer und widersprüchlicher Regelungswust

Jetzt sitzen wir mit zunehmender  Regelungsdichte in einem immer undurchschaubareren und zuweilen widersprüchlichen Regelungswust. Und der ärztliche Sachverstand vor Ort bleibt bei der Vielzahl an Vorgaben des Bundes und der Länder teilweise auf der Strecke. Die fehlende Durchschaubarkeit führt dabei automatisch zu Ungerechtigkeiten.

Ein paar Beispiele: Warum wurden zu Beginn etwa Ärzte und Pflegepersonal im ambulanten Bereich geimpft, Covid-Pflegende auf Intensivstationen aber erst vier Wochen später?

Warum darf die Kassiererin geimpft werden, der Mitarbeiter, der im selben Supermarkt die Regale einräumt, aber nicht?

Warum wurden Lehrer von Viertklässlern geimpft, lange bevor die von Fünftklässlern an der Reihe waren? Diese Liste ließe sich beliebig fortführen.

Entscheidung gehört in die Hände der Ärzte

Eine von Bund und Land verordnete Impfpriorisierung kann keine Rücksicht auf individuelle Lebenslagen nehmen – und ist deshalb per se ungerecht. Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Behandlung dagegen ist immer eine Einzelfallentscheidung zwischen Arzt und Patient. Sie kann nicht gerecht oder ungerecht sein, sondern nur medizinisch vertretbar oder nicht. Die Entscheidung, wer wann geimpft werden sollte, gehört deshalb in die Hände des einzelnen Arztes vor Ort.

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Das System der Priorisierung ist aber nicht nur undurchschaubar, es verliert  auch seine Planbarkeit. Und zwar deshalb, weil die Menschen sich individuell verhalten. Manche aus den berechtigten Gruppen wollen sich gar nicht impfen lassen. Andere wollten sich erst nicht impfen lassen, jetzt aber doch. Manche Impfkandidaten beschaffen sich nun in verschiedenen Buchungssystemen Termine. Und führen das System damit ad absurdum.

Die Zeit ist reif für die Übertragung der Impfreihenfolge in das Arzt-Patientenverhältnis vor Ort. Gerechtigkeit entsteht zum jetzigen Zeitpunkt am ehesten durch medizinisches Wissen und gesunden Menschenverstand im Einzelfall.

Jürgen Zastrow ist HNO-Arzt in Köln Riehl und Leiter des Kölner Impfzentrums.

Nehmen wir einmal an, es werden in einem sozialen Brennpunkt 1000 Dosen Impfstoff frei verimpft. Grundsätzlich spricht vieles dafür. Wenn nun aber die 1000. Person ein gesunder 18-Jähriger ist und die 1001. Person eine 50-Jährige, die trotz eines altersbedingt höheren Risikos wieder weggeschickt werden muss, dann ist das Problem der Aufhebung von Priorisierungen offensichtlich.

Hier werden Gerechtigkeitsansprüche unterschritten. Das kann auch nicht durch den Hinweis kaschiert werden, dass allen Bürgerinnen und Bürgern zeitnah ein Impfangebot gemacht werden könne. Denn in den Tagen und Wochen bis dahin wird es noch zu weiteren schweren und tödlichen Infektionen kommen, die hätten verhindert werden können, wenn nicht willkürlich, sondern risikoadäquat geimpft werden würde.

Politischer Zeitenwechsel ist verfrüht

Der politisch begonnene Zeitenwechsel in der Impfstrategie ist insofern verfrüht, als eine gänzliche Aufhebung der Priorisierung nur dann keine Gerechtigkeitsprobleme machen würde, wenn alle Personen mit erhöhtem Risiko und hoher Expositionsgefahr geimpft wären. Das ist weiterhin nicht der Fall, wenn bisher nicht einmal die Hälfte, sondern nur jede dritte Person eine Impfung erhalten hat und gleichzeitig von einem erhöhten Risiko bereits ab den mittleren Jahren ausgegangen werden muss.

Beliebtheitsargumente und Pragmatismus zielen darauf, was vermeintlich viele sagen oder wollen. Beide leisten in der Regel keine Begründung für ethische Entscheidungen. Solange die Gefahr besteht, dass nun Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren und tödlichen Verlauf später geimpft werden als Personen mit einem geringeren Risiko, fehlt dafür die ethische Legitimität.

Folgen späterer Zuteilung können gravierend sein

Je knapper nämlich ein bestimmtes Gut (wie Impfstoffe gegen Covid-19) und je gravierender die möglichen Folgen einer späten Zuteilung (zum Beispiel der tödliche Verlauf einer Corona-Infektion), umso zustimmungsfähiger müssen die Verteilungskriterien sein. Die Gerechtigkeitsansprüche an diese Kriterien sind deshalb besonders hoch, weil bestimmten Menschen – Einzelnen oder Gruppen – nicht nur etwas Wünschenswertes vorenthalten wird, sondern ihnen indirekt erheblich geschadet werden könnte.

Die bisherige Priorisierung nach den Faktoren Dispositionsrisiko (zum Beispiel nach Alter oder bestimmten Vorerkrankungen) oder Expositionsrisiko (zum Beispiel bei medizinischem Personal oder Kita-Mitarbeitenden) wurde als legitim erachtet, weil sie Benachteiligungsgründe nicht an den Faktor Zufall, sondern an Kriterien bindet, die ein hohes (ethisches) Differenzierungsniveau aufweisen.

Das ist dann der Fall, wenn man eine bestimmte Handlung nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor anderen verteidigen kann. In der momentanen Situation, in der verfügbare Impfstoffe zwar anfluten, mögen Menschen jeglicher Altersstufe eine Impfung für sich selbst zwar als absolut wünschenswert erachten. Das Faktum der Impfscham deutet aber dennoch darauf hin, dass Konstellationen – wie eingangs im Fallbeispiel – denkbar sind, in denen man das eigene Agieren nicht vor den anderen verteidigen kann.

Mathias Wirth (36) ist Assistenzprofessor für Systematische Theologie und Ethik in Bern. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Medizinethik.

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