Corona-NotbremseUnmut über Ausgangssperren wächst

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Ein Polizeiauto kontrolliert die Ausgangssperre in Hannover. Diese kommt nun auch auf Köln zu. 

Düsseldorf/Hagen – Der Münsteraner Staatsrechtler Hinnerk Wißmann hat verfassungsrechtliche Bedenken gegen die geplante bundesweite Corona-Notbremse und nimmt dabei auch die geplanten bundeseinheitlichen Ausgangssperren zwischen 21 und 5 Uhr bei einer Sieben-Tages-Inzidenz von über 100 pro 100.000 Einwohner in den Blick.

In einer Expertise für die FDP-Fraktion im Düsseldorfer Landtag warnt Wißmann davor, „die weitreichendsten Beschränkungen von Bürgerrechten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ nach 14 Monaten der Pandemiebekämpfung „in einem Schnellverfahren“ einzuführen.

„Ausgangssperren sind weder produktiv und verstoßen unserer Auffassung nach gegen die Verfassung“, sagt FDP-Fraktionschef Christof Rasche. „Das ist ein Angriff auf die Freiheit. Und Freiheit stirbt bekanntlich scheibchenweise. Da müssen wir aufpassen.“

Welche Bedenken gegen die Bundes-Notbremse und die Ausgangssperren gibt es?

Staatsrechtler Wißmann bezweifelt, ob der Staat „in der letzten Phase der Pandemie“ für bestimmte Maßnahmen wie Ausgangssperren die alleinige Zuständigkeit per Gesetz von den Ländern auf den Bund übertragen könne, ohne zuvor eine verfassungspolitische Grundentscheidung getroffen zu haben.

„Alle adressierten Maßnahmen können auch von den Ländern getroffen werden“, heißt es in seiner Expertise. Eine bundesgesetzliche Regelung trage „die Züge einer Sanktion gegenüber Bundesländern und Kommunen, die (neben den Bürgern) seit einem Jahr die praktische Last der Pandemiebekämpfung tragen“.

Die Bundes-Notbremse müsse in jedem Fall mit einer zeitlichen Begrenzung bis zum 30. September versehen werden, schließlich gehe die Bundesregierung selbst davon aus, die Pandemie im Herbst 2021 im Griff zu haben. Auch müsse der Ausnahmecharakter des Gesetzes betont werden.

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„Damit sich ein freiheitlicher Staat in einer solchen Lage von einem totalitären Staat unterscheidet, reichen keine Bekundungen über die Schmerzlichkeit von Grundrechtsbeschränkungen. Vielmehr sind wirksame Sicherungsmaßnahmen erforderlich“, sagt Wißmann.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die in einem Bundesgesetz geregelten Ausgangsbeschränkungen noch gekippt werden?

„Mehr als die Hälfte der Bundesländer sehen die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes kritisch“, sagt FDP-Fraktionschef Rasche. Die Gründe seien unterschiedlich. „Mal ist es die Verhältnismäßigkeit, mal die Ausgangssperre, mal sind es die Chancen für den Handel.“ Die Kritik komme von vielen Seiten. „Ich bin mir nicht sicher, dass der Bund das Gesetz gegen diesen Widerstand durchdrückt. Nicht in der Form.“ Einheitliche Regelungen zu finden, die nicht effektiv und nicht kontraproduktiv sind, „ist leichter gesagt als getan“, so Rasche.

Wie ist der Fahrplan?

Der Bundestag wird das Gesetz wahrscheinlich am kommenden Mittwoch in zweiter und dritter Lesung beraten. Anschließend muss es durch den Bundesrat. Das soll noch am gleichen Tag geschehen.

In welchen NRW-Kommunen gibt es derzeit Ausgangsbeschränkungen?

Seit Dienstag in den Städten Remscheid und Hagen (21 bis 5 Uhr) sowie im Kreis Minden-Lübbecke (21 bis 4 Uhr). Dort gilt sie bereits seit dem 24. März und ist vorerst bis zum 16. April befristet. Die Ausgangssperre für den Märkischen Kreis (21 bis 5 Uhr), die seit dem 9. April galt und bis zum 18. April vorgesehen war, wurde vom Verwaltungsgericht Arnsberg am Dienstag gekippt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Kreis will die Eilentscheidung nicht hinnehmen.

„Das Thema hat aktuell eine große landes- und bundespolitische Tragweite. Darum stehen wir im engen Austausch mit dem Ministerium, das uns ausdrücklich dazu aufgefordert und darin bestärkt hat, in dieser Fragestellung eine Entscheidung der nächsthöheren Instanz herbeizuführen“, sagte Landrat Marco Voge der „Westfalenpost“. Der Fall liegt jetzt beim Oberverwaltungsgericht in Münster. Wann er verhandelt wird, ist noch nicht klar. Das Verwaltungsgericht Arnsberg kassierte am Mittwoch eine vergleichbare Regelung für den Kreis Siegen-Wittgenstein, die am vergangenen Samstag in Kraft getreten war und eigentlich bis zum 25. April gelten sollte.

Mit welcher Begründung haben die Verwaltungsrichter in Arnsberg die Ausgangssperren in zwei Kreisen kassiert?

Das Infektionsschutzgesetz stelle „in seiner derzeitigen Fassung“ hohe Anforderungen an Ausgangssperren. Sie seien nur zulässig, wenn sich die Zahl der Infektionen mit den bisher getroffenen Schutzmaßnahmen nicht mehr eindämmen lassen, so das Gericht. Der Kreis Siegen-Wittgenstein und der Märkische Kreis hätten das nicht ausreichend darlegen können. Es spreche vielmehr Vieles für „eine nur sehr begrenzte Wirkung der Ausgangsbeschränkung“, heißt es in den Presseerklärungen des Verwaltungsgerichts Arnsberg. Warum gerade private Kontakte zur Nachtzeit im Freien das Infektionsgeschehen in besonderer Weise verstärken, sei nicht ersichtlich. „Studien kämen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen“, so das Gericht.

Städte wie Hagen und Remscheid halten trotzdem an der Ausgangssperre fest. Warum?

„Trotz zahlreicher Maßnahmen und wiederkehrenden Appellen sinken die Zahlen in Hagen nicht“, sagt Oberbürgermeister Erik O. Schulz (SPD), der auch den Krisenstab leitet. „Über 60 Prozent der Ansteckungen mit dem Coronavirus finden nach wie vor in der Familie sowie im Freundes- und Bekanntenkreis statt, so dass die Ausgangssperre nun die nächste, dringend notwendige Konsequenz ist, mit der wir dem Infektionsgeschehen begegnen – auch wenn sie einen starken Eingriff in das bedeutet.“ Die Sieben-Tage-Inzidenz in Hagen lag am Mittwoch bei 268,2. Sie ist mit nur wenigen Ausnahmen seit Anfang des Jahres kontinuierlich auf einem Niveau von über 100, seit Ende März durchgängig über 150.

Was sagen Wissenschaftler? Sind Ausgangssperren ein geeignetes Instrument im Kampf gegen die Pandemie?

Der Aerosol-Forscher Gerhard Scheuch warnt davor, Menschen mit Ausgangsbeschränkungen in die aus infektiologischer Sicht viel gefährlicheren Innenräume zu treiben. Die mit der geplanten Bundes-Notbremse verbundenen Ausgehverbote seien aus fachlicher Sicht kontraproduktiv, sagte der Ex-Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosolforschung dem WDR-Hörfunk. „Wenn wir Ausgangssperren verhängen, dann suggerieren wir der Bevölkerung: Achtung! Draußen ist es gefährlich. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Leute in Innenräumen bleiben, dann ist es gefährlich.“

Führende Aerosol-Forscher aus Deutschland hatten deswegen bereits in einem Offenen Brief an die Bundesregierung und die Landesregierungen einen Kurswechsel gefordert. Joggen mit Maske, gesperrte Parks oder ein Verbot, abends noch auf einen Spaziergang oder eine Zigarette aus einer möglicherweise beengten Wohnung heraus an die frische Luft zu gehen, seien „absurde Maßnahmen“, so Scheuch. Stattdessen sollte es den Bürgern ermöglicht werden, raus zu gehen. Corona-Infektionen seien „ein Innenraum-Problem“. (mit dpa)

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