Nach Flut und CoronaNicht alle kehren ins Alte Stadttor in Bad Münstereifel zurück

Lesezeit 6 Minuten
Wieder in der gewohnten Umgebung: Pflegedienstleiterin Brigitte Zimmer mit Bewohnern des Alten Stadttors.

Wieder in der gewohnten Umgebung: Pflegedienstleiterin Brigitte Zimmer mit Bewohnern des Alten Stadttors.

Bad Münstereifel – Erst Corona, dann die Flut und schließlich der Neustart: In der Seniorenwohnanlage Am Alten Stadttor in Bad Münstereifel begegnen den Verantwortlichen alle Probleme der Pflege im Allgemeinen, plus die der Flutregion im Speziellen. Sie gehen mit viel Herzblut und Liebe zum Beruf ran – zudem rufen sie ab September als Teil der „Gut Köttenich“-Gruppe die Zeitenwende aus.

Die Flutnacht

Nach mehr als einem Jahr Corona-Dauerbelastung hat das Team im Juli 2021 eigentlich auf ein wenig Entspannung und die Gelegenheit zum Durchatmen gehofft – doch weit gefehlt. Als das Schlimmste bezeichnet Einrichtungsleiterin Marlene Helten die Flutnacht, als das Wasser immer weiter gestiegen ist, Strom und Telefon ausgefallen sind und sie festgestellt hat, dass sie mit fast 100 Menschen in ihrer Obhut auf sich alleine gestellt ist: 78 Bewohner der Pflegeeinrichtung, teils auf Sauerstoff, Rollstuhl oder Rollator angewiesen, fünf Menschen im Servicewohnen plus die diensthabenden Mitarbeiter.

Die Tage des Improvisierens

Doch auch die Tage danach sind nicht viel besser. Viele der mehr als 70 Mitarbeiter sind durch die Flut betroffen, mehrere haben in ihrem engen Umfeld Todesfälle zu beklagen. Und die Einrichtung? Ist nicht betriebsbereit, aber voller Menschen. Eimerweise wird dreckiges Wasser von draußen reingeschleppt, um die Toiletten notdürftig zu spülen. Mit Bollerwagen wird Verpflegung zum Alten Stadttor gefahren, da die Straßen unpassierbar sind. Marlene Helten richtet sich gegenüber auf dem Mäuerchen an der Realschule ihr Büro ein: „Das war der einzige Punkt in der Nähe, an dem Mobilfunk-Empfang war.“ Hilfe von allen Seiten erhalten Helten und ihr Team, vor allem aus den eigenen Reihen. Die Bad Münstereifeler Einrichtung gehört zur „Gut Köttenich“-Gruppe, die wiederum zur Schöner-Leben-Gruppe. „In den Tagen war ich froh, Teil eines großen Unternehmens zu sein. Alleine hätten wir das nicht geschafft“, sagt Helten.

Die Evakuierung

Am Wochenende nach der Flut werden die Bewohner evakuiert und auf andere Einrichtungen des Konzerns verteilt: Es geht nach Alsdorf, Jülich, Linnich, Nörvenich, Düren oder Königswinter. Rollatoren und Rollstühle müssen mit, die Fernseher, teils die Möbel. „Es war für jeden ein kleiner Umzug“, so Helten. Auch das Gros des Personals zieht mit um. Teils wird in neuen Einrichtungen eine bislang nicht belegte Station in Betrieb genommen und von den Bad Münstereifelern betrieben, teils helfen sie von Pflege über Küche bis Reinigung in den Einrichtungen, in denen „ihre“ Bewohner nun übergangsweise leben.

Als das Haus leer ist, halten Helten und ein gutes halbes Dutzend Mitarbeiter in Bad Münstereifel die Stellung. Sie übernehmen die Koordination, etwa beim Wäscheservice. Sie machen Fahrdienste, um den Bewohnern vergessene Dinge zu bringen. Später packen sie Wintersachen und bringen sie. Bis zum März lebt und arbeitet das Personal verstreut und im Provisorium. Währenddessen setzen die Handwerker das Haus wieder instand. Auch wird die Gelegenheit zu Renovierungen in den oberen, nicht von der Flut betroffenen Etagen genutzt.

Die Rückkehr

In mehreren Etappen kehren Bewohner und Mitarbeiter im März nach Bad Münstereifel zurück. Oft fließen Tränen, wenn die Busse vorfahren: Tränen der Wiedersehensfreude nach so vielen Monaten. Aber auch Tränen der Trauer, weil einige fehlen. 33 Bewohner der Pflegeeinrichtung sind wieder da. Einige sind in der Zwischenzeit verstorben. „Das war für uns besonders schlimm. Wir hatten doch jeden mit dem Versprechen verabschiedet: Wir holen euch zurück“, sagt Helten. Zudem haben einige die Einrichtung gewechselt, andere sind am Ort ihrer Evakuierung geblieben. Bei manchen sei die Familie dann näher, so Helten. Und gerade bei Demenz-Patienten seien häufige Ortswechsel ungünstig.

Mitarbeitende dringend gesucht

Quereinsteiger

Um Quereinsteiger wirbt Marlene Helten explizit: „Niemand sollte denken: Ich kann das nicht.“ Verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten gebe es. Zudem seien so viele Aufgaben abzudecken, nicht nur der Bereich der Pflege. Überall werden Leute gebraucht und gesucht: im Service, im Wohnbereich, in der Küche. All das seien Bereiche, durch die die Pflegekräfte entlastet werden können.

Ein Beispiel gibt’s bereits im Alten Stadttor: Nevin Schön. Eine Ausbildung als Bestatterin hat sie gemacht. Über eine Zeitarbeitsfirma und als Reinigungskraft ist sie nach Bad Münstereifel gekommen. Und habe sich in den Pflegeberuf verliebt. Inzwischen ist sie in der Ausbildung und auf dem besten Weg: Die Prüfung am Ende der Probezeit hat sie mit 1,0 bestanden. (rha)

Die Psyche

Die ganze Zeit über – und auch heute noch – stehen psychologische Betreuungsangebote für Bewohner wie Mitarbeiter zur Verfügung. Gerade in den ersten Tagen nach der Rückkehr seien die Bewohner unsicher und unruhig gewesen, so Helten: „Sie haben oft rausgeschaut. Oder gefragt, ob sie den Aufzug wirklich benutzen können.“ Sorgen und Ängste plagen auch die Mitarbeiter. Zudem müssen die sich nach all den Monaten als Team wiederfinden. „Das Zusammenleben musste sich wieder einspielen. Es war, wie ein ganz neues Haus aufzumachen“, beschreibt es Helten.

Der Aderlass

Nicht nur bei den Bewohnern, auch bei den Mitarbeitern sind längst nicht alle zurückgekehrt. Alleine im Bereich der Pflege sind etwa 15 Kräfte nicht mehr dabei. Etwa ein Drittel hat laut Helten den extremen Belastungen der Corona-Zeit Tribut gezollt und den Beruf verlassen. Einige haben sich nach Heltens Kenntnis zunächst eine Auszeit genommen, nun arbeiten sie etwa in einem Sanitätshaus oder einer Arztpraxis. Ein weiteres Drittel hat während der Evakuierungszeit – etwa wegen der langen Fahrstrecken – den Arbeitgeber gewechselt.

Und ein Drittel hat nach der Rückkehr erkannt, nicht mehr in Bad Münstereifel arbeiten zu können. Eine Kollegin, so Helten, habe ihr geschildert, dass sie nicht mehr den Berg hinabfahren könne, ohne dass es ihr die Brust zuschnüre.

Die Lage

51 Bewohner leben aktuell im Alten Stadttor. Es könnten mehr sein. Derzeit warten laut Helten acht Menschen auf einen Platz. Der wäre im 80-Betten-Haus durchaus vorhanden – es fehlt aber am Personal. Für die derzeitige Zahl der Bewohner reichen die Mitarbeiter, für eine Vollbelegung müssten es aber rund 20 Prozent mehr sein, sagt Helten. Weitere Bewohner einziehen lassen kommt für Helten so nicht infrage: „Zuerst muss das Personal her. Wir dürfen die Mitarbeiter nicht wieder ans Limit bringen.“

Mehr Geld und mehr Köpfe

Wie schwierig die Lage auf dem Fachkräftemarkt insbesondere in den Pflegeberufen ist, ist hinlänglich bekannt. Die dünne Personaldecke führt zur massiven Belastung. Vor allem das Einspringen bezeichnet Helten als belastend: „Es gibt keine Reserven, um Ausfälle zu kompensieren.“ Klar ist: Mehr Köpfe müssen her. Nur wie?

Die positive und herzliche Stimmung im Haus, die sich von den Mitarbeitern auf die Bewohner überträgt, das Teamgefühl und zahlreiche Maßnahmen, dies zu stärken, führt Helten für ihr Haus gerne ins Feld. Und das „Wege finden“, um beispielsweise Familie und Beruf unter einen Hut bringen zu können.

Das könnte Sie auch interessieren:

Mehr Geld ist auch ein gewichtiger Faktor. Ab September müssen sich die Träger privater Pflegeeinrichtungen entweder einem Tarifvertrag anschließen oder sich „anlehnen“. Für Letzteres hat sich die „Gut Köttenich“-Gruppe laut Helten entschieden, ist über die tariflichen Löhne gegangen und hat das Entlohnungsmodell „Zeitenwende“ genannt. Es gilt auch für die pflegenahen Beschäftigten, etwa im Servicebereich.

„Die Mitarbeiter müssen so viel verdienen, dass sie auch mit einer 80-Prozent-Stelle ihren Lebensunterhalt bestreiten können“, sagt Helten. Und das werde durch die neue Gehaltsstruktur erreicht, sagt sie – im Prinzip werde eine 80-Prozent-Stelle zu 100 Prozent bezahlt. Dazu werden Urlaubs- und Weihnachtsgeld eingeführt. „Das Paradies werden wir nicht schaffen“, sagt Helten. Doch es sei wichtig, auf ein anderes Level zu kommen. Und dass die Pflege – „ein ganz toller Beruf“ – sich besser verkaufe.

KStA abonnieren