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Familie verlangt AntwortenDie einjährige Julia wächst mit nur einer Hand auf

Lesezeit 6 Minuten
Julia_Fehlbildung

Vor etwa eineinhalb Jahren kam Julia mit einer Fehlbildung zur Welt.

  • „Es war ein Schock“, erinnert sich die 36-jährige Mutter, als sie erfuhr, dass Julia mit nur einer Hand zur Welt kommen wird.
  • Was könnte da noch kommen? Noch weitere Einschränkungen für ihr Kind?
  • Doch im Alltag erhält sie Rückhalt – auch von ihren jungen Söhnen.

Kreis Euskirchen – Es ist dieses Lachen, zu dem nur Kinder in Julias Alter fähig sind. Dieser Blick, voller Neugier auf die Welt. Gekonnt greift die Eineinhalbjährige ihr Fläschchen. „Das klappt meistens ganz gut“, sagt ihre Mutter. Sie ist sicher: „Unser Kind wird seinen Weg gehen.“

Krankenkasse zahlte keine weiteren Untersuchungen

Dass es kein einfacher Weg werden wird, weiß Birgit Müller (Namen geändert) seit jenem Tag in der 13. Schwangerschaftswoche, an dem sie eine Nackenfaltenmessung hat vornehmen lassen. „Es war ein Schock“, erinnert sich die 36-Jährige aus dem Stadtgebiet Euskirchen an den Moment, als sie erfuhr, dass Julia mit nur einer Hand zur Welt kommen wird. „Ich habe damals viel geweint“, erzählt die Mutter. Was könnte da noch kommen? Noch weitere Einschränkungen für ihr Kind? Eine Unsicherheit, die erst weitere Tests ihr, ihrem Mann und den beiden Brüdern von Julia nahmen. Dass die Krankenkasse diese weiteren Untersuchungen, etwa die im Vergleich zur Fruchtwasseruntersuchung teureren Bluttests, trotz dieses ersten Ergebnisses nicht habe zahlen wollen, sei schon ärgerlich gewesen.

Auch um auf diese Schwierigkeiten hinzuweisen, hatte sich Birgit Müller bereit erklärt, mit dieser Zeitung zu reden, bat aber darum, dass sie und Julia anonym bleiben.

Zahl der Fehlbildungen ist besorgniserregend

Sie sei froh, dass die auffällige Zahl von Fehlbildungen bei Kindern in Julias Alter derzeit breit diskutiert werde. „Ich wünsche mir so sehr, dass die Ursachen bekannt werden“, sagt Birgit Müller: „Denn irgendwann wird uns unser Kind fragen, warum es nur eine Hand hat.“

Vier Fälle im Kreis Euskirchen bekannt

Eine Hebamme machte kürzlich öffentlich, dass innerhalb weniger Wochen in einer Gelsenkirchener Geburtsklinik drei Babys geboren wurden, denen eine Hand oder Teile einer Hand fehlten. Dem CDU-Bundestagsabgeordneten Detlef Seif sind vier ähnliche Fälle im Kreis Euskirchen bekannt. Die Betroffenen, so Seif, wohnen in drei Kommunen innerhalb eines Radius’ von zehn Kilometern. Die Kinder seien alle etwa ein Jahr alt.

Ein Expertenteam an der Uniklinik Mainz befasst sich laut deren Pressestelle mit der Frage, „ob drei bekannt gewordene Fälle aus Sicht eines Melderegisters bereits eine kritische Häufung sind“.

Zu den Fällen im Kreis Euskirchen könne das Team keine Einschätzungen geben: „Unser Mainzer Geburtenregister an der Universitätsmedizin Mainz dokumentiert die Fehlbildungen für Rheinland-Pfalz. Ein bundesweites Melderegister besteht bislang nicht.“

Die Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin forderte am Donnerstag ein Zentralregister und mehr bezahlte Ultraschall-Untersuchungen. Eine Ultraschall-Feindiagnostik um die zwölfte Woche könne den meisten Schwangeren die Sorge vor Fehlbildungen ihres Ungeborenen nehmen. (sch)

Sie selbst kann sich die Fehlbildung bei Julia nicht erklären. Als Arzthelferin, die bei einem Gynäkologen gelernt hat, wisse sie, was in einer Schwangerschaft erlaubt ist und was nicht: „Ich habe zum Beispiel keine Tabletten genommen.“

Schmaler Grad zwischen Geschwisterliebe und Selbstständigkeit

Während sie das erzählt, wird Julias Lachen von einem Hungergefühl unterbrochen. Ein Karotten-Riegel schafft rasch Abhilfe. Langsam schlummert das Kind im Arm seiner Mutter ein. „Manchmal, wenn sie versucht, einen Becher zu nehmen, und ihr das nicht gelingen will, wird sie etwas wütend“, erzählt Birgit Müller. „Wir werden ihr immer helfen“, habe Julias großer Bruder, der heute 13 ist, gesagt, als der Ultraschall das Schock-Ergebnis gebracht hatte. „Ich habe ihm aber erklärt, dass es für das Kind das Beste ist, wenn es so selbstständig wie möglich mit dieser Situation klarkommt.“

Die Reaktion des heute achtjährigen Sohnes habe der Familie in der damals schrecklichen Situation sogar einen heiteren Moment beschert: „Besser eine Hand als ein Bein“, habe er ziemlich trocken gesagt.

„Pures Glück“

Heute sehe sie mit mütterlichem Stolz, wie liebevoll die Großen mit der Kleinen umgehen. Das Glück, dieses Kind zu haben, sagt Julias Mama, wiege so viel mehr als die Sorgen wegen der Fehlbildung. „Es war pures Glück, dieses Kind in den Armen zu halten – das schönste Gefühl der Welt“, erinnert sich Birgit Müller an den Tag der Geburt im vergangenen Jahr im Bonner Marien-Hospital.

Die ersten Minuten habe sie auch gar nicht auf die Stelle geschaut, an der die Hand fehlt. Nichts sollte dieses Glücksgefühl stören. Erst später habe sie wieder daran gedacht, dass Julia zu den seltenen Kindern gehört, die mit einer Behinderung zur Welt kommen. „Dann kommt natürlich wieder die Frage: Warum?“

Den Betroffenen fehlen Antworten

Diese Frage stellen sich derzeit auch zahlreiche Experten angesichts der Auffälligkeiten etwa in einer Gelsenkirchener Geburtsklinik, in der in kurzer Zeit drei Babys mit ähnlichen Fehlbildungen wie bei Julia geboren wurden.

Birgit Müller verfolgt die Berichterstattung und weiß um die vielen Spekulationen: Sind Pestizide dafür verantwortlich? Andere Umwelteinflüsse? Woher kommen diese Häufungen in diesem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang?

Vier Fälle, so der CDU-Bundestagsabgeordnete Detlef Seif, seien ihm allein aus dem Kreis Euskirchen bekannt. „Ich bin Herrn Seif sehr dankbar, dass er sich dafür einsetzt, dass die Hintergründe ermittelt werden“, sagt Birgit Müller. Vor allem die Unklarheit zehre an ihr: „Auch wenn ich mir sicher bin, dass ich nichts falsch gemacht habe, belastet es mich sehr.“ Dann fügt sie nachdenklich hinzu: „Vielleicht brauche ich eine Antwort, um das Ganze für mich abschließen zu können.“

Inklusion und integrative Kita-Gruppen

Sie hoffe, dass nichts unter den Teppich gekehrt werde. „Wie lange hat das bei den Contergan-Fällen gedauert, bis die Opfer entschädigt wurden!“, zeigt sie sich skeptisch. Dass es sich lediglich um eine „Laune der Natur“ handele, glaube sie nicht.

„Wir werden alles tun, um dem Kind ein gutes Leben zu ermöglichen“, so die 36-Jährige. In ein paar Jahren etwa werde sich für Julia die Frage stellen, ob sie eine Prothese haben möchte. „Wenn ja, soll sie die bekommen“, sagt Birgit Müller. Auch wenn das einige 10 000 Euro kosten könnte. „Dann müssen wir halt einen Kredit aufnehmen, wenn die Versicherungen das nicht zahlen.“ Unzählige solcher Fälle, so hätten sie und ihr Mann recherchiert, würden vor Gericht entschieden.

Doch wichtiger sei es, dass Julia trotz des Handicaps ein glückliches Leben hat. „Ich mache mir Sorgen, dass sie mal von anderen Kindern gehänselt wird“, sagt Birgit Müller. Gut, in Zeiten von Inklusion und integrativen Kita-Gruppen sei die Gesellschaft Menschen mit Behinderungen gegenüber offener. Doch auch das schütze nicht immer vor Diskriminierungen.

Die Blicke tun weh

„Die etwas verschämten Blicke von manchen Erwachsenen tun schon weh“, erzählt sie aus dem Alltag. Oftmals geschähen sie aus der Unsicherheit heraus, weiß sie. „Da sind mir aber die Kinder lieber, die frei heraus fragen: Was ist denn mit Julias Hand?“ Damit könne sie umgehen, so Birgit Müller.

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Ob die medizinische Technik Julia einmal eine künstliche Hand bieten kann? „Wir werden es sehen“, sagt die Mutter. Wenn ja, solle Julia selbst entscheiden, ob sie das will: „Solche Operationen sind ja immer mit der lebenslangen Einnahme von Medikamenten verbunden.“ Wenn Julia aber selbst einmal Kinder bekommen möchte, schließe sich das zumindest eine Zeit lang aus.

Die Eineinhalbjährige schläft inzwischen fest. Birgit Müller legt das Mädchen behutsam auf die Couch und setzt sich zu ihm. Das schlafende Kind zeigt ein Lächeln – eins, zu dem nur Kinder in seinem Alter fähig sind.

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