Flutkatastrophe an der AhrBonner Gutachter bringt Landesregierung in Erklärungsnot

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Ahrtal_Ahrweiler

Das Ahrtal wurde von der Juli-Flut schwer gezeichnet. 

Bonn/Ahrtal – Thomas Roggenkamp hat sich bereits in jungen Jahren einen Namen als Hochwasser-Experte gemacht. Der promovierte Dozent an der Bonner Uni erstellte nun im Auftrag der Koblenzer Staatsanwaltschaft ein abschließendes Gutachten zur Flutkatastrophe an der Ahr. Sein Fazit in der 36-seitigen Expertise, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt, bringt erneut die rheinland-pfälzische Landesregierung in Erklärungsnöte.

„Das Hochwasser vom 14. auf den 15. Juli 2021 übertraf in seiner Größe alle Ahr-Hochwasser, die seit der Errichtung von Pegelmessanlagen auftraten“, so der Gutachter. In der Spitze habe die Flut das seit Beginn der Pegelmessung größte Hochwasser vom Juni 2016 um den Faktor vier bis fünf überstiegen. Bereits 1804 habe sich im Ahrtal eine Flutkatastrophe vergleichbarer Messgröße mit vergleichbaren „katastrophalen Schäden“ ereignet. „Dies und weitere historische Hochwasser mit höherem Wasserstand und stärkerem Abfluss als 2016 wurden in der Gefahrenabschätzung nicht berücksichtigt.“

„Pegelstände unterschätzt“

Roggenkamp kritisiert vor allem das Landesumweltamt (LfU) Reinland Pfalz. Die Behörde zeichnete Mitte Juli 2021 für die Hochwasser-Prognosen - im Fachjargon hydrologische Voraussagen – verantwortlich. „Die Niederschlagsprognosen des Deutschen Wetterdienstes sowie weiterer meteorologischer Institutionen lagen nahe an den tatsächlich gefallenen Niederschlagsmengen“, heißt es in dem Gutachten. „Entsprechende Warnungen und Prognosen des Landesumweltamtes Rheinland-Pfalz zur Hochwassergefahrenlage und der erwarteten Pegelstände erfolgten erst im Laufe des 14. Juli 2021 und haben die tatsächlich erreichten Pegelstände unterschätzt.“

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Damit bestätigen sich Recherchen dieser Zeitung, die nahe legen, dass die regionalen Rettungskräfte und Krisenstäbe in den Ahrregionen auf Grund fehlerhafter Flutprognosen aus Mainz lange Zeit wie im Blindflug agierten, weil sie das tatsächliche Ausmaß der Pegelstände nicht kannten. Wenn überhaupt erfolgten Warnhinweise an die Anwohner des 85 Kilometer langen Flusses viel zu spät. Bei der Katastrophe verloren allein im Ahrtal 134 Menschen ihr Leben.

Politik weist Fehler von sich

Das LfU ist direkt dem Umweltministerium unterstellt. Während der Flut amtierte dort noch die Grünen-Politikerin Anne Spiegel als Ministerin. Später musste sie von ihrem Posten als Bundesfamilienministerin wegen der Urlaubs- und Chataffäre im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe zurücktreten. Am Tag nach dem Unglück sorgte sich die Grünen-Politikerin vor allem darum, dass der rheinland-pfälzische Koalitionspartner SPD ihr die Schuld an dem miserablen Krisenmanagement in der Flutnacht in die Schuhe schieben könnte.

Im parlamentarischen Untersuchungssauschuss beteuerten sowohl Spiegel als auch ihr Staatssekretär Erwin Manz, dass es von ihrer Seite keine Fehler gegeben habe. Wichtig sei, dass die Informationen des LfU in die betroffene Region übermittelt worden seien, sagte Manz im April. Dies habe stattgefunden, „da habe ich mich abgesichert". Der Staatssekretär erklärte: „Eine Katastrophe kann nur bewältigt werden, wenn jedes Rad ineinander greift." Laut dem neuen Gutachten für die Staatsanwaltschaft kann hiervon keine Rede sein. Vielmehr erreichten die regionalen Stellen falsche Hochwasser-Nahrichten, die viel zu niedrig ausfielen. Die Retter wurden durch die Flutwellen völlig überrascht.

Der Bonner Gutachter Roggenkamp liefert die Chronologie: „Noch am 11.07.2021 ging das LfU …lediglich von einem kleinen Hochwasser aus. Zu diesem Zeitpunkt lagen allerdings bereits Prognosen des Deutschen Wetterdienstes vor, wonach extreme Niederschlagsmengen im nördlichen Rheinland-Pfalz in den kommenden Tagen zu erwarten waren.“ Das LfU habe zwar die Warnstufe am 13. Juli angehoben. Erst tags darauf um 11:16 Uhr habe man auf die zweithöchste Warnklasse 4 (Hohe Hochwassergefährdung) aufgestockt. Dabei lagen die Pegel bereits deutlich über den Flutständen im Jahr 2016. Die höchste Warnklasse 5 riefen die LfU-Experten erst um 17:17 Uhr aus.

Alarmglocken hätten früher läuten müssen

Zu diesem Zeitpunkt lieferte der Pegel an der oberen Ahr in Müsch bereits seit drei Stunden keine Messdaten mehr. Der letzte Wert lag 2,38 Meter über dem Normalmaß. Bereits am frühen Nachmittag hätten also die Alarmglocken läuten müssen. Doch nichts geschah. Vielmehr senkte das LfU am späten Nachmittag die Hochwasserprognosen ab, so dass viele Hilfskräfte dachten, es würde nicht so kritisch werden. Das Landesumweltministerium veröffentlichte auch eine Pressemitteilung. Tenor: Es werde gar nicht so schlimm.

Laut dem Gutachten revidierte das LfU erst um 20:22 Uhr seine falsche Vorhersage durch deutlich höhere drohende Pegelstände. „Doch erfolgte diese Prognose erst spät und bildete … nicht das tatsächliche Geschehen ab“.  So wurde am Pegel Altenahr der erwartete Höchststand mit 7,07 Meter über Pegelnullpunkt angegeben, weitaus höher als noch 2016. Wie sich aber später ergab, lag die Flutspitze laut dem Gutachter bei zehn Metern.

Keine landesweite Warnung – Informationsflüsse stockten

Spätestens in jenen Abendstunden musste folglich „von einem Hochwasser mit katastrophalen Folgen ausgegangen werden. Wie die Auswertung eingegangener Notrufe zeigte, hatte die Hochwasserwelle zu diesem Zeitpunkt bereits große Teile des Oberlaufes erreicht.“ Dennoch erfolgte keine landesweite Warnung. Die Informationsflüsse stockten. Am Freitag will der Untersuchungssauschuss den Grünen-Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz nochmals zu den damaligen Vorgängen rund um die Flutnacht vernehmen. Dabei wird die Landtagsopposition Manz sicherlich auch mit den Erkenntnissen aus dem Gutachten der Staatsanwaltschaft konfrontieren.

Seit gut einem Jahr ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den inzwischen abgetretenen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und seinen Krisenstabsleiter Michael Z. in Ahrweiler wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Der Anfangsverdacht steht im Raum, dass die Bevölkerung in dem Landkreis trotz erkennbarer Hinweise zu spät vor der tödlichen Flutwelle gewarnt wurde.

„Komplexität im Vorfeld sicherlich nicht abzusehen“

Die Ausführungen des Gutachters widersprechen dieser These. Abseits der falschen Flut-Prognosen des LfU macht Roggenkamp weitere Faktoren dafür verantwortlich, dass sich die Lage in jener Flutnacht zuspitzte.

Demnach schwammen „große Mengen an Treibgütern“ vom Oberlauf der Ahr flussabwärts und blockierten an zahlreichen der 100 Brücken den Flussverlauf. Das Wasser staute sich. Zugleich traten die Nebenbäche über die Ufer und ließen die Ahr weiter anschwellen. Immer wieder brachen die Blockaden auf, das angestaute Wasser floss sturzflutartig die Ahr hinunter. „Eine solche Komplexität war im Vorfeld sicherlich nicht abzusehen und lässt sich auch durch Modellierungen nicht prognostizieren, zumal diese Faktoren lokal sehr unterschiedlich auf das Flutgeschehen ausgewirkt haben“, so der Wissenschaftler.

Mit dieser Analyse im Rücken geht der Verteidiger des Krisenstabsleiters davon aus, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen seinen Mandanten einstellen wird. „Mit dem Gutachten ist der Vorwurf nicht mehr haltbar, dass mein Mandant das Geschehen hätte vorhersehen können, um andere Maßnahmen zu treffen“, meint der Bonner Anwalt Christoph Arnold auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Die Einsatzkräfte hatten in der Flutnacht weder einen Überblick über das Geschehen, noch über das Ausmaß. All dies wurde erst am Tag darauf offenbar“, so Arnold.

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