KindesmissbrauchFall Bergisch Gladbach – Das Netzwerk des Grauens

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Bergisch Gladbach Spielplatz WAGNER

Spielplatz gegenüber eines Wohnhauses eines der Tatverdächtigen von Bergisch Gladbach

  • Seit im Oktober Fälle von Kindesmissbrauch in Bergisch Gladbach bekannt wurden, haben Polizisten ein weit verzweigtes Geflecht an mutmaßlichen Tätern entdeckt.
  • Die Ausmaße sind so erschreckend wie gewaltig. Möglicherweise organisierten die Täter Treffen in Privathäusern, um sich gegenseitig an ihren Kindern zu vergehen.
  • In unserem großen Dossier gehen wir außerdem der Frage nach, ob es Verbindungen zum Fall Lügde gibt.

Enthemmt. Tabulos. Ohne jede Empathie. In Chats und abgeschotteten Gesprächsforen tauschten sich Kinderschänder über ihre perversen Vorlieben aus – in einem Duktus, als plauderten sie übers Wetter. Seit Monaten blicken die Polizisten und Staatsanwälte der Ermittlungsgruppe (EG) „Berg“ in menschliche Abgründe. Arbeiten sich durch eine gigantische Menge sichergestellten Datenmaterials, analysieren, werten aus, verfolgen digitale Spuren in beschlagnahmten Handys, PCs und anderen Datenträgern, um weitere Täter zu entlarven.

Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus Justizkreisen verfolgen die Ermittler inzwischen Hinweise, wonach kleinere Männergruppen in Privathäusern Zusammenkünfte organisiert haben, um sich gegenseitig an ihren Kindern zu vergehen. Unklar ist, wie viele Treffen dieser Art es gab und wo. Die Organisatoren agierten äußerst konspirativ und hielten den Teilnehmerkreis offenbar bewusst klein.

Kinder wurden für Missbrauch „erzogen“

Weiteren Ermittlungen zufolge sollen manche Sexualstraftäter ihre Opfer regelrecht so erzogen haben, dass die Jungen und Mädchen den Missbrauch vom Babyalter an als normal empfinden mussten. Es sei erschreckend, sagt Polizeisprecher Wolfgang Baldes, dass die Erwachsenen die Gedanken dieser Kinder manipulieren, um sie zu missbrauchen. Das Unrecht der Taten könnten die Jungen und Mädchen gar nicht erfassen. „Andere Kinder gucken zu Hause Sandmännchen“, sagt Baldes, einige der Opfer hingegen seien mit Pornos konfrontiert worden.

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Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat in einem Dossier die Faktenlage im wohl größten Missbrauchskomplex der deutschen Kriminalgeschichte zusammengetragen. Die Reporter schildern die schwierigen Ermittlungen der von der Polizei Köln geführten „EG Berg“ gegen einen bundesweiten Zirkel von Kinderschändern. Die Beschuldigten haben ihre Taten gefilmt und auf Messenger-Plattformen eingestellt. Es ist ein weit verzweigter Verbund, in dem gigantische Mengen kinderpornografischen Materials getauscht wurden – und wohl noch immer werden. Das Hauptaugenmerk der Fahnder liegt noch immer darauf, schnellstmöglich weitere Täter zu identifizieren, um andauernde Missbräuche zu stoppen

„Abgründig und ekelerregend“

Bei ihren bisherigen Nachforschungen stießen die Strafverfolger auf Livestream-Foren im Internet, in denen Männer sich in Echtzeit vor den Augen anderer Teilnehmer an Kindern vergangen haben sollen. „Je tiefer man in diesen Bereich vordringt, desto mehr kriegt man das Gefühl, man hat es mit Zuständen auf einem anderen Planeten zu tun, so abgründig und ekelerregend ist das“, bekennt ein Beamter, der mit den Ermittlungen befasst ist.

Aber es ist kein anderer Planet, nicht mal ein ferner Kontinent. Die Täter wohnten in der Nachbarschaft. In Bergisch Gladbach. In Viersen. In Aachen. Viele von ihnen sind Familienväter. Nach den bisherigen Ermittlungen scheinen ihre Ehefrauen ahnungslos gewesen zu sein.

Insgesamt 56 Beschuldigte hat die Polizei in dem Ermittlungskomplex der „EG Berg“ bislang identifiziert, knapp die Hälfte lebt in NRW. Manchen wird schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen, anderen Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Schriften, wieder anderen beides. Sieben Verdächtige aus NRW sitzen in Untersuchungshaft. So etwa Jörg L., 42, aus Bergisch Gladbach, der seine zweijährige Tochter mehrfach missbraucht haben soll.

Wer mit Fahndern spricht, die schon lange im Bereich Kindesmissbrauch und Kinderpornografie ermitteln, der erfährt unter anderem, dass die Zahl der bundesweiten Fälle von Kindesmissbrauch seit vielen Jahren konstant ist, eher sogar sinkt. Die Zahl der Täter dagegen, die Filme und Bilder mit kinderpornografischem Inhalt konsumieren, steigt kontinuierlich an. Grund sei vor allem der Ausbau digitaler Kommunikationswege.

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„Inzwischen werden die Taten gefilmt und über das Internet tausenden Gleichgesinnten verfügbar gemacht, die früher gar keinen Zugang dazu hatten“, erklärt ein Experte für Sexualdelikte. Und dieser Zugang werde immer leichter. Vor 20 Jahren hätten sich die Täter Fotos oder Videos über „dunkle Kanäle“ oder Beziehungen in die Szene besorgen müssen. „Heute reicht ein Smartphone.“

Und so wachsen auch die Datenmengen unaufhörlich. Allein 14 Terabyte Fotos und Videos hat die Polizei beim Missbrauchsfall von Lügde sichergestellt. Über 20 Jahre hinweg hatten die beiden Haupttäter Jungen und Mädchen auf einen Campingplatz gelockt und sie dort in ihren Wohnwagen vergewaltigt. Der Dauercamper Andreas V., 56, wurde zu 13 Jahren verurteilt, weil er sich seit 1998 an mindestens 32 Mädchen vergangen hatte. Teils hatte der Hartz-IV-Empfänger die Taten gefilmt und ins Netz gestellt. Manche Bilder fanden sich nun auch im Komplex der EG Berg wider.

Mehr Missbrauchsdaten als im Fall Lügde

Je größer die Kinderporno-Szene, desto größer auch das Datenvolumen, das bei den Durchsuchungen auftaucht. Die Mengen sind gigantisch. „Es gibt auf jeden Fall einen großen Markt für Missbrauchsabbildungen“, erläuterte Sven Schneider, Leiter des Cybercrime-Kompetenzzentrums beim Landeskriminalamt (LKA) in Düsseldorf schon im Vorjahr dieser Zeitung.

Der Aufwand für die Ermittler im LKA und in den Polizeibehörden ist enorm. Um ein Terabyte auszuwerten, bräuchte ein einzelner Beamter ungefähr elf Monate, wenn er jedes Bild nur eine Sekunde lang überprüfen würde. Nimmt er sich zehn Sekunden Zeit, bräuchte er knapp zehn Jahre. Immerhin: Eine neue Software hilft, etwaige Dopplungen automatisch auszusortieren.

Dem LKA und anderen NRW-Polizeibehörden lagen im Vorjahr insgesamt 1000 bis 3000 Terabyte Material mit potenziell kinderpornografischem Inhalt vor – und das war noch vor dem Fall Bergisch Gladbach, der den Missbrauchsskandal von Lügde in der Masse der Aufnahmen und Anzahl der Tatverdächtigen bei weitem übertrifft. „Ich kann nicht sagen, wann wir mit den Ermittlungen an ein Ende kommen“, sagt Kriminaldirektor Michael Esser von der Polizei Köln, der die „EG Berg“ leitet. „Die Dimension ist erdrückend.“

Ältere Studien sprechen von einem Prozent der Bevölkerung, das pädophile Neigungen habe. Neue Studien nennen fünf Prozent, das wäre jeder Zwanzigste. Die medizinische Diagnose „Pädophilie“ träfe auf weniger als ein Promille der Deutschen zu. Aber auch das wären hierzulande noch 80.000 Personen – fast ausschließlich Männer.

Wenig Bezüge zum Darknet

Wie finden sich diese Menschen zusammen? Wie und wo tauschen sie ihre Filme und Bilder, deren Inhalt selbst hartgesottenen Polizisten derart zusetzt, dass die Ermittlerteams von mehreren Seelsorgern unterstützt werden müssen?

Eine Erkenntnis, die die Polizei aus dem aktuellen Missbrauchskomplex um Jörg L. aus Bergisch Gladbach bereits gezogen hat, ist diese: Bezüge zum so genannten Darknet, einem abgeschotteten Bereich des Internets, in dessen Anonymität sich auch viele Straftäter bewegen, finden sich kaum. Stattdessen nutzten die Pädokriminellen zum Erstkontakt offenbar vielfach öffentliche und unverfängliche Internetplattformen wie Facebook und landläufige Chatprogramme wie Whatsapp.

In der Facebookgruppe „Schenken macht Freude“ zum Beispiel, deren Teilnehmer sich eigentlich über Weihnachtsgeschenke austauschten, fanden sich einige der Verdächtigen angeblich über szenetypische Codewörter zusammen – und verabredeten sich zu Chats in kleineren Gruppen oder auch zu zweit. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit lotete man die gegenseitigen Neigungen und Interessen weiter aus und gründete Tauschgruppen, zu denen nur Zugang bekam, wer selbst kinderpornografisches Material einbrachte.

Einige sollen ihre Töchter vergewaltigt haben, über einem Kinderbett fanden die Ermittler eine fest installierte Kamera. Andere missbrauchten mutmaßlich ihre Nichten oder Neffen. Das jüngste Opfer war ein knappes Jahr alt.

Eine Struktur innerhalb dieser Tätergruppe, eine Führungsfigur, eine Hierarchie – all das scheint es nicht zu geben, weshalb die Polizei statt von einem „Netzwerk“ auch von einem „Schwarm“ spricht, einem losen Zusammenschluss von Menschen, die gemeinsam ihre perversen Neigungen ausleben, Material tauschen und sich Tipps geben, wie und wo man etwa an Sexspielzeug und Reizwäsche in Kindergrößen gelangen könne. Das ist aktenkundig.

Die Dimension des Falls ist schon jetzt unvorstellbar. In einem Smartphone eines Verdächtigen beispielsweise stießen die Ermittler auf 51 000 Kontaktdaten. In einem anderen Handy fanden sie eine Million Bilder. Sie enttarnten einen Gruppenchat mit 2000 Teilnehmern.

Fast alle Täter nutzen Nicknames und verbergen so ihre wahre Identität, was die Arbeit der Polizisten und Staatsanwälte zusätzlich erschwert. Oft bleibt ihnen nichts anderes übrig, als wie bei einem Puzzle einzelne Fragmente zusammenzusetzen. So konnten sie etwa auf Fotos, die das Wohnzimmer des Beschuldigten X zeigen, Kuscheltiere der Tochter des Beschuldigten Y identifizieren – ein Hinweis darauf, dass die Väter sich kennen. Informationen wie Handynummern, Autokennzeichen, den Familienstand eines Verdächtigen oder seine Wohnadresse werden in der Polizei-Datenbank „Case“ gesammelt.

Die funktioniert wie ein gigantischer Notizzettel, auf dem jeder Ermittler seine Informationen einträgt und wiederum auch jeder lesen kann, was die Kollegen zusammengetragen haben. Das Programm erkennt Zusammenhänge, meldet zum Beispiel, wenn ein und dieselbe Telefonnummer in verschiedenen Chats verwendet wurde. Die Informationen aus „Case“ gleichen die Ermittler mit anderen Datenbanken wie Vorstrafen- oder Melderegister ab und versuchen auf diese Weise, einen Namen zu erhalten.

Schulfahndung blieb ergebnislos

Wie frustrierend die mühsamen Nachforschungen mitunter auch sein können, zeigt dieses Beispiel: Bei zwei Kindern, die auf Handyfotos abgebildet waren, ergab sich der Verdacht, dass sie bis heute von ihren Vätern missbraucht werden. Der mutmaßliche Wohnort der Kinder ließ sich auf bestimmte Regionen in zwei Bundesländern eingrenzen. Die Polizei setzte eine so genannten Schulfahndung in Gang: Fotos der Kinder wurden Lehrern gezeigt in der Hoffnung, dass sie die gesuchten Opfer identifizieren könnten. Und tatsächlich meldete sich kurz darauf ein Lehrer: Er schickte ein Foto einer Schülerin, die dem gesuchten Kind täuschend ähnlich sah.

Um ganz sicherzugehen, ließen die Polizisten beide Fotos noch einmal von einer Expertin für Anthropologie begutachten – eine Wissenschaft, die sich mit dem Menschen und seiner Evolution befasst. Aber die Antwort der Sachverständigen war ernüchternd: Die Ohrringe, die die Mädchen auf beiden Bildern trugen, waren die gleichen, aber die Ohren nicht. Es handelte sich um zwei verschiedene Kinder.

Bei den Recherchen der „EG Berg“ werden erstmals in Deutschland Anthropologen auch bei Ermittlungen gegen Kindesmissbrauch hinzugezogen. Die Kölner Polizei bedient sich dieser Spezialisten, um Körperteile oder -merkmale eines Täters auf verschiedenen Fotos wiederzuerkennen und Tatbezüge zu prüfen – oder auch, wie im Fall der Schülerin, Zusammenhänge auszuschließen. Fest steht: Die Jagd nach den Tätern ist noch lange nicht abgeschlossen.

Verbindungen zum Fall Lügde?

Bereits Ende 2019 entdeckte die Ermittlungsgruppe (EG) Berg personelle Verbindungen zum Missbrauchsfall auf dem Campingplatz im westfälischen Lügde. So fanden sich etwa Kinderpornoaufnahmen in Chatforen, die von den beiden Haupttätern aus Lügde stammten. Mario S. und Andreas V., 56, waren 2019 zu Haftstrafen von zwölf beziehungsweise 13 Jahren nebst anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Andreas V., genannt Addi, soll seit 1998 Dutzende Mädchen im Alter zwischen vier und 13 Jahren in seinen Wohnwagen gelockt und vergewaltigt haben.

Für einen Lkw-Fahrer aus Stade veranstaltete Andreas V. 2010 und 2011 in einem Eins-zu-Eins-Chat Vorstellungen per Webcam. Dabei mussten die Kinder auf Geheiß des späteren Mitangeklagten sexuelle Handlungen an sich vornehmen. Auf den Rechnern fanden sich knapp 42 000 Kinderporno-Dateien.

Zudem stießen die Ermittler auf einen Mailverkehr zwischen den beiden. Darin erkundigte sich der Kraftfahrer Anfang 2011 nach dem Befinden des Bekannten und dessen „Mädels“. Andreas V. antwortete: Man habe sogar Zuwachs bekommen von einer Sechsjährigen und ihrer zwölfjährigen Schwester – „voll süß“. Daraufhin wollte der Kraftfahrer wissen, ob sie auch „schön willig“ seien.

Personelle Verbindungen zwischen Bergisch Gladbach und Lügde

Andreas V. stellte bis zu seiner Verhaftung Ende 2018 selbst gedrehtes Kinderpornomaterial in abgeschottete Gesprächsforen ein. Die Aufnahmen nebst Datum kursierten auch bei Tatverdächtigen aus dem Missbrauchskomplex der EG Berg.

Ferner stellten die Strafverfolger personelle Verflechtungen zwischen beiden Verfahren fest: Angehörige von Jörg L., einem inhaftierten Hauptverdächtigen aus Bergisch Gladbach, stammen aus der Gegend um Lügde. Der Großvater des Krankenhausmitarbeiters soll in den 80er und 90er Jahren einen Stellplatz auf dem Campingplatz gehabt haben. Zwei Jahrzehnte zuvor verbüßte der Mann eine Haftstrafe, weil er sich an einer seiner Töchter vergangen hatte.

Der Cousin des Beschuldigten aus Bergisch Gladbach verkaufte einen Wohnwagen an einen der Lügde-Täter. Die Verwandten des Beschuldigten bestreiten jegliche strafbare Verbindung zu den Tätern aus Lügde. Laut Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer gebe es bisher keine Hinweise auf strafrechtlich relevante Sachverhalte zwischen beiden Komplexen. „Dies wird aber weiterhin noch geprüft.“

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