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Kirchen-SkandalPfarrer in NRW tritt nach Wahlbetrugs-Eklat zurück

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  • Es ist ein seltener, wenn nicht einmaliger Vorgang in der an Skandalen derzeit ohnehin nicht armen katholischen Kirche in Deutschland.
  • In Übach-Palenberg steht eine Pfarrei nach einem Streit über gefälschte Unterschriften und ein lückenhaftes Wählerverzeichnis ab sofort ohne Pastoralteam da.

Übach-Palenberg – Eine Messe noch, das letzte Abendmahl am Mittwoch um 18 Uhr. Danach ist Schluss. Pfarrer Stephan Rüssel will nicht mehr. Der 58-Jährige leitete seit 2012 die Pfarrei Sankt Petrus in Übach-Palenberg (Kreis Heinsberg), einen Verbund von sechs ehemals eigenständigen Gemeinden. Mit Wirkung zu diesem Donnerstag hat Rüssel dem Aachener Bischof Helmut Dieser seinen Rücktritt erklärt. Auch der zweite Priester der Pfarrei sowie die beiden Gemeindereferentinnen haben um Versetzung gebeten – ein seltener, wenn nicht einmaliger Vorgang in der katholischen Kirche.

Als Grund gibt Rüssel an, dass er sich vom Bistum verraten und verkauft fühlt. Mit seinen Bedenken gegen Mauscheleien und Unregelmäßigkeiten bei der jüngsten Kirchenvorstandswahl, die nach Ansicht von Kirchenjuristen Einfluss auf die Gültigkeit der Wahl haben, lief der Pfarrer in Aachen vor die Wand.

Verdächtige Unterschriften

Die Streitpunkte: Briefwahlscheine mit verdächtig ähnlichen Unterschriften; Wahlteilnahme trotz Kirchenaustritt; vor allem aber ein lückenhaftes Wählerverzeichnis, in dem sämtliche Mitglieder der Pfarrei fehlten, die bei den kommunalen Meldebehörden einen „Sperrvermerk“ haben eintragen lassen. Was vom Staat als Schutz für die Betroffenen gedacht ist, führt in diesem Fall dazu, dass die Kommune die Namen der katholischen Bewohner nicht an die Pfarrei weitergibt. Sie stehen also nicht in der Wählerliste.

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Diese Praxis führte in Übach-Palenberg dazu, dass ein zur Kirchenvorstandswahl erschienenes Gemeindemitglied nicht abstimmen durfte. Das Problem mit der Wählerliste allerdings stellt sich überall – und damit die Frage nach der Gültigkeit der Wahlen im gesamten Bistum. Bischofssprecher Stefan Wieland sagt dazu: „Von einer ähnlich gelagerten Problematik hatte das Bistum Aachen bislang keine Kenntnis. Bei künftigen Kirchenvorstandswahlen werden wir das Verfahren anpassen.“

Nun war der Wahlausgang in Übach-Palenberg denkbar knapp. Im Extremfall gab eine einzige Stimme den Ausschlag für Wahl und Nicht-Wahl zweier Kandidaten. Mehrere Bewerber um einen der acht neu zu besetzenden Posten lagen nur um wenige Stimmen auseinander. Insofern konnte theoretisch ein einziger Wahlzettel, zu Unrecht abgegeben oder nicht berücksichtigt, das gesamte Ergebnis verändern.

Frage von Macht und Einfluss

Im Kirchenvorstand aber geht es um Macht und Einfluss. Hier fallen – unter dem Vorsitz des Pfarrers – alle Entscheidungen, die mit Gut und Geld zu tun haben. In Übach-Palenberg stoßen die Interessen besonders extrem aufeinander. Aus einer Reihe von fünf ehemaligen armen Bergarbeitergemeinden sticht eine – wie man früher sagte – fette Pfründe heraus: Scherpenseel. Das soziokulturelle Gefälle habe ein Zusammenwachsen über die Jahre notorisch verhindert, sagt Stephan Rüssel.

Vor der Kirchenvorstandswahl im November 2018 wurde in Scherpenseel massiv für die Teilnahme getrommelt, eine Briefwahl-Kampagne eingeschlossen. Ziel: Die eigenen Kandidaten stärken und so den Einfluss im neuen Kirchenvorstand ausbauen. Von 10 990 Berechtigten nahmen 733 an der Wahl teil, eine Quote von knapp sieben Prozent. 600 Wähler stimmten per Brief ab. Die meisten kamen aus Scherpenseel. Gleich mehrere Briefwahlscheine von Eheleuten sollen nur von einer Person unterschrieben und damit gefälscht gewesen sein.

Graphologische Gutachten

Ein von Rüssel beauftragtes graphologisches Gutachten bestätigte den Verdacht. Das Bistum aber indes erachtet ihn nicht für stichhaltig an. Selbst wenn eine „Urkundenfälschung“ bei den Briefwahlscheinen vorläge, so Bistumsjustiziar Karl Dyckmans, sei damit nicht bewiesen, dass „ein Ehegatte auch beide Stimmzettel ausgefüllt“ und so gegen Wahlvorschriften verstoßen hätte. Das Problem des lückenhaften Wählerverzeichnisses erledigt der Bistumsjustiziar mit dem Hinweis, die Betroffenen hätten sich vor der Wahl individuell vergewissern müssen, dass sie gelistet sind. Ein nachträglicher Einspruch sei unzulässig. Prinzipiell seien sie jedenfalls nicht an der Wahlteilnahme gehindert gewesen.

Dies sieht Thomas Schüller, Professor für Kirchenrecht an der Universität Münster, ganz anders. „Das Bistum hätte die Pflicht gehabt, die Kirchengemeinden vor der Wahl darauf hinzuweisen, alle mit Sperrvermerk versehenen Gemeindemitglieder schriftlich zu bitten, die Aufnahme in die Wählerliste zu beantragen.“

Der frühere Kölner Bistumsjustiziar Wilhelm Meller bemängelt noch eine Reihe weiterer Verfahrensfehler und Formverstöße. Schüller gibt zu bedenken: „Die vom Bistum geduldete Form der Wahlfälschung wäre im staatlichen Bereich eine Straftat. Die Kirche aber kümmert das offenbar nicht, Hauptsache, das Ergebnis stimmt.“ Lothar Straten, Ex-Mitglied im Kirchenvorstand und in der vorigen Wahl unterlegen, spricht von „Vertuschung“ eines „offensichtlichen Wahlbetrugs“. Er habe daraus „gelernt, dass diese Kirche sich weiter selbst zerstört“. Das Bistum dagegen betont, dass die Wahl nach rechtlicher Prüfung bestätigt und „damit rechtskräftig“ sei.

Nach Schüllers Ansicht wäre das Bistum trotzdem gut beraten, zumindest die Wahl in Sankt Petrus für ungültig zu erklären und eine geordnete Neuwahl zu veranlassen. „Der Kirchenvorstand vertritt die Pfarrei in allen relevanten Rechtsgeschäften als Körperschaftsorgan. Vertragspartner müssen sicher sein, dass der Kirchenvorstand rechtmäßig amtiert.“ Und dies liege auch im virulenten Interesse des Bistums.

Fall für die staatliche Justiz

Schüller sieht hier sogar einen Fall für die staatliche Justiz, weil die Regularien des Kirchenvorstands in NRW staatliches Recht sind. „Der Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen als Joker sticht hier nicht.“ Für Pfarrer Rüssel offenbart der Vorgang einen Webfehler in der Kirchenverfassung: Bistumsverantwortliche entscheiden über Angelegenheiten, in denen sie selbst Akteure mit eigenen Interessen sind. „Und wir können nichts dagegen machen.“ Umso dringlicher sei der Ruf nach unabhängigen kirchlichen Verwaltungsgerichten.

Auf mehrere persönliche Briefe an Bischof Dieser – das Rücktrittsgesuch eingeschlossen – hat der Pfarrer bis zum Mittwoch, dem von ihm selbst gesetzten letzten Tag als Pfarrer von Sankt Petrus, keine Reaktion erhalten. Ebenso wenig wie die anderen Seelsorger der Gemeinde. Rüssel zeigte sich enttäuscht und verbittert. Er habe auf eine Einladung zum Gespräch gehofft. Was haber hätte denn ein Bischof eigentlich Wichtigeres zu tun, fragt ein renommierter staatlicher Juraprofessor, der die Kirche schon häufig vertreten hat, „als in einer so verfahrenen Situation persönlich einzugreifen?“ 

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