Kölner Missbrauchsfall Priester Ue.Bundesbehörde lehnt Opfer wegen Krankschreibung ab

Lesezeit 6 Minuten
Anke Schulz Missbrauch 1

Anke S. wurde als Kind von Priester Ue. missbraucht.

Köln – Demütigungen und Enttäuschungen hat Anke S. als Opfer sexuellen Missbrauchs zuhauf erfahren müssen. Vom Täter, ihrem Onkel, der sich als katholischer Priester in den 1990er Jahren über Jahre hinweg an seiner „Lieblingsnichte“, aber auch an ihren zwei Schwestern verging. Von ihrem Vater, der seine Familie verließ, als Anke S. drei Jahre alt war, und seinen Töchtern später die Missbrauchsvorwürfe gegen seinen Bruder Hans Ue. nicht abnahm.

Dafür seien sie „zu uninteressant“, ließ er die Kinder wissen. Und: Die Mädels hätten es eigentlich doch ganz gern, wenn sie mal was zwischen die Beine bekämen.

Serientäter Ue. zu zwölf Jahren Haft verurteilt

Aussagen wie diese nahmen selbst unbeteiligten Zuhörern im Kölner Landgericht die Luft. Hier wurde von November bis Februar gegen Hans Ue. wegen der an Anke S., ihren Schwestern sowie sechs weiteren Opfern verübten Verbrechen verhandelt. Am Ende stand eine Verurteilung des 70 Jahre alten Geistlichen zu zwölf Jahren Haft.

Zur Sprache kam hier auch das Verhalten der Kirche. Die Kölner Bistumsleitung legte den Fall 2011 zu den Akten, nachdem die Schwestern von Anke S. nach einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatten. Die Ermittlungen mussten eingestellt werden. Obwohl die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe nicht in Zweifel stand, durfte Hans Ue. unbehelligt auf seinen Posten als Krankenhausseelsorger zurückkehren, wo er weitere schwerste Verbrechen beging. Bei seinen Nichten, den Opfern, meldete sich von der Kirche niemand.

Empathielosigkeit und Ignoranz

Dass Empathielosigkeit und Ignoranz indes kein Privileg des Systems Kirche sind, erfuhr Anke S. ausgerechnet von einer staatlichen Einrichtung, dem Bundeszentralamt für Steuern mit Sitz in Bonn. Hier hatte sich die heute 35-Jährige, die als Beamtin eine leitende Position in der Kommunalverwaltung innehat, 2021 auf eine freie Stelle beworben – eine andere Verantwortung, besser dotiert.

Nach einem Vorstellungsgespräch im Juli kam drei Wochen später bereits die Zusage. Doch nach Einsicht in die Personalakte von Anke S. machte die Behörde einen Rückzieher: „Grund hierfür ist die erhebliche Anzahl der Krankheitstage (Nettoarbeitstage) seit dem Jahr 2019“, heißt es lapidar in einem Schreiben vom 2. Dezember 2021, das mit guten Wünschen „für Ihren weiteren beruflichen Lebensweg“ endet.

Bundeszentralamt für Steuern kannte den Missbrauchsfall

Was das Schreiben nicht erwähnt, den Zuständigen aber aus einer eingehenden, persönlichen Schilderung durch Anke S. sehr wohl bekannt war: Die – tatsächlich vielen – Krankheitstage fielen in die Zeit, als die Staatsanwaltschaft Köln ihre Ermittlungen gegen Hans Ue. wieder aufgenommen und Anklage gegen den Geistlichen erhoben hatte. „Das war damals ein wahnsinniger Druck“, sagt Anke S. im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ und dem WDR.

„Unter anderem kam mein Onkel auf mich zu und versuchte mir über alle möglichen Kanäle zu sagen, dass das nicht geht, was ich hier mache.“ Er sei doch so gerne Priester, dafür müsse seine Nichte doch Verständnis haben. „Er hat gesagt, ich könne ihm doch nicht sein Leben kaputt machen."

Opfer sieht sich durch Behörde doppelt gestraft

So sehr setzte Ue. seiner Nichte zu, dass ihre Anwältin ihm den Kontakt untersagen lassen musste. Diese Situation und das Warten auf den Prozess – ja, das habe sie in der Tat krankgemacht. Bis dahin aber, versichert Anke S., habe sie infolge des Missbrauchs „nie auch nur einen einzigen Tag gefehlt“. Auch eine Therapie hatte sie bis zu dieser Zeit nicht gemacht. Und 2020 nahm sie ihre Arbeit uneingeschränkt wieder auf.

Sie fühle sich nun durch das Verhalten der Behörde „doppelt gestraft“, sagt Anke S. Dafür, dass sie sich 2019 überwunden, ein Strafverfahren gegen ihren Onkel, einen hundertfachen Serientäter, in Gang gesetzt und die damit verbundenen Belastungen durchgestanden hat. „Es erschüttert mich bis heute, dass mir daraus berufliche Nachteile erwachsen sind.“

Warnung vor den Folgen einer Anzeige für die Karriere

Zumal ihr genau das vor nunmehr zwölf Jahren prophezeit worden war: Wenn du deinen Onkel anzeigst, dann kann das unabsehbare Folgen für deine Karriere haben, hatte ihr ein Bruder des Täters gesagt, der ein wichtiges politisches Amt bekleidet. Damals folgte Anke S. diesem Rat und trat der Anzeige ihrer Schwester nicht bei.

Erst acht Jahre später entschied sie sich um. Anke S. spricht von einer „letzten Chance“, die Wahrheit ans Licht zu bringen und den Täter zur Verantwortung zu ziehen. „Meine Tochter ist jetzt im gleichen Alter wie ich damals, als es angefangen hat. Ich habe mir gesagt: Wenn ihr – rein hypothetisch – jemals so etwas passieren sollte, und sie käme damit zu mir, dann will ich ihr nicht sagen müssen, ‚ich habe mich nicht gewehrt, ich habe nichts unternommen“.

Arbeitsrechtler hält Vorgehen für rechtswidrig

Das Verhalten des Bundeszentralamts für Steuern macht auch die Anwältin von Anke S., Martina Lörsch, fassungslos: „Wie geht der Staat eigentlich in seinem Verantwortungsbereich mit Missbrauchsfolgen um?“, fragt sie.

Moralisch unverantwortlich und obendrein rechtswidrig, lautet darauf die Antwort des Bonner Arbeitsrechtsprofessors Gregor Thüsing. Die Bonner Behörde hätte die Fehlzeiten von Anke S. nicht ohne Weiteres gegen die Bewerberin verwenden dürfen. Die engen Grenzen, in denen Krankheiten bei der Vergabe von Stellen im öffentlichen Dienst eine Rolle spielen dürften, habe erst unlängst das Oberverwaltungsgericht Münster in einer Grundsatzentscheidung noch einmal markiert, erklärt Thüsing. „Ohne eine medizinische Klärung der Hintergründe für die Krankheitstage und etwaiger Folgen war die Ablehnung der Übernahme unzulässig.“

Fehltage irrelevant für künftige Tätigkeit

Hätte das Bundeszentralamt für Steuern die Fehlzeiten von Anke S. – fälschlich – als dauerhafte Erkrankung gewertet, dann hätte die Behörde diese als Behinderung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz behandeln müssen. „Dann aber hätte die Übernahme von Anke S. nur dann verweigert werden dürfen, wenn die Fehltage dazu führen, dass sie ihre Tätigkeit schlechterdings nicht ausführen kann. Das wird man sicherlich nicht sagen können.“

Bei einer nur temporären Beeinträchtigung aber, insbesondere aufgrund der besonderen Belastung durch den bevorstehenden Missbrauchsprozess, seien die Fehltage „schlicht irrelevant für die künftige Tätigkeit“, sagt Thüsing. Hierauf eine Ablehnung zu stützen, sei schon aus datenschutzrechtlichen Gründen unzulässig. „Bedenken gegen eine Übernahme hätte die Behörde überdies in beiden Fällen auf eine amtsärztliche Untersuchung oder auf weitere medizinische Gutachten stützen müssen“, sagt Thüsing.

Bundeszentralamt gibt keine Auskunft zur Sache

Eine Sprecherin des Bundeszentralamts für Steuern teilt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ und dem WDR mit, sie könne Fragen zur Ablehnung der Bewerbung von Anke S. nicht beantworten – aus Gründen des Datenschutzes. Aber: „Das Bundeszentralamt für Steuern bekennt sich ausdrücklich zum Opferschutz.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Bekämpfung von Diskriminierung, sexualisierter Gewalt, sexueller Belästigung, Stalking und Mobbing sowie deren Ursachen seien ein Anliegen von grundlegender Bedeutung und höchster Priorität. „Maßnahmen des Opferschutzes sind daher auch integraler Bestandteil der Leitkultur des Bundeszentralamtes für Steuern.“

Für Anke S. ist diese Antwort ein weiterer Tiefschlag: „Ich habe in den Monaten des Prozesses viel Fadenscheiniges von Vertretern der Kirche gehört“, sagt sie. Die Auskunft der Behördensprecherin stehe dem in nichts nach. „Wie abgebrüht und empathielos muss man sein, um in Kenntnis des konkreten Sachverhalts ein solches 'Bekenntnis' zum Opferschutz abzugeben?“

Die Leiterin des Referats für Personalgewinnung beim Bundeszentralamt hat Anke S. inzwischen eine Mail geschrieben. Zusammen mit ihrem Kollegen für Personalmanagement „würde ich Ihnen gerne in einem persönlichen Gespräch unsere Entscheidung noch einmal erläutern.“ Anke S. hat das Angebot angenommen.  

KStA abonnieren