Lebensmittel-Hilfe in Leichlingen in NotWarum die Tafel den Weißkohl jetzt viertelt

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Tafel Obst

Das Lager sieht gut gefüllt aus - aber die Frauen vom Tafel-Team sind fast  an jedem Ausgabetag ausverkauft.

Leichlingen – Graubrot und Haferflocken, Senf, Tomatensauce, Reis und Tee stehen wie im Tante-Emma-Laden einträchtig nebeneinander im Regal. Wiener Würstchen, Pommersche und Chicken Nuggets liegen in der Kühltheke wie beim Metzger. Gurken und Radieschen, Kartoffeln und Tomaten warten an der Gemüsetheke auf Abnehmer. Die Auslagen sehen beim Besuch des „Kölner Stadt-Anzeiger“ bei der Leichlinger Tafel gut bestückt aus. „Aber heute Nachmittag ist das alles weg!“, sagt Helga Paul. Sie ist die Vorsitzende des örtlichen Tafel-Vereins. Und sie und ihr Team haben seit Wochen nicht mehr genügend Ware, um die immer zahlreicher werdende Kundschaft mit Lebensmitteln zu versorgen.

Der Nachschub an Nahrungs-Spenden von Discountern, Bäckereien, Landwirten und Supermärkten und neuerdings auch von Lieferdiensten reicht schon lange nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken. „Wir sind regelrecht überrollt worden“, erklärt Paul, dass die gemeinnützige Tafel-Ausgabe seit der Ankunft der vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchteten Menschen an die Grenzen des Machbaren stößt.

Kundschaft hat sich plötzlich mehr als verdoppelt

Kamen früher 60 bis 80 bedürftige Stammkunden vorbei, um sich Lebensmittel abzuholen, sind es jetzt 170. „Das hatten wir noch nie“, fürchten Paul und ihre Vereinskollegin Hannelore Kretzer, die Ehrenvorsitzende der Tafel, dass sie den Andrang irgendwann nicht mehr bewältigen können.

Es sind nicht nur die vor Putins Raketen Geflüchteten, die sich montags und donnerstags um 14 Uhr vor dem Tor der Ausgabe im Frese-Gewerbepark an der Moltkestraße drängeln. Für sie hat man die Schilder an den Regalen ins kyrillische Alphabet übersetzt. Tomaten sind Помідори, Paprika heißen an der Moltkestraße nun auch Паприкою, Bananen Банани.

Es sind nach wie vor auch sozial schwache Familien, die mit ihrem Geld nicht über die Runden kommen, zunehmend Rentner, die sich die Preise nicht mehr leisten können, Arbeitslose, denen die Wohnung gekündigt wurde. Und die Asylbewerber aus Nordafrika und dem Nahen Osten sind ja auch noch in der Stadt und bezugsberechtigt. „Beim letzten Mal hatten wir 86 Personen hier, zu denen 56 Kinder gehörten“, ist Kretzer überrascht über den Andrang.

Fatal ist, dass die explodierte Nachfrage auf mittlerweile chronischen Nachschub-Mangel und steigende Kosten stößt. Es gibt immer weniger Lieferungen aus den Geschäften. Die Hallenmiete für das Lager ist kürzlich erhöht worden. Und ein Tank voll Sprit für den Lieferwagen, der nun öfter kleinere Touren fahren muss, kostet inzwischen 140 statt 80 Euro.

Es sind Geldspenden und Geschenke von Privatleuten, mit denen sich das Tafel-Team derzeit noch über Wasser hält. 36 Frauen helfen regelmäßig in der Warenannahme- und Ausgabe, bei Sortierung, Lagerung und Verkauf. 14 Fahrer steuern den Kühlwagen, um Ware abzuholen – wenn es daheim nichts gibt, manchmal auch bis nach Dormagen und Köln.

Helga Paul und die für ihren langen ehrenamtlichen Einsatz in diesem Jahr mit der Ehrenplakette der Stadt Leichlingen ausgezeichnete 85-jährige Hannelore Kretzer sind in Halle 4A des Frese-Parks immer dabei und opfern ihre ganze Freizeit für die gute Sache. „Ich gelte hier schon als das Nummerngirl“, scherzt Kretzer, denn sie ruft mit selbst gemalten Zahlen-Kärtchen der Reihe nach die wartende Kundschaft auf, deren Reihenfolge stets neu ausgelost wird.

Hilfsstelle hat der Corona-Krise getrotzt

Der Vorstand ist fest entschlossen, die Tafel nicht untergehen zu lassen. „Wir haben die ganze Pandemie über durchgemacht und machen auch im Sommer keinen Urlaub“, sind die Frauen stolz darauf, die Leichlinger Hilfsstelle durch schwere Zeiten gebracht zu haben, während andere Vereine ihren Betrieb drosseln oder sogar ganz schließen mussten.

„Bis jetzt haben wir es geschafft und immer gut gehaushaltet, um Ware vorrätig zu haben“, sagt Paul und hofft dabei auf weitere Unterstützung der Gesellschaft, damit die Existenz der Einrichtung nicht gefährdet wird.

Die letzten Osterhasen sind unterwegs

Milch und andere Kühlsachen, Obst, Gemüse, Tomaten sind Mangelware, Margarine gibt es schon lange nicht mehr. Diese Woche gab es noch ausrangierte Osterhasen – ein Glücksfall, denn auch Süßigkeiten kommen kaum noch bei der Tafel an. Dauernd muss improvisiert werden. Große Weißkohlköpfe, die bei den ukrainischen Frauen sehr begehrt sind – „Borschtsch…“, wirft Kretzer das Stichwort ein – werden halbiert oder geviertelt, damit alle ein Stück Білокачанна капуста abbekommen.

Auch die Kundschaft wird notgedrungen halbiert: Die in den anderthalb Stunden Ausgabezeit nicht mehr zu bewältigende Menge hat blaue oder rote Punkte auf die vom Sozialamt ausgestellten Berechtigungskarten bekommen und wird so auf die beiden Verkaufstage verteilt. Jede Person darf nun nur noch einmal wöchentlich kommen. Der Obolus, der für eine volle Einkaufstasche gezahlt werden muss, ist auf drei Euro angehoben worden.

Dass es weniger Sachspenden aus den Geschäften gibt, hat viele Ursachen. Paul zählt auf: Die Märkte bieten übrig gebliebene Ware zunehmend selbst in Drei- oder Fünf-Euro-Tüten zum Sonderpreis an. Die Kaufleute disponieren viel exakter, um Überschuss zu vermeiden. Obstbauern pressen unverkaufte Äpfel lieber selbst zu Saft statt sie zu spenden.

Wenn eine Drogeriekette dem Tafel-Verbund per E-Mail eine Palette Shampoo oder Duschlotion anbietet, muss Paul blitzschnell zuschlagen und sich bewerben, sonst ist die Ware weg. Da ist der junge Mann mit seinem privaten Hühnerhof, der regelmäßig viele Eier vorbeibringt, ebenso willkommen wie das Ehepaar aus Köln, das neulich mit mehreren Paletten Marmelade und Gemüse hereinmarschierte.

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Wer der Tafel helfen will, kann gerne auch Geld spenden. Damit gehen die Ehrenamtler dann selbst in den Laden, um Ware hinzuzukaufen, die am dringendsten fehlt oder im Sonderangebot zu haben ist. Auch das gab es in früheren Jahren nicht. Ein unschätzbarer Gewinn ist zudem die Unterstützung durch eine benachbarte Firma im Frese-Gewerbepark, die das nicht an die große Glocke hängen und ungenannt bleiben will.

Der Chef stellt an den Ausgabetagen stets eine von drei Mitarbeiterinnen ab, die Russisch sprechen können und den ukrainischen Kundinnen beim Einkauf helfen, wenn sie Рис oder Яйця suchen, Reis oder Eier. Dass viele Ukrainer kein Russisch mehr sprechen oder hören wollen, sei bei der Leichlinger Tafel kein Problem, ist Helga Paul erleichtert. Auch Streit um die Position in der Warteschlange oder die oft rare Ware gäbe es bei ihnen nicht. In der Not halten in Halle 4A an der Moltkestraße eben alle gut zusammen.

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