„Schmerzmittel“Vor 120 Jahren entwickelte Bayer eine verhängnisvolle Medizin

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Original-Flacon mit Heroin

Leverkusen – Als Felix Hoffmann am 21. August 1897 in seinem Labor in Elberfeld steht, ahnt er nicht, kann er nicht ahnen, wie viele Leben er mit seiner neusten Erfindung zerstören wird. Der Chemiker experimentiert mit Opiaten. Er testet die Reaktion von Alkaloiden mit Essigsäure. Das macht er schon länger. Sein Chef, Heinrich Dreser, ein schwerer Mann mit großer Brille und noch größerem Schnauzbart, hält ihn dazu an.

Hoffmanns Aufgabe ist es, für die „Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.“, heute nur noch bekannt als „Bayer“, ein neues Medikament gegen Lungenkrankheiten zu entwickeln. Es soll nicht abhängig machen wie Codein oder das in Verruf geratene Morphium. Dem Schmerzmittel waren die Menschen zum Ende des 19. Jahrhunderts nach der Behandlung reihenweise verfallen.

Aspirin präsentiert

Hoffmann ist 29 Jahre alt und einer der besten seines Faches. Er hat eine Apothekerausbildung hinter sich und zwei Studiengänge, Pharmazie und Chemie. Beide abgeschlossen mit „magna cum laude“. Vor elf Tagen hat er bereits ein neues Mittel präsentiert. Es wird später den Namen „Aspirin“ tragen.

Bayer aber will auch mit den Konkurrenzfirmen auf dem Markt für Morphinderivate mithalten. Auch deswegen hat Hoffmann die Anstellung in der neuen „pharmazeutisch-chemischen Abteilung“ des Werks bekommen.

Tests an Werksmitarbeitern

Und an jenem Augusttag erfüllt Hoffmann Dresers Auftrag. Er stellt ein Schmerzmittel her, das in nur wenigen Jahren auf der ganzen Welt konsumiert werden wird. Mediziner werden es begeistert verschreiben, gegen fast jedes Krankheitsbild, mit bestem Gewissen. Bayer wird horrende Umsätze mit dem Präparat machen. Aber das alles ahnt der Chemiker Felix Hoffmann nicht, als er an jenem Augusttag in seinem Labor in Elberfeld Diacetylmorphin herstellt – heute nur noch bekannt als „Heroin“.

Hoffmann protokolliert sein Tagewerk in einem kurzen Bericht. Neun Zeilen in Sütterlin, die seinen Chef Dreser Grund genug sind, die Substanz umgehend zu erproben. Er selbst führt die vorklinischen Studien durch, verabreicht Kaninchen Codein und auch das Diacetylmorphin. Sein Befund: Heroin dämpft die Atmung besser und ist verträglicher.

Bayer-Mitarbeiter als Versuchsobjekte

Eine gute erste Voraussetzung. Nächster Schritt: Bayer-Mitarbeiter als Versuchsobjekte. Ab März 1898 probiert Werksarzt Dr. Floret das Mittel an rund 60 seiner Patienten aus.

Nach zwei Monaten schreibt er in seinem Bericht: „Das von mir erprobte Diacetylmorphin zeigte sich als ein außerordentlich brauchbares, prompt und zuverlässiges Mittel zur Bekämpfung des Hustens und Brustschmerzen“ und „ungünstige Nebenwirkungen scheinen dem Präparat nicht anzuhaften“.

Eine Suchtgefahr erwähnt Floret, der das Mittel genau wie Dreser auch selbst geschluckt haben soll, nicht. Um die zu erkennen, hätte es wohl Langzeitstudien gebraucht. Dafür ist keine Zeit. Die Wundermedizin soll so schnell wie möglich auf den Markt.

Heroisch gefühlt

„Vor über hundert Jahren gab es nicht im geringsten vergleichbare Standards oder Richtlinien zur Entwicklung neuer Arzneimittel, wie sie heute gelten und von jedem Unternehmen rund um den Globus zwingend anzuwenden sind“, sagt ein Bayer-Sprecher heute auf Anfrage. Das damalige Vorgehen des Konzerns, eher Normalität als Nachlässigkeit. Am 27. Juni 1898 lässt Bayer das Medikament als neues Warenzeichen eintragen, Nummer 31650.

Ab jetzt trägt es den erhabenen Namen „Heroin“, da sich, so die Überlieferung, einige Bayer-Mitarbeiter nach der Einnahmen „heroisch“ gefühlt haben sollen.

Pulver, Zäpfchen oder Tampons

Auch um ein Patent bemüht Bayer sich, bekommt allerdings keins, weil Diacetylmorphin in der Wissenschaft bereits bekannt ist. Der britische Chemiker Charles R. Wright stellte den Stoff bereits 1874 im Rahmen seiner Morphinforschung her. Bayer aber gelingt es als erstem Unternehmen, das Mittel in die Massenproduktion zu überführen. Die läuft schnell an.

Und extrem erfolgreich.

Noch im Jahr der Markteinführung kann sich jeder vermeintlich Kranke in ganz Deutschland Heroin als Saft, Zäpfchen, Mixtur, Sirup oder Pulver in der Apotheke besorgen.

Für Frauen mit Unterleibsschmerzen gibt es sogar heroingetränkte Tampons. 1899 produziert Bayer 215 Kilogramm Heroin im Jahr und exportiert es in 23 verschiedene Länder. Die Flakons und Gläser, in denen das Mittel vertrieben wird, beinhalteten bis zu 25 Gramm. Eine Menge, die heute auf dem Schwarzmarkt 750 Euro kosten würde.

Hunderte Ärzte berichten in Fachzeitschriften euphorisch über das neue Produkt. Bei chronischem Husten würden binnen Minuten die Schmerzen aufhören. Patienten, die in der Nacht keine Ruhe fanden, schlummerten plötzlich stundenlang. Ein britischer Mediziner schreibt in den „London-Clinical Excerpts“:

„Ich habe Heroin Patienten jeglichen Alters verordnet, von der frühsten Kindheit aufwärts bis zum Greisenalter, und niemals unangenehme Nebenwirkungen beobachtet.“

Auch ein Pariser Mediziner ist begeistert. „Eine Angewöhnung ist ausgeschlossen“, urteilt er. Andere Kollegen verschreiben das Heroin auch gegen Multiple Sklerose, Depressionen, Nymphomanie und Magenkrebs. Und Masturbation.

Einer warnte, niemand hörte zu

Lediglich ein Berliner Arzt äußert in der „Medicinischen Wochenschrift“ Bedenken an dem neuen Allheilmittel. Er schreibt: „Ich bin der Meinung, dass die Uebergabe des Mittels an die Praxis eine vorschnelle gewesen ist.“ Als Erster warnt er vor „Heroinismus“. Ernst nimmt ihn niemand. Auch weil Bayer jede kritische Stimme zu verhindern versucht. So schreibt es der ehemalige Arzt Michael de Ridder in seinem Buch „Heroin: Vom Arzneimittel zur Droge“, das Bayers Archiv-Abteilung auf Anfrage empfiehlt.

Carl Duisberg, damals Prokurist des Unternehmens, habe geforderte dass Gegner des Heroins „mundtot“ gemacht werden. Gleichzeitig schickt der Konzern Proben an Mediziner, gibt Studien in Auftrag, schaltet Zeitungsanzeigen.

Niedrigere Dosis als Fixer heute

Dennoch: Den Patienten schadet es nicht. Nur wenige Konsumenten werden abhängig. Das liegt vor allem daran, dass sie eine weit niedrigere Dosis nehmen als Fixer heute. Und dass sie diese schlucken. Die euphorisierende Wirkung tritt nur gedämpft ein. Der Rausch bleibt aus. Erst gut zehn Jahre nach der Markteinführung zeigt sich die Gefährlichkeit der Substanz: Chinesische Migranten steigen in den USA vom streng regulierten Opium auf das leichter verfügbare Heroin um. Allerdings rauchen sie die Arznei. Und beginnen auch zu spritzen.

Es folgen die ersten Herointoten der Geschichte.

Bayer aber produziert weiter, es sei schließlich ein „recht schönes Geschäft“ gewesen, wie später Fabrikdirektoren schreiben werden. 1907 steigt die Produktion auf 920 Kilogramm pro Jahr. Die USA, damals wie heute mit einer sehr restriktiven Drogenpolitik, bemühen sich zu dieser Zeit um ein Komplettverbot von Opiaten.

Ende 1911 findet die erste internationale Opiumkonferenz statt. 1914 stellen die Vereinigten Staaten die Produktion, den Import und den Vertrieb von Medikamenten auf Opiumbasis unter Sonderbesteuerung. In Deutschland wird Heroin ab 1917 verschreibungspflichtig.

Waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs viele verwundete Soldaten mit dem Mittel behandelt worden, müssen nun Ärzten auch die gewohnten Gratisproben verwehrt werden – außer die Mediziner haben eine besondere Erlaubnis. 1925 wird Heroin nach der zweiten Opiumkonferenz des Völkerbundes fast weltweit verboten. Allein die Herstellung für streng überwachte medizinische Anliegen ist noch gestattet. Bayers Produktionsinteresse lässt nach.

Heroin ist nicht gleich Heroin

Für andere Pharmaunternehmen aber bietet sich genau dort eine Lücke. Sie produzieren weiterhin Diacetylmorphin und schmuggeln es in die USA, nach China und nach Russland, wo Dealerbanden die Süchtigen auf der Straße bedienen. Auch wenn Bayer damit nichts zu tun hat, muss sich der Konzern regelmäßig vor den Aufsichtsbehörden rechtfertigen – denn sein Eigenname „Heroin“ hat sich für den Stoff im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. „Das bekannte Opiumabkommen ist von unserer I.G. von Anfang an sehr streng beachtet und eingehalten worden, und es bedarf keiner Versicherung, dass unsere I.G. hinter diesen Schiebungen nicht steckt“, schreibt Hoffmann nach Anschuldigungen an die „Deutsche Länder Bank“.

Der Chemiker ist mittlerweile zum Prokuristen aufgestiegen, er ist nun Advokat seines eigenen Mittels. Erfolgreich ist er nicht. 1940 stellt Bayer die Produktion von Heroin vollständig ein. Hoffmann stirbt sechs Jahre später in der Schweiz.

Heroin heute

Noch immer wird Diacetylmorphin in der Palliativmedizin eingesetzt – und zwar in Großbritannien. Die Briten stellen die Arznei selbst her, unter strengen Auflagen wird es Patienten mit chronischen Schmerzen verschrieben. In vielen  anderen Ländern  gilt Heroin als eine der schlimmsten Drogen – auch weil es lange das Hauptgeschäft der Mafia war. In Deutschland sterben laut Bundeskriminalamt  im Jahr knapp 700 Menschen an Vergiftungen durch Opioide, zu denen auch Heroin zählt. Dennoch: Reines Heroin macht zwar stark abhängig, schädigt aber die Organe nicht. Der körperliche Verfall – wie etwa beim bekannten Fall von Christiane F. – kommt durch die Streckung mit Giftstoffen, durch Bakterien und unreine Nadeln zustande. Als Arznei ist Heroin in Deutschland aber heute entbehrlich. Norbert Schürmann, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, sagt:  „Es gibt mittlerweile wirksamere Schmerzmittel.“  Diacetylmorphin macht müde und müsste oft eingenommen werden. „Wir können mit anderer Medizin aber Schmerzen behandeln, ohne dass Menschen sediert werden müssen“, sagt Schürmann.  (jl)

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