Bundestag mit 28„Man härtet ab“: So erlebt die Leverkusener Grüne Nyke Slawik Berlin

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Nyke Slawik beim Filmmdreh im Studio der Grünen.

Leverkusen/Berlin – Das Wichtigste ist der Igel. Alles andere ist erstmal egal. Der Kühlschrank ist noch nicht eingestöpselt, weil die Steckdose am falschen Ende des Raumes sitzt – egal. Für einen Kaffee muss man zehn Minuten auf die andere Seite der Spree laufen – egal. „Ein Sofa sollen wir auch noch bekommen“, sagt Nyke Slawik. „Irgendwann.“ Egal. Hauptsache der Igel ist da und steht auf dem Schreibtisch ihres Büros in Berlin. Im Modulbau des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses an der Adele-Schreiber-Krieger-Straße 6. Raum 1.308.

Hört sich wichtig an. Ist es auch, denn: Hier sitzt die 28-Jährige aus Leverkusen, seitdem sie im Oktober 2021 in den Bundestag gewählt wurde. In ihrem eigenen Büro als Bundestagabgeordnete der Grünen. Da, wo der Igel auf dem Schreibtisch steht.

Erinnerung an die Anfänge

Er ist ein Geschenk der alten Freundinnen und Freunde aus der Grünen-Jugend, in die sie 2009 eingetreten war. Damals, als das mit der Politik für sie angefangen hatte. Die kleine Figur aus Ton soll ihr immer wieder zeigen: „Wir sind stachelig und unbequem.“ Ein guter Plan. Denn wer Nyke Slawik einmal durch so eine Sitzungswoche in der Hauptstadt begleitet, der merkt: Ihre Tage sind voll mit Terminen, die Geduld und Ausdauer erfordern. Und eben Stacheligkeit. Nyke Slawiks Themen sind zudem Themen, die anecken und für die sie kämpfen muss: Die Umwelt- und Verkehrspolitik.

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Und natürlich die Gleichberechtigung unter anderem transsexueller Menschen. Sie ist ja selbst eine Transfrau. Die erste, die es in den Bundestag schaffte – neben ihrer Grünen-Kollegin Tessa Ganserer wohlgemerkt, mit der sie dieser Tage in Berlin ein kleines Video für die Internet-Plattform Tik-Tok dreht und die über Nyke Slawik sagt: „Da ist endlich eine Person, die mir so nah ist in der Partei. Ich war so glücklich, als sie den Einzug in den Bundestag geschafft hat. Jetzt ist nicht mehr nur eine von uns das Transfeigenblatt der Grünen. Wir setzen ein Zeichen.“

Jedenfalls: Bei solchen Themen ist das Igel-Sein wichtiger als ein Sofa oder Kühlschrank oder Kaffee. Aber Nyke Slawik trinkt ohnehin lieber Afri-Cola.

Redezeit: Vier Minuten

So auch, wenn sie mit ihrer Büroleiterin Wiebke Stange über das Tagesprogramm spricht. Am Abend soll sie im Plenum zum 9-Euro-Ticket reden. „Ich habe vier Minuten Zeit“, sagt Nyke Slawik. Soviel wie noch nie. Beim ersten Mal vor ein paar Wochen waren es nur zwei Minuten. Später am Tag wird sie sich für eine Stunde zurückziehen und an der Rede feilen. Sie soll sitzen.

Zuvor trifft sich Nyke Slawik aber noch mit drei Jugendlichen, die gerade ein Praktikum im Bundestag absolvieren: Yoann Kriegel (15), Charline Krüger (14) und Frido Gottschlich (18) haben Fragen. Ziemlich viele. Sie löchern Nyke Slawik. Es geht um ihre Vita, um autofreie Zonen und um Elektromobilität.

Nyke Slawik: Sätze wie aus dem Lehrbuch

Man merkt: Nyke Slawik ist hoch intelligent. Kennt sich aus. Sie ist nicht erst seit Berlin ein Profi. Sie sagt Sätze wie aus dem Lehrbuch respektive dem Parteiprogramm. Und sie kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen: die Grünen-Jugend, Leverkusen und der katastrophale Autobahnausbau, eine Abhandlung über Wasserstoffmotoren. „Das ist jetzt Physik“, sagt sie. Und lächelt.

Später, beim Mittagessen in der Kantine gleich am Spreeufer, wo es Lasagne mit Lachs und Spinat gibt, erklärt Nyke Slawik dazu: „Wenn man in der Politik ist und Entscheidungen treffen muss, ist es immer gut, dies auf einer informierten Basis zu tun. Man muss sich schon auch ein bisschen mit Technik und Wissenschaft auseinandersetzen.“

Dann folgt ein kleiner Seitenhieb auf andere Parteien: „Es gibt ja auch Kolleginnen und Kollegen, die zu gewissen Themen viel zu sagen haben, obwohl sie keine Ahnung davon haben.“ Und da ist er dann wieder, der Igel mit den Stacheln.

Deutsch-polnische Parlamentarier

Eine Stunde später sitzt Nyke Slawik im Paul-Löbe-Haus, dessen fantastische Architektur mit Rotunden und Galerien zahllosen Sitzungssälen Platz bietet. Hier erlebt sie das erste Treffen der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe, der sie als Vertreterin des Vorsitzenden Paul Ziemiak (SPD) angehört. Und sie sieht erstmals alle anderen Mitglieder, darunter auch Abgeordnete der AfD, die sie offen misstrauisch beäugen, wenn sie von ihrem Einsatz für die andersgeschlechtliche LGBTQ-Community berichtet, die gerade in Ländern wie eben Polen noch um Anerkennung kämpfen muss.

„Das war schon ein komisches Gefühl“, sagt sie hinterher. Aber so etwas lässt sie nicht mehr so leicht an sich heran. Denn sie tut das, was sie tut, aus Überzeugung und ist aus Überzeugung der Mensch, der sie ist. Das merkt man an ihrem ganzen Auftreten: Nyke Slawik hat eine enorme Ausstrahlung. Sie zieht Blicke auf sich und weiß das und lässt Blicke abblitzen. Außerdem härtet man in Berlin ab. Das ist Nyke Slawiks eigene Wortwahl. Soll heißen: Links rein. Rechts raus. Stacheln ausfahren.

Der Krieg geht ihr nah

Nur bei einem Thema wird sie nachdenklich und gewährt plötzlich einen der seltenen Einblicke in ihr Inneres: beim Ukraine-Krieg. „Ich habe in vielen Nächten schlecht geschlafen. Das beschäftigt mich sehr. Da muss ich auch auf mich aufpassen.“ Die schrecklichen Bilder.Die Entscheidungen für Waffen und Rüstungsgeld, die den Ursprüngen ihrer Partei und ihren eigenen Wertvorstellungen entgegenstehen und für sie doch alternativlos sind, „weil wir eben auch eine Menschenrechtspartei sind und Menschenrecht verteidigen müssen“.

All das nagt an Nyke Slawik und zeigt ihr wieder und wieder auch diese eine große Schattenseite ihres Jobs: Dass Politiker und Politikerinnen stets auch Kompromisse eingehen müssen. So schwer es fällt. Mit weißer Weste kommt niemand raus.

Eine Rede mit Verve

Abends ist der Igel dann wieder da. Und man erkennt jetzt noch einmal genau, was es mit dem „Abhärten“ auf sich hat. Es geht ins Plenum, wo Politiker der AfD bei der Diskussion um Waffenlieferungen in die Ukraine Goebbels-Vergleiche anstellen und Mitglieder anderer Parteien beleidigen. Es wird geschimpft. Geätzt. Höhnisch Beifall gespendet. Dazwischengerufen. Der ganz normale Parlamentswahnsinn in Zeiten wie diesen.

Als Nyke Slawik schließlich weit nach 21 Uhr unbeeindruckt ans Rednerpult tritt und zum 9-Euro-Ticket als nächstem Tagesordnungspunkt spricht, tut sie das mit Verve und fliegenden Armen und Händen und einer Selbstsicherheit, die zeigt: Ihr, die ihr krakeelt und lacht, könnt mich alle mal. Ich habe gute Gründe für das hier. Ich habe: Recht.

„Vielleicht haben Sie es nicht mitbekommen“, sagt sie. „Aber die Klimakrise macht keine Pause. Sie ist akut. Das verdient unsere höchste Aufmerksamkeit. Deshalb ist es wichtig, Anreize zu schaffen für Menschen, sich klimafreundlich fortzubewegen.“ Nach exakt vier Minuten ist Schluss. Nyke Slawik hat einen Pflock eingerammt. Einen, der nur eine Woche später mit dazu führt, dass das 9-Euro-Ticket an gleicher Stelle beschlossen wird. Feierabend.

Ungeschminkt vor den Greenscreen

Freitag ist der Tag, an dem es nachmittags zurückgeht in die Heimat. Vorher eilt Nyke Slawik noch zu einem Videodreh für den Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie. Aus dem Reichstag raus ins Jakob-Kaiser-Haus, wo die Grünen ein Aufnahmestudio haben. Ab vor den Greenscreen. „Ich bin heute noch nicht geschminkt“, sagt sie. Macht nichts. „Du siehst gut aus.“ Nach zehn Minuten ist alles im Kasten und es geht zurück ins Plenum.

„Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die hier manchmal auf einem Roller gesehen werden“, sagt sie und lacht, während sie durch die unterirdischen Gänge, die alle Gebäude im Regierungsviertel miteinander verbinden, wieder rüber in den Reichstag geht. Oder vielmehr: eilt. Nyke Slawik ist nämlich schnell unterwegs. Wie immer. Auch das lernt man als Abgeordnete in Berlin: Zeit ist Geld ist kostbar.

Lagebesprechung im Büro

Die Zeit an diesem Tag reicht dann noch für eine vegetarische Currywurst in der Kantine und ein Gespräch im Büro mit Wiebke Stange, die ihr eine Liste mit Terminen für die kommende Woche, ebenfalls eine Sitzungswoche, vorlegt: Anfragen und Einladungen. Frühstücke, Lunches, Abendessen. Feiern, Filmpremieren, Empfänge. Fernseh- und Radiointerviews, Moderationswünsche. Pro Woche gibt es über 100 davon. Nyke Slawik überlegt hin und her.

Das Interview am Mittwochvormittag sagt sie ab. Geht beim besten Willen nicht. Das meiste andere? „Ja, komm‘ mach‘!“ Dann wird sie in der folgenden Woche eben nicht nur wieder exakt durchgetaktete Arbeitstage haben, sondern auch noch samstags und sonntags in Berlin bleiben. „Dann ist das so. Dann kann ich vielleicht mal übers Tempelhofer Feld skaten. Wollte ich sowieso mal machen.“

Nyke Slawik kommt runter

Apropos Tempelhof: Das weite Gelände des ehemaligen Flughafens ist einer von Nyke Slawiks Lieblingsorten in der Stadt. Das erzählt sie im ICE zurück nach Köln, als sie zum ersten Mal seit Tagen spürbar runterfährt. Die Politik hinter sich lässt. Nyke Slawik spricht jetzt von den „phänomenalen“ Sonnenuntergängen in Tempelhof. Sie spricht von ihrer WG in Neukölln.

Davon, dass sie Yoga und Meditation macht und das Handy nachts auch mal gerne ausschaltet. Während eines Nickerchens hört sie das neue Album der Indiepopband Beirut. „Weil die Songs mich beruhigen.“ Sie freut sich auf einen Abend daheim auf dem Sofa mit Fernsehen und Wein. Und Nyke Slawik sagt mit einem Lächeln: „Ich genieße das Heimkommen. Dann habe ich Zeit zu denken.“ Die Stacheln des Igels sind jetzt eingefahren. Zumindest für ein paar Tage.

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