Abo

Premiere in LeverkusenAntiker Nosferatu in einer Opernwelt nach Hitchcock-Art

Lesezeit 3 Minuten
Simon Stricker als Klauenmann Agamenon.

Simon Stricker als Klauenmann Agamenon.

Leverkusen  – Diese Aufführung musste stattfinden. Unbedingt. Diese Dringlichkeit spürte man schon weit im Vorfeld dieses Abends: Als Produktion der Oper Wuppertal war „Il canto s’attrista, perché?“ – stammend aus der Feder des international verehrten Komponisten für Neue Musik Salvatore Sciarrino – umgehend ins gut 60 Kilometer entfernte Erholungshaus verlegt worden, sobald klar gewesen war, dass die Schäden der Juli-Flut am Opernhaus der bergischen Großstadt eine Vorführung an Ort und Stelle unmöglich machen würden.

Die Verlegung einer derart mit Spannung erwarteten Deutschlandpremiere an einen anderen Ort als den der inszenatorischen Entstehung ist nichts anderes als: in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Beinahe ein No-Go – was allein bereits die Relevanz dieser Produktion bewies. Wenn dann am Premierenabend zudem noch Reisebusse mit Zuschauerinnen und Zuschauern aus Wuppertal auf die Nobelstraße in Wiesdorf einbiegen, erübrigen sich weitere Zweifel daran. Und das Geschehen auf der Bühne schließlich rechtfertigt dann endgültig jeden noch so großen Aufwand hinter dieser logistischen Leistung: „Il canto s’attrista, perché?“ ist ein Spektakel.

Gemetzel und Vergeltung

Und zwar eines der Düsternis und, ja, auch der Brutalität, die antiken Stoffen ohnehin zu eigen ist. Blutige Gemetzel, Kriege, Vergeltungsakte in Reihe – das haben sie alle zu bieten. Ob in den gelben Reclam-Heftchen, die auf Schultischen durchgeblättert werden. Oder eben in dieser Oper hier, die als Mixtur aus Schauerstück, Horror-Erzählung und auf die Bühne gebrachter Film Noir daherkommt.

Alles zum Thema Musik

Bei Sciarrino kehrt Agamemnon aus dem Krieg gegen Troja zurück – noch nicht wissend, dass sein Haus dem Untergang geweiht ist, denn: Er ist Ehebrecher, Entführer und Über-Leichen-Geher. Seine Tochter hat er einst geopfert, um die Götter milde zu stimmen. Und die Tochter seines Widersachers Priamos, Kassandra, hat er als Geisel und Mätresse mitgebracht - womit er seine ohnehin noch um das von ihm getötete gemeinsame Kind trauernde Gemahlin Klytämnestra bis aufs Äußerste reizt. Die Dramatik und Tragödie, die Gewalt hinter diesen Taten spricht in jeder Sekunde aus jedem gesungenen Wort, aus jeder gespielten Note, aus jedem noch so kleinen optischen Reiz dieser Inszenierung von Nigel Lowery.

Übergroße blutige Hände

Simon Stricker als Agamemnon hat übergroße Hände, die vor Blut triefen. In Kombination mit seinem bleich geschminkten Gesicht und Kahlkopf wirkt er wie ein Nosferatu der Antike, der die Welt mit Klauen zu greifen versucht. Klytämnestra (Iris Marie Sojer) ist eine schwarze Herrscherin, die das perfekte Pendant zu Widersacherin Kassandra (Nina Koufochristou) bildet. Beide Frauen sind Furien der Wut und Verzweiflung. Die Bühne um sie herum ist in Schwarz gehalten.

Über einen transparenten Vorhang flimmern Bilder starrer Masken, flackernder Kerzenfeuer und Mordszenerien, die mitunter an Hitchcocks „Pycho“ gemahnen. Die Instrumente des von Johannes Witt geleiteten Orchesters wiederum legen den passenden Teppich der Musik: Es knarzt, wimmert, kratzt und flirrt. Momente der Stille werden durch Ausbrüche des neumusikalischen Geniewahnsinns zerfetzt.

Chor als akustische Umklammerung

Der Chor in der Loge über und hinter dem Publikum im Saal zieht ob seiner Position als akustische Umklammerung jeden Gast endgültig in dieses irrwitzige Stück hinein. Am Ende fallen alle Kulissen rund ums schwarze Herrscher-Holzhaus in der Bühnenmitte und geben den Blick auf Mord und Totschlag frei. Aufrührender geht es nicht.

„Il canto s’attrista, perché?“ wird am Sonntag, 24. Oktober, sowie am Samstag und Sonntag, 4. und 5. Dezember, jeweils um 19.30 Uhr erneut im Erholungshaus aufgeführt. Tickets gibt es im Internet sowie an der Abendkasse. Es gilt die 2-G-Regelung.

www.oper-wuppertal.de

KStA abonnieren