Selbstversuch bei minus 85 GradWinter statt Sommer in der Eiskammer in Lützenkirchen

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Mehr als 100 Grad Unterschied zwischen dem Inneren der Kältekammer und der Außenwelt.

Leverkusen – „Wie kalt sind eigentlich minus 85 Grad?“, Eine Frage, von der ich nicht gedacht hätte, dass sie mich je vom Schlafen abhalten würde. Ich zücke mein Handy: In der Arktis werden es im Winter bis zu frostige minus 35 Grad, in Oimjakon – dem kältesten bewohnten Dorf der Erde in Russland – herrscht eine sibirische Kälte von minus 50 Grad. Am nächsten Tag soll mein Körper im Sonnenstudio „Sonnen und mehr“ in Lützenkirchen fast dem doppelten ausgesetzt werden.

Das „mehr“ im Namen des Studios steht dafür, dass Sylvia und Andreas Hrovat hier im Hinterzimmer kurzerhand die einzige Ganzkörper-Kältekammer für die Öffentlichkeit in der ganzen Region betreibt. „Sonnenbänke alleine reichen heutzutage nicht mehr. Man muss immer mit der Zeit gehen, daher sind wir beim Aufstocken unseres Wellnessbereiches unteranderem auf die Kältekammer gekommen“, sagt Sylvia Hrovat. Es sei ein besonderer Reiz gewesen, die Ersten zu sein, die diese Erfahrung den Leverkusenern zugänglich machen können, dafür habe sie über 50000 Euro investiert, erzählt sie. Denn bis November letzten Jahres hatten hierzu nur die Bayer-04-Fußballprofis im Trainings- und Rehazentrum im Westgebäude der BayArena die Gelegenheit.

Nach einem Vorgespräch und dem Unterschreiben eines Aufklärungsbogens, der mich über alle erdenklichen Risiken bis hin zum Tod informiert, ist es soweit. Die Kabine – ein sogenanntes Einkammersystem von Mecotec – funktioniert im Grunde wie ein Gefrierschrank, nur so viel leistungsstärker, dass pro Stunde bis zu 240 Liter Wasser gebraucht werden, um die Maschinerie im Hintergrund herunterzukühlen.

Schwimmbad statt Polarexpedition

Kleiden soll ich mich eher wie für einen Schwimmbadbesuch als für eine Polarexpedition. Die Socken werden in den Badelatschen angelassen und außerdem bekomme ich Handschuhe, da Teppichboden und Innenwände so kalt seien, dass man sich Kälteverbrennungen zuziehen könnte, sollte man sich abstützen müssen. Zum Schluss bekomme ich noch ein Stirnband mit integrierten Lautsprechern, über die nervtötende Schlagermusik läuft. Das soll nicht nur die Ohren vor der Kälte Schützen, sondern auch die drei Minuten für mich schneller vergehen lassen.

Dann geht alles ganz zügig: Ich stehe vor der Glastür zur Kabine, es gibt einen Countdown, das Portal öffnet sich und ich trete so schnell ich kann ein, damit nicht zu viel Kälte entweichen kann. „Kalt!“, ist der erste – wenig überraschende – Gedanke, den ich fassen kann. Es ist wirklich unbeschreiblich kalt und zwar von der ersten Millisekunde an, aber es ist nicht besonders unangenehm, da es sich um eine sehr trockene Kälte handelt. Es ist zwar auch alles andere als angenehm, aber ich habe es mir – als jemand, der im Winter ständig anfängt mit den Zähnen zu klappern – viel schlimmer vorgestellt. Ins kalte Freibad zu steigen ist für mich im ersten Moment unangenehmer.

Erst jetzt merke ich, dass ich überhaupt nichts als Weiß sehen kann. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich meine Brille, wie auch sonst sämtlichen Schmuck und Uhren vorher ausziehen musste, sondern durch die mit mir in die Kammer getragene Feuchtigkeit, aus der Nebel entstanden ist. Beim orientierungslosen Umherdrehen in der einen Quadratmeter großen Kapsel – währenddessen singt Roland Kaiser in mein Ohr – kann ich ausmachen, auf welcher Seite die beheizte Glastüre liegt, die langsam aufklart. Bis der Nebel sich lichtet bin ich fasziniert von dem Gedanken, dass diese Tür zwei Räume mit einer Temperaturdifferenz von über 100 Grad voneinander trennt.

Andreas Hrovat überwacht mich während der gesamten Zeit, joggt zwischendurch auf der Stelle und fordert mich auf, es ihm gleich zu tun. Dann beginnt es zu schneien, wie als würde ich in einer übergroßen Schneekugel stehen. Doch ehe ich mich über das schöne Treiben dieses Gestöbers freuen kann, schrecke ich zusammen, als ich an meinem Körper hinunter gucke: Meine Haare sehen aus wie eine Wiese an einem Wintermorgen – ganz weiß.

Aber wer nutzt dieses Angebot überhaupt und warum? Zu den Hrovats kommen Leute aus medizinischen Gründen wie zum Beispiel Herz- und Kreislaufproblemen. Andere erhoffen sich eine Straffung der Haut oder ähnliches im Anwendungsgebiet Beauty und Wellness, die Rede ist auch vom 800 Kalorien, die pro Sitzung verbrannt werden. Für Leistungssportler ist die Kälte vor allem aus prophylaktischen Gründen und zur Rehabilitation nach Verletzungen nützlich. Der Einsatz ist nicht unumstritten und auch nicht allzu bekannt. Ein Anruf bei Leverkusener Rheumatologen ergab, dass man nicht allzu viel Erfahrung mit dem Thema habe.

Aber immerhin setzt das St.-Josef-Krankenhaus in Wuppertal eine Kammer bei rheumatischen Erkrankungen ein. Die Wirkung sei sowohl bei Patienten mit entzündlichen Gelenkerkrankungen (Rheumatoide Arthritis) wie auch bei Patienten mit Morbus Bechterew nachgewiesen, heißt es auf deren Webseite. Die Deutsche Rheuma-Liga berichtet von Patienten, die von der Behandlung „sehr profitieren“ würden. Und auch die Deutsche Fibromyalgievereinigung (ebenfalls Rheuma) führt Schmerzlinderung und eine Verkürzung von Krankheitsschüben als positive Wirkung auf. Allerdings ist die Liste der Kontraindikationen auch nicht gerade kurz. Nachdem ich aus der Kapsel herausgetreten bin, ist förmlich zu merken, wie das Blut wieder Fahrt aufnimmt. Meine Haut brennt ein wenig – nicht unangenehm, eher so, als wäre sie frisch das erste Mal an der Luft. Ich bin wieder zurück im Sommer.

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