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Unruhen durch HyperinflationAls ein Bayer-Mitarbeiter 76.000 Mark Stundenlohn erhielt

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Inflationsgeld Opladen Motiv Im Hederichsfeld Quelle Stadtarchiv_9400.0091v

100 Millionen Mark, den Geldschein ziert eine Ansicht der Schule im Hederichsfeld.

Leverkusen – Hätten Sie auch gerne einen Stundenlohn von 76800 Mark? Was auf den ersten Blick nach unermesslichem Reichtum aussieht, führte 1923 in Wiesdorf zu Streiks und Unruhen. Der horrend hohe Stundenlohn war nämlich einer Hyper-Inflation geschuldet. Historiker Joachim Scholtyseck, Professor für Geschichte an der Universität Bonn, hat im Buch „Leverkusen. Geschichte einer Stadt am Rhein“ zusammengetragen, was für Auswirkungen die Inflation in Leverkusen und der Weimarer Republik hatte.

Die Ausgangslage in Leverkusen Mitte 1923: Der Erste Weltkrieg ist verloren, die Deutschen müssen hohe Reparationen zahlen. Vor allem Frankreich drängt auf die Zahlung von 132 Milliarden Goldmark.

„Unzulängliche Holzlieferungen und unvollständige Kohlelieferungen“ seien 1923 als Vorwand genommen worden, um das Ruhrgebiet zu besetzen, schreibt Scholtyseck. In der Bevölkerung wurde zum „passiven Widerstand“ aufgerufen. Der habe in Leverkusen „die ökonomische prekäre Lage erheblich verschärft“, erklärt Scholtyseck und zählt Beispiele auf: Das Reichsausbesserungswerk in Opladen durfte keine Lokomotiven mehr instandsetzen, bei kleineren Fabriken soll die Arbeit kurz darauf fast ganz still gelegen haben. Die Zahl der Arbeitslosen in Leverkusen stieg an.

Woher das Geld für den Widerstand gegen die Ruhrbesetzung nehmen? Richtig, die Notenpresse wurde angeworfen. Der Bonner Historiker beschreit die fatalen Auswirkungen: „Die Gemeindehaushalte gerieten außer Kontrolle.“ Nicht nur die Reichsregierung, auch die Kommunen seien dazu übergegangen, eigenes Geld zu drucken. Wiesdorf erhielt am 2. August 1923 die entsprechende Genehmigung vom Regierungspräsidenten, aber auch die Farbenfabriken (Vorgänger von Bayer) hatten bald eine eigene Währung.

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Doch je mehr gedruckt wurde, umso rascher verfiel das Geld: Zuerst wurden Mitte August 30 Milliarden Mark gedruckt, dann weitere 100 Milliarden, 500 Milliarden und schließlich Ende September nochmals zwei Billionen Mark. Das Resultat: Löhne und Preise seien „kaum noch kalkulierbar“ gewesen, schreibt Joachim Scholtyseck.

Denn was nützen 76 800 Mark pro Stunde, die ein Arbeiter in den Farbenfabriken pro Stunde Anfang August erhielt, wenn ein Liter Milch 19300 Mark kostet? Oder wenn man am Morgen nicht weiß, wie viel sein Geld am Abend noch wert sein wird?

Angst vor der Hungerkrise

Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich dramatisch, heißt es in der historischen Analyse, soziale Unruhen und Streiks trieben die Menschen auf die Straße, die Polizei in Wiesdorf musste teilweise eingreifen. Die britischen Besatzungsbehörden, die damals in Wiesdorf stationiert waren, hielten sich größtenteils raus.

Kurzarbeit und Entlassungen waren die Folge, die Farbenfabriken reduzierten ihre Belegschaft bis 1926 um gut ein Drittel. Auch die Angst vor einer Hungerkrise griff im Herbst 1923 um sich. Mehl, Kartoffeln und Kohle waren rar. Joachim Scholtyseck zitiert aus dem Verwaltungsbericht Schlebusch: „Der Winter nahte und mit ihm das Gespenst der Kartoffel -und Winterversorgung. (...) Die Arbeiterschaft, die Betriebsräte der Fabriken, wie überhaupt die ganze Bevölkerung wandte sich, Hilfe erbittend, an die Kommunalverwaltung. Es galt die Lösung der Frage: »Wie bringen wir als Kommune Schlebusch die Bevölkerung durch den kommenden schlimmsten Winter, der uns bisher beschieden war?«“ Wiesdorf soll sogar Reisegelder für diejenigen Arbeitslosen angeboten haben, die bereit waren, die Stadt zu verlassen.

Doch die große Hungerkrise trat nicht ein: Im September 1923 „vollzog Großbritannien die endgültige Abkehr von der französischen Ruhrpolitik“, schreibt Scholtyseck, die Reichsregierung gab ihren passiven Widerstand auf, Mitte Oktober 1923 brachte eine Währungsreform die ersehnte Entspannung. Im November wurde die Rentenmark eingeführt, eine Rentenmark entsprach damals einer Billion Papiermark beziehungsweise einer Goldmark.

Zur Person: Seit 2001 lehrt und forscht der Geschichtsprofessor Joachim Scholtyseck an der Universität Bonn, hatte sich aber auch schon zuvor regionalgeschichtlich mit der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus beschäftigt. Er kam über die kürzlich in den Ruhestand verabschiedete Stadtarchivsleiterin und Historikerin Gabriele John zum Buch-Projekt. In der Region seien Historiker gut vernetzt, erklärt er. (aga)

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