Novemberpogrome in Köln und NRWDie Jagd auf den jüdischen Nachbarn

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Eine jüdische Familie kehrt die Scherben ihres zertrümmerten Geschäftes zusammen. Nebenan ein Passant.

Eine jüdische Familie kehrt die Scherben ihres zertrümmerten Geschäftes zusammen. Nebenan ein Passant.

  • In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Köln und anderen NRW-Städten Synagogen, jüdische Wohn- und Geschäftshäuser wurden geplündert.
  • 80 Jahre später ist das Wissen darüber, was in dieser Nacht im Einzelnen geschah, immer noch sehr gering. Man weiß fast nichts über die Opfer der „Reichskristallnacht“ in NRW.
  • Einige von ihnen stürzten sich in Panik vom Balkon oder starben Tage später an den Folgen des Schocks.
  • Ein Düsseldorfer Forschungsprojekt will jetzt Aufklärung betreiben – und bittet alle NRW-Archive um Hilfe.

Düsseldorf – „Wir wissen noch längst nicht alles“, sagt Birte Klarzyk. Was in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschehen ist, das sei, so seltsam es anmute, auch 80 Jahre danach immer noch nicht beschrieben. „Eigentlich stehen wir damit noch am Anfang“, so die Mitarbeiterin des Kölner NS-Dokumentationszentrums.

Eine „spannende Diskrepanz“, nennt Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, diese geschichtspolitische Merkwürdigkeit. „Obwohl der 9. November das einzige wirklich markante Datum in der deutschen Erinnerungslandschaft ist in Bezug auf die NS-Zeit, ist unser Wissen darüber gering.“

Und dann erzählt Fleermann vom Gedenken an die sogenannte „Reichskristallnacht“ in Düsseldorf – und seinen Erfahrungen: „In den meisten Familien bleiben Dinge unangesprochen und tabu.“ Auf welche Weise kam das Porzellanservice in den Familienbesitz? Wem gehörte das Wohnhaus eigentlich vor 1938? Bis heute gibt es zu den Pogromen auch noch keine umfassende historische Darstellung für das damalige Reichsgebiet, so Fleermann, auch nicht zum Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens. „Wir müssen aber wenigstens wissen, wer die Toten dieser Nacht sind.“ Vor zehn Jahren publizierte die Gedenkstätte ein Buch zu den Vorgängen in Düsseldorf, eine von der Fachwelt als einzigartig gelobte Publikation.

Ein Foto vom November 1938 dokumentiert die Zerstörungswut der SA- und SS-Leute – aber auch wie viele Menschen die Verfolgungen und Verhaftungen der „Reichskristallnacht“ mitbekamen.

Ein Foto vom November 1938 dokumentiert die Zerstörungswut der SA- und SS-Leute – aber auch wie viele Menschen die Verfolgungen und Verhaftungen der „Reichskristallnacht“ mitbekamen.

Fast jeder Überfall ist registriert. „Wir wollen nun möglichst viele Lokalstudien zusammentragen, damit wir zumindest für das heutige NRW wissen, wie viele Menschen damals zu Tode kamen.“

Ein Skandal sei, dass immer noch Opferzahlen zu lesen seien, die auf Reinhard Heydrich zurückgehen, einer der Hauptorganisatoren des Holocaust. Heydrich wurden damals 91 ermordete Juden für das ganze Reich gemeldet.

Die Düsseldorfer Gedenkstätte hat nun die Mitarbeit von 430 Archiven in NRW erbeten, recherchiert in der Kölner Bibliothek Germania Judaica im Haubrich-Hof Ortschroniken und Sterberegister - und nutzt auch Quellen im Internet. 90 Prozent der Archive haben schon geantwortet. Bisheriges Zwischenergebnis: 130 Tote allein in Nordrhein-Westfalen. „Wir können also davon ausgehen, dass es auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs Hunderte oder Tausende Tote gab“, so Fleermann.

Joseph Goebbels ruft SA und SS zum Pogrom auf.

Joseph Goebbels ruft SA und SS zum Pogrom auf.

In der Novembernacht wurden reichsweit etwa 30 000 sogenannte „Aktionsjuden“ in „Presshaft“ genommen und in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald deportiert. Ziel war es, die Männer derart zu misshandeln und unter Druck zu setzen, dass sie über eigens bereitgestellte Telefone ihre Frauen anwiesen, Geschäfte, Unternehmen, Praxen und Kanzleien aufzulösen und Ausreisedokumente zu beschaffen. „Es ging um die systematische Ausplünderung und Zerstörung von Gewerbepräsenz, Berufstätigkeit, um das Verscheuern von Unternehmen und das Vertreiben außer Landes“, so Fleermann. Als die Männer nach Wochen zurückkamen, verließen zahlreiche Familien tatsächlich Hals über Kopf die Heimat.

Doch wie viele kamen schon 1938 ums Leben – vor den späteren Massenmorden in den Todeslagern? Die „politischen“ KZ-Insassen erzählten, dass damals Männer eingeliefert wurden, die mit der Situation vollkommen überfordert waren, nur im Pyjama aus den Betten geholt, wurden sie mit Wasser übergossen, mussten die Winternacht draußen verbringen; Diabetiker blieben ohne Insulin. Einige starben im Lager an Herzinfarkten. Zu Hause hatten sie Furchtbares erlebt: Horden von SA und SS-Leuten stürmen in Zivil ihre Wohnungen, zerschlugen alles. Ihre barbarische Zerstörungswut machte auch vor Wandvertäfelungen, Parkett und Fensterrahmen nicht halt. In Panik stürzten sich Menschen vom Balkon oder starben Tage später an den Folgen des Schocks – dies alles sind Tote, die in Heydrichs Rapport nicht vorkommen.

Der Vorwand für die Novemberpogrome 1938

Ende Oktober 1938 werden völlig überraschend und äußerst brutal etwa 15 000 der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet und ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen deportiert – ohne Geld, Hab und Gut.

In Köln trifft die „Polenaktion“ etwa 600 Menschen. Zu den Betroffenen gehörte auch die seit 30 Jahren in Hannover lebende Familie von Herschel Grynszpan. Der 17-Jährige war in Paris staatenlos untergetaucht. Als er vom Schicksal seiner Familie hört, erschießt er aus Verzweiflung den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath. Das Attentat dient Goebbels als Vorwand für die Novemberpogrome. Grynszpan wurde ins Zuchthaus Magdeburg gebracht und vermutlich dort ermordet. (hch)

So wenig wie die Suizide aus Angst vor dem, was kommen wird. „Es war eben nicht allein »die Nacht, in der die Synagogen brannten« und Kristall zerschlagen wurde“, erklärt Fleermann. In Düsseldorf werden in dieser Nacht 17 Menschen erschossen und erstochen.

Auch in Köln brannten Synagogen, wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet und geplündert. Damals lebten noch etwa 8000 Juden in der Stadt. Sechs Jahre zuvor zählte die Synagogen-Gemeinde annähernd 16 000 Mitglieder. In der Pogromnacht wurden etwa 150 jüdische Männer aus Köln und insgesamt etwa 300 aus dem gesamten Regierungsbezirk nach Dachau verschleppt. In Ehrenfeld wurde der Friseur Moritz Spiro in seinem Laden derart zusammengeschlagen, das er seinen Verletzungen erlag.

Das Kölner El-De-Haus fand im Sterberegister des Israelischen Asyls, eines jüdischen Krankenhauses und Altersheims in der Ehrenfelder Ottostraße, weitere Opfer. Klara Wolf und Berta Herz nahmen sich Tage nach den Pogromen mit Schlafmitteln das Leben. Gustav Solinger starb in Dachau. Richard Süßmann erlag wenige Tage nach seiner KZ-Entlassung am

5. Dezember einer Lungenentzündung im Nippeser Vincent-Hospital. „Bei diesen Opfern wussten wir bislang nicht, dass ihr Tod eine Folge der Pogrome war“, so Birte Klarzyk.

Die bohrende Nachkriegsfrage war: Was wussten die Deutschen? „Sie haben eigentlich fast alles gewusst“, sagt Fleermann. „Wir haben Fotos, da stehen Dutzende von Zuschauern auf der Straße vor zerschlagenen Wohnungen und Geschäften.“ Es gab den Nachbarn, der zitternd hinter der eigenen Wohnungstür wartete, bis der SA-Trupp nebenan abzog. Es gab Hausangestellte, die seit 22 Jahren für eine jüdische Familie arbeiteten, und dann deren Wohnungstür einschlugen.

Was wussten die Deutschen – und was wissen sie heute? Fleermann erzählt von Besuchern, die ihm erzählten, die Großeltern hätten damals jüdische Nachbarn geschützt und versteckt. „Wir sind dem nachgegangen und stellten fest, dass die Großeltern die Nachbarn nicht geschützt, sondern schon vor der Pogromnacht wiederholt bei der Gestapo angezeigt hatten. Es ging um die Wohnung. Sie wollten die mit dem Südbalkon unbedingt haben.“ So wurden aus Lügen Legenden. Auch das erkläre die schwierige Quellenlage, so Fleermann.

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