Ein Arzt in Charkiw, einer in OberbergAusgefallene Ampeln sorgen für Verkehrschaos und Unfälle

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Die Flagge der Ukraine weht im Wind auf einem Schiffsmast.

Seit mehr als zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Besonders betroffen von den russischen Angriffen ist die Milliionenstadt Charkiw.

  • Zahlreiche Hilfstransporte mit Medikamenten sind seit Kriegsbeginn aus Oberberg in die ostukrainische Stadt Charkiw gefahren.
  • Die zweitgrößte Stadt der Ukraine war zu Beginn stark vom Angriffskrieg Russlands betroffen. Inzwischen wurde die Stadt wieder etwas freigekämpft.
  • Der Kontakt kam durch zwei Studienfreunde zustande – einer ist Arzt in der Ukraine, der andere in Oberberg.
  • In unserem Blog erzählen die beiden regelmäßig von der Lage im Krankenhaus in der heftig umkämpften Stadt, aus der Ferne in Oberberg und von ihren Eindrücken im Krieg.

In unserem Blog erzählen zwei Studienfreunde im Gespräch regelmäßig von ihren Erlebnissen zum Angriffskrieg Russlands in der Ukraine.

Igor Prudkov (Oberberg) hat für Dr. Vitaliy P. (Charkiw) und seine Kollegen seit Kriegsbeginn zahlreiche Transporte mit Medikamenten in Oberberg zusammengestellt und die Lieferung durch gefährliches Gebiet organisiert.

Während P. den Krieg und seine Verletzungen aus nächster Nähe erlebt und das Krankenhaus kaum noch verlässt, hilft Prudkov nicht nur aus der Ferne, sondern auch den in Oberberg ankommenden Landsleuten. 

Dienstag, 26. März

Dr. Vitaliy P.

Nach den zuletzt mehrfach schweren Angriffen der russischen Soldaten auf die Ukraine, ist es an diesem Dienstag in der Klinik in Charkiw, in der Dr. Vitaliy P. als Gefäßchirurg arbeitet, erstaunlich ruhig. Am Nachmittag hat der ukrainische Arzt eine Operation, aber ansonsten sei es eher ruhig. Viele Patienten seien derzeit nicht in der Klinik, berichtet P. während eines Telefonats mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov.

Bei den Beschüssen an mehreren aufeinander folgenden Tagen Ende der vergangenen Woche und am Wochenende hätten die Raketen große Teile der Energiewerke in Charkiw getroffen und die Infrastruktur für längere Zeit weitgehend lahmgelegt. Seitdem sei die Heizung außer Betrieb und werde es wohl auch in den nächsten Tagen bleiben, einige müssen stundenlang auf Strom verzichten. In der Klinik laufe mal wieder das Notstromaggregat auf Hochtouren, berichtet P. weiter. Die Patienten bekommen mehr Decken, damit sie nicht frieren.

„Alle geplanten Operationen wurden abgesagt, damit Kapazität für Notfälle vorhanden sind. Viele Patienten sind aber auch von sich aus gegangen, da sie Angst haben, unter den aktuellen Beschüssen in der Klinik zu bleiben. Sie haben sich auf den Weg in Orte gemacht, die aktuell sicherer sind“, berichtet P. am Telefon. Dass diese Angst berechtigt ist, sei P. an diesem Tag selbst vor Augen geführt worden, als er gegen 10 Uhr während einer OP aus dem Fenster eine Explosion, etwa einen Kilometer von der Klinik entfernt, gesehen habe. Erst in der Nacht zuvor seien zwei Raketen auch über sein privates Haus geflogen, erzählt der Mediziner.  

Die Lage ist angespannt. „Es ist der schwerste Angriff auf die Elektrizität und Infrastruktur seit Beginn des Krieges“, bestätigt P. die Nachfrage von Igor Prudkov. Aber: „Es ist nicht der schwerste Angriff, denn im vergangenen Sommer war die russische Artillerie viel näher als jetzt. Damals gab es mehr Tote als in den vergangenen Tagen“, erinnert er sich.

Für mehrere Stunden werde nun am Tag der Strom teilweise geplant ausgestellt, um die Leitungen schnellstmöglich wieder reparieren zu können. Doch der Schaden sei riesig.  Gebäude und Mehrfamilienhäuser seien ebenfalls getroffen worden, berichtet der Arzt weiter. Überall in der Stadt seien die Beschüsse sichtbar. 

Viele Autounfälle wegen ausgefallenen Ampeln in Charkiw

Bis zu 150 Schutzpunkte gebe es in Charkiw, an denen Menschen sich in Sicherheit bringen können, heißen Tee bekommen oder dank Notstrom einfach ihr Handy aufladen können, um mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben. Viele Menschen passen in die aus Beton gebauten Schutzunterkünfte jedoch nicht.

Derweil finde unter der Erde, in den U-Bahnstationen, seit einigen Monaten wieder Unterricht in Präsenz statt – allerdings nur für wenige Schüler der ersten bis dritten Klassen. Denn der Platz ist begrenzt. Der Bürgermeister von Charkiw plane und baue eine erste Grundschule unter Tage. „Aber auch die wird nur Platz für einen kleinen Anteil der Kinder haben, die noch in Charkiw leben. Wie weit der Bau mittlerweile ist, weiß ich nicht“, sagt P.

Kinobesuch inmitten des Krieges

Über der Erde herrsche besonders auf den Straßen Chaos. Wegen der Stromausfälle seien die Ampeln außer Betrieb. „Im Straßenverkehr kommt es aktuell zu so vielen Autounfällen wie nie zuvor. Erst in der vergangenen Woche ist es zu einem sehr schweren Unfall gekommen, bei dem mehrere Menschen gestorben sind“, berichtet P. aus Charkiw. 

Doch in all dem Chaos und inmitten der schlimmsten Kriegszustände kann P. auch eine gute Nachricht verkünden. „Da es in der Klinik zurzeit eher ruhig ist, habe ich seit langer Zeit endlich mal wieder neun Stunden am Stück geschlafen. Am Wochenende sind meine Frau und ich in die Stadt gefahren. Im Kino gab es tatsächlich Strom und so haben wir uns seit langer Zeit mal wieder einen Film im Kino angeschaut. Das hat so viel Spaß gemacht“, erzählt der Mediziner mit einem leichten Schmunzeln. 

Igor Prudkov

„Am Donnerstagabend habe ich mir mit einem Kumpel aus der Ukraine das Fußball-Länderspiel der Ukraine gegen Bosnien und Herzegowina angeschaut. Wir haben uns so gefreut, als die Ukraine in den letzten Minuten noch 2:1 gewonnen hat und sind glücklich schlafen gegangen“, berichtet Igor Prudkov knapp fünf Tage später. Doch ab 5 Uhr in den frühen Morgenstunden sei an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen, als in seiner ukrainischen Heimat in Charkiw die Raketen fielen. 

„Mein Kumpel hat Söhne in der Ukraine. Natürlich hat er sich riesige Sorgen gemacht, dass ihnen etwas passiert sein könnte“, erzählt Prukdkov weiter. Zum Glück gehe es ihnen gut, fügt er gleich an. Diese gute Nachricht sei wenig später am Morgen gekommen und noch rechtzeitig vor einer Tages füllenden Fortbildung, an der er teilgenommen habe und sein Handy ausschalten musste. Denn P. arbeitet als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus und ist bei seiner Arbeit als Facharzt sehr gefordert.

Neben seiner Arbeit im Krankenhaus hat Prudkov auch in den vergangenen Wochen wieder Hilfstransporte mit medizinischen Hilfsmitteln für die Ukraine organisiert. Diese wurden erneut zu seinem Freund an die Klinik nach Charkiw geschickt, darunter Fixierungsgurte, Fixateure externe, Schläuche für eine Ernährung per Sonde sowie Sterilisierungsmittel. Letztere sind noch auf dem Weg nach Charkiw, die anderen Hilfsmittel sind bereits gut angekommen.

Kritische Betrachtung der Anschläge in Moskau und deren Folgen

Kritisch verfolgt hat Igor Prudkov in den vergangenen Tagen den Anschlag in einer Konzerthalle in Moskau, bei der laut russischen Informationen mehr als 100 Menschen gestorben sind. Dass Putin für den Anschlag, zu dem sich bereits Anhänger des Islamischen Staates bekannt haben, auch die Ukraine mitverantwortlich macht, wundert Prudkov nicht.

„Es gab zuvor Warnungen für einen Anschlag und dennoch konnten die Täter mit den Waffen einfach so in die Halle gelangen. Das wundert mich schon sehr, dass es in Zeiten des Krieges keine richtigen Kontrollen gab“, so der Psychiater, der dahinter – wie bereits in vergangenen Zeiten – eine Taktik des russischen Präsidenten vermutet, die dieser gezielt für den Krieg gegen die Ukraine einsetzen wolle.

Mittwoch, 21. Februar

Dr. Vitaliy P.

„Zwei Jahre sehen wir uns nun schon regelmäßig am Telefonbildschirm und sprechen über den Krieg“, meint Dr. Vitaliy P. zu seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov beim Videogespräch an diesem Morgen. Der Arzt aus Charkiw, einer Millionenstadt in der Ukraine, lächelt müde. Er wünsche sich nichts sehnlicher, als ein Ende des Krieges zugunsten der Ukraine und Gespräche mit seinem Studienfreund über fröhliche und ganz alltägliche Dinge. 

Doch P. zeigt sich in dieser Woche, vor dem bevorstehenden 24. Februar, an dem sich der Beginn des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine zum zweiten Mal jährt, auch dankbar. „Ich bin dankbar für die viele Hilfe, auch aus dem Oberbergischen – für unsere Patienten in unserer Klinik, die Arbeit der Ärzte, aber auch für die Soldaten in den Sanitätsbataillonen. Und natürlich für die Waffenlieferungen. Alle diese Hilfen sind der Grund, warum wir uns überhaupt noch verteidigen können“, sagt der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet.

Erinnerung an den Kriegsbeginn in der Ukraine vor zwei Jahren

Der Mediziner erinnert sich an den Kriegsbeginn vor zwei Jahren: „Ich habe mit Igor in Gummersbach telefoniert und er hat mir gesagt, ich muss vier bis fünf Tage durchhalten, dann komme die erste Hilfe.“ Die Gespräche mit seinem Freund und den anderen Helfern und Unterstützern hätten ihm und seinen Kollegen Kraft in schweren Zeiten gegeben – bis tatsächlich schon kurze Zeit nach Kriegsbeginn der erste Hilfstransport mit medizinischen Gütern aus dem Oberbergischen in Charkiw ankam. „Das macht Mut, nicht aufzugeben. Diese Unterstützung und das Wissen, dass wir nicht alleine sind, sind der Antrieb weiterzumachen“, betont P. am Telefon. 

Bereits zwei Wochen nach den ersten Angriffen nahmen P. und seine Kollegen zwei Kisten mit Antibiotika entgegen, die aus dem Gummersbacher Krankenhaus in die Ukraine geschickt worden waren. Viele weitere folgten. Dass nach zwei Jahren Krieg jedoch die Spenden weniger geworden sind und demnach auch weniger Hilfsgüter in die Ukraine gebracht werden können, merke man auch vor Ort, berichtet der Gefäßchirurg weiter. 

Mangelnde Ausrüstung der Ukrainer an der Front bereitet große Sorge

Ganz besonders aber merke man die fehlenden Hilfen aus Amerika. „Die merkt man vor allem bei den Kämpfen an der Front“, sagt P. sichtlich besorgt darüber, dass sich die Ukraine schon bald mangels Ausrüstung nicht mehr verteidigten kann wie bisher. „Das bedeutet aber nicht, dass wir aufgeben werden. Hoffnung haben wir nach wie vor, die werden wir nie verlieren“, betont er und spricht damit für viele seiner Landsleute. „Die Soldaten verteidigen an der Frontlinie nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa. Wir möchten Teil der EU sein und das möchten wir auch zeigen“, so P. weiter.

Verbessert habe sich dagegen im Vergleich zum vergangenen Jahr die Hilfe der Stadt in Charkiw. Es gebe wieder eine Küche, sodass im Klinikum für Patienten gekocht werden kann. Eine Apotheke mit einigen Medikamenten hat wieder geöffnet. Und auch die Organisation sei wieder einfacher geworden – dank mehr Personal. 

Besorgter Blick auf den Tod von Alexei Nawalny

Besorgt schauen derweil auch die Ukrainerinnen und Ukrainer auf den Tod des russischen Regimekritikers und Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Dass er von Putin getötet worden sei, daran bestehe für ihn kein Zweifel, sagt der Gefäßchirurg und erhält von Igor Prudkov an der anderen Leitung des Telefongesprächs ein zustimmendes Nicken. „Ich denke, dass es ein klares Zeichen von Putin ist. Wer gegen ihn redet oder sich gegen ihn wendet, dem droht der Tod. Es ist eine Vorwarnung“, befürchtet der ukrainische Mediziner. 

Dass auch er selbst sich öffentlich gegen Putin positioniert, bereite ihm jedoch keine Angst oder Sorge, auf einer roten Liste des russischen Präsidenten zu landen. „Ich mache das verantwortungsvoll, aber vor allem deswegen, weil es wichtig ist. Und ich spreche nicht nur für mich, sondern für viele in der Ukraine. Für die Patienten, für Bekannte, meine Familie, meine Kollegen in der Klinik und auch für die vielen verletzten Soldaten, die von mir behandelt werden.“

Zeit mit der Familie am 24. Februar

Am bevorstehenden Tag, an dem sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal jährt, seien aus Sicherheitsgründen erneut alle öffentlichen großen Veranstaltungen und Versammlungen in der Ukraine abgesagt worden. „Es ist ein Tag, an dem jeder für sich selbst nachdenken muss. Was ist passiert in diesen zwei Jahren? Wo stehen wir? Was hat die Regierung geleistet? Und was habe auch ich ganz persönlich bewegt?“

Privat werde er Zeit mit seinem Neffen verbringen. Dieser habe sich zu Beginn des Krieges den „Kraken“ angeschlossen und kämpft seitdem als freiwilliger Soldat. „Er hat uns eingeladen, denn es ist ihm wichtig, vor allem an diesem Tag, beisammen zu sein und von dem zu berichtet, was er täglich an der Front erlebt“, sagt P. mit Tränen in den Augen. 

Igor Prudkov

Ganz aktuell hat Igor Prudkov, mit Unterstützung des Klinikums Oberberg, einen Hilfstransport von Gummersbach nach Charkiw geschickt. Zehn Kisten mit Magensonden hat er auf den Weg gebracht, die sowohl in der Chirurgie des Krankenhauses in Charkiw als auch in einem Lazarett für verletzte Soldaten zum Einsatz kommen sollen. Per Handy erhält er wenig später ein Foto, auf dem die Kisten in Empfang genommen werden. Es ist das Zeichen: Alles ist gut gegangen. 

An die Nervosität des ersten Hilfstransportes aus Gummersbach erinnert Prudkov sich noch gut, denn dieser war nicht so reibungslos verlaufen wie der zuletzt. „Es war ein sehr angespannter Moment. Der Bus mit den Hilfsgütern stand viele Tage im Wald und konnte nicht weiter in die Ukraine fahren, da die Beschüsse zu stark waren“, berichtet Prudkov, der als Psychiater am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet. „Als die zwei Kisten dann in Charkiw angekommen waren, war die Erleichterung riesig“, ergänzt er. 

Gleichzeitig habe dieser Transport gezeigt, was möglich ist. Dass Hilfe aus dem Oberbergischen in die Ukraine zu seinen Freunden geschickt werden kann – wenn auch unter gefährlichsten Bedingungen. Einmal ist Igor Prudkov seit Kriegsbeginn auch selbst in seiner Heimat gefahren und hat Hilfsgüter dorthin gebracht. Ansonsten koordiniert er, in Zusammenarbeit vieler weiterer Helfer, die Transporte so gut es geht von Gummersbach aus.

Auch wenn ihn dies, neben seiner anspruchsvollen Arbeit im Krankenhaus, sehr fordere und er manchmal erschöpft sei: „Aus den Fotos, den Telefonaten und der großen Dankbarkeit aus der Ukraine, ziehe ich immer wieder Kraft. Seelische Kraft gibt mir außerdem die Zeit mit meiner Tochter und meiner Enkelin. Ich werde so lange weitermachen, wie es nötig ist“, betont er. 

Mittwoch, 31. Januar

Dr. Vitaliy P.

Drei Raketen des Typs S-300 seien am Dienstag auf Charkiw geschossen worden. „Eine von ihnen ist in dem Gebiet eingeschlagen, in dem ich wohne – nicht weit von meinem Haus entfernt“, berichtet Dr. Vitaliy P. am Mittwochmorgen seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov am Telefon. Nach dem Anschlag habe er zahlreiche Nachrichten von Freunden und Bekannten erhalten, ob sein Haus getroffen worden sei. „Zum Glück gab es keine Verletzten“, berichtet der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet. 

Warum die Raketen in dem Gebiet, das am Wald liegt, eingeschlagen sind, kann sich P. nicht erklären. „Dort gibt es laut unseren Berichten gar keinen Militäreinsatz. Aber vermutlich haben die russischen Soldaten das vermutet wegen des Waldes“, meint der Mediziner aus Charkiw. Bei den Drohnenangriffen einen Tag später seien erneut Mehrfamilienhäuser, ein Geschäft, ein Fahrzeug getroffen worden. Auch dieses Mal habe es keine Toten gegeben. 

„Wobei sich die Angabe zu den Toten nur auf die Zivilbevölkerung bezieht. Wenn Menschen sterben, dann wird das von den Behörden immer veröffentlicht. Anders sieht das bei den Soldaten aus. Über die verstorbenen Soldaten gibt es keine Statistik“, führt der Arzt weiter aus. Hintergrund, dass keine Militärverluste veröffentlicht werden, seien taktische Gründe, um solche Informationen möglichst vor den russischen Soldaten geheim zu halten. Das bedeute aber nicht, betont P., dass die Familien verletzter, vermisster oder verstorbener Soldaten nicht informiert werden. 

Traurige Schicksale an der Front

Schwierig sei sowohl eine Information als auch Bergung Toter in der sogenannten „grauen Zone“ nahe der ukrainischen Stadt Kupjansk, berichtet P. am Telefon. Denn in dieser Zone, unmittelbar vor der Grenze zu Russland, in der auch immer noch Menschen in zerstörten Dörfern leben, gebe es nicht einmal einen Rettungsdienst, der dort im Einsatz ist. „Das wäre viel zu gefährlich. Der Wagen und die Menschen würden sofort bombardiert. Leichen, die dort liegen, können nicht abgeholt werden“, sagt er. Die Information von der Frontlinie zu den Familien der dort eingesetzten Soldaten verlaufe dagegen sehr gut per Telefonketten.

Plötzlich muss P. schlucken und kämpft mit den Tränen. Er erzählt: „Ich kenne einen 19-Jährigen, der sich freiwillig für den Militärdienst an der Front gemeldet hat. Er ist nahe der Stadt Bachmut stationiert gewesen, in einem besonders gefährlichen Bereich. Am 24. Dezember war er verschwunden. Seine Großfamilie war sehr besorgt und die Brüder haben auch mich um Hilfe gebeten, als sie nichts von ihm gehört haben. Später hat sich herausgestellt, dass die Mutter schon vier Tage später, am 28. Dezember, einen Brief erhalten hat, in dem vom Verschwinden ihres Sohnes die Rede ist und in dem wenig Hoffnung gemacht wurde, dass dieser noch am Leben sein könnte. Sie hat niemandem in der Familie von dem Brief erzählt, weil sie es nicht ertragen konnte und sich an die letzte kleine Hoffnung geklammert hat, dass ihr Sohn doch noch lebend auftaucht.“

Nach Kriegsende soll Karneval in Deutschland gefeiert werden

Dass erneut ein möglicher Großangriff Putins auf die Ukraine bevorstehen könne, werde auch in den ukrainischen Medien berichtet, bestätigt Dr. Vitaliy P. derweil. Aber: „Meiner Meinung nach ist das schon jetzt Wahlkampf vor der bevorstehenden Präsidentschaftswahl im März. Denn eigentlich hat Putin doch nichts erreicht, außer kürzlich die Einnahme einiger kleiner Dörfer“, meint der Mediziner kritisch. Sorgen mache er sich dagegen um die langsam ausgehende Ausrüstung an Waffen. „Russland kann viel mehr Soldaten mobilisieren als wir, das kann am Ende den Unterschied machen.“  

In diesen Tagen und vor den bevorstehenden Karnevalsfeiertagen in Deutschland schauen auch Igor Prudkov und Dr. Vitaliy P. auf fast zwei Jahre Krieg. „Hätten wir in den ersten Monaten mehr Ausrüstung gehabt, dann wäre der Krieg längst beendet“, ist sich P. sicher. Doch nun müsse man sich wohl auf einen noch lange andauernden Krieg einstellen, befürchtet er. „Der Sieg hängt nicht von uns ab, wir können nur mithilfe von Europa gewinnen.“

Einen Plan hat P. sich vorgenommen, verrät er schmunzelnd wenige Tage vor den jecken Tagen: „Wenn der Krieg vorbei ist und wir gewonnen haben, dann komme ich nach Deutschland, um Karneval zu feiern.“

Igor Prudkov

Auf die jecken Tage freut sich auch Igor Prudkov: „Ich feiere gerne Karneval und werde an diesen Tagen auch mit meiner Enkelin beim Straßenkarneval unterwegs sein, um mir einen Zug anschauen“, sagt er. Bevor er feiern möchte, hat der Facharzt, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, jedoch noch alle Hebel in Bewegung gesetzt und gemeinsam mit der Caritas einen erneuten Hilfstransport in seine ukrainische Heimat geschickt.

Von Spendengeldern der Caritas konnte ein Geländewagen gekauft werden. Spenden, die noch immer beim Krankenhaus eingehen, wurden in Medikamente, ein Notfallrucksack und weitere medizinische Hilfsmittel investiert, berichtet Prudkov. Alles zusammen ist nun auf dem Weg in die Ukraine und wird voraussichtlich in den kommenden Tagen in Charkiw ankommen. Die Hilfsmittel sollen verletzten Soldaten eines Militäreinsatzes zugutekommen.  

In die Ukraine gebracht wird er von einer Krankenpflegerin und Wundheilmanagerin aus der Ukraine, die am Gummersbacher Krankenhaus eine Weiterbildung macht. „Dabei hat sie schon viele Hürden auf sich genommen, denn in einigen Ländern wurden Gesetzte geändert oder Kontrollen verschärft“, berichtet Prudkov. Denn bei den vielen Hilfstransporten zuletzt seien leider auch Transporte für den Verkauf von Medikamenten missbraucht worden. 

Trotz all der Hürden kämpft Prudkov weiter für die humanitäre Hilfe. Erst am Mittwochmorgen, kurz vor dem Telefonat mit seinem Freund in Charkiw, hat er wieder ein Foto geschickt bekommen von einem weiteren Freund aus Charkiw. Das Foto zeigt einen Flammenschein, kurz nach einem Drohnenangriff, nahe einem Funkhaus für das Telefon- und Internet-Netz, welches wohl das Ziel der russischen Soldaten sein sollte. 

Dienstag, 9. Januar

Dr. Vitaliy P.

Zahlreiche russische Angriffe haben seit den Weihnachtsfeiertagen die Ukraine erschüttert. Von den andauernden Raketenbeschüssen betroffen ist auch die Millionenstadt Charkiw im Nordosten des Landes. Sieben Menschen waren allein in der Region Charkiw ums Leben gekommen, mehr als 60 Menschen wurden so schwer verletzt, dass sie stationär in Krankenhäusern behandelt werden müssen, berichtet Dr. Vitaliy P. am Dienstagmorgen am Telefon seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov.

Viele weitere erlitten Verletzungen durch herumfliegende Glassplitter. „Unter den Toten waren auch zwei ältere Frauen im Alter von 97 und 87 Jahren. Das zeigt erneut, dass der Angriff sich gegen die normale Zivilbevölkerung gerichtet hat“, berichtet P. am Telefon. Von den kürzlichen Angriffen waren auch zwei seiner Kollegen in der Klinik betroffen. Ihre Wohnungen wurden komplett zerstört. „Sie haben nun kein zu Hause mehr und mussten bei Bekannten unterkommen“, berichtet der Mediziner aus Charkiw.

„Putin ist das Wohl seiner eigenen Bevölkerung scheinbar egal“

Dass Putin das Wohl seiner eigenen Bevölkerung scheinbar egal sei, habe erst kürzlich einen Vorfall gezeigt. Als Soldaten eine Rakete auf den Flughafen und auf einen russischen Abschuss-Punkt in Belgorod abschossen, wurden die Raketen von Russlands Abwehrsystem genau über der Stadt Belgorod getroffen. Trümmerteile seien auf die Stadt und die dort lebenden Menschen gefallen. „Dass auch eigene Leute bei dem Krieg sinnlos sterben, das ist Putin ganz egal“, sagt Dr. Vitaliy P. weiter.

In der Klinik, in dem P. als Gefäßchirurg arbeitet, seien die Kapazitäten vor allem vor den Weihnachtsangriffen knapp gewesen. „Über die Feiertage wollten viele Patienten aber natürlich nach Hause. Mittlerweile wird es aber wieder voller. Es sind zurzeit etwa 80 Prozent der Betten belegt und 20 Prozent frei für Notfälle“, berichtet der Arzt weiter.

Getroffen worden war in Charkiw auch ein Hotel, in dem Journalisten, auch aus Deutschland, untergebracht waren. Ein Angriff Putins auf die Pressefreiheit? „Das Hotel ist zumindest dafür bekannt, dass Journalisten dort wohnen“, meint P., ohne mutmaßen zu wollen.

Journalisten sind mit Schutzkleidung an der Front im Reportage-Einsatz

Und wie sieht die Berichterstattung der eigenen Journalisten aus? „Es gibt große Unterschiede, einige recherchieren nur im Internet, andere schreiben nur Porträts über politische Persönlichkeiten und andere gehen raus und sitzen für ihre Reportage selbst mit Schutzausrüstung an der Frontlinie.“ „Die letzten sind mittlerweile sehr bekannt“, berichtet der Mediziner.

Und dann gebe es noch Soldaten, die mit ihrem Handy live von der Front bloggen. Sie filmen sich und die Zustände an der Kriegsfront und berichten somit aus erster Hand. „Offiziere nutzen diese Videos, um die Ereignisse an der Frontlinie zu analysieren“, berichtet der Gefäßchirurg. Gleichzeitig habe aber auch der Geheimdienst ein Auge auf die Veröffentlichungen, denn taktische Informationen sollen nicht über soziale Medien an die russischen Soldaten gelangen. 

Algorithmen der sozialen Medien prüfen die Videos zwar auf sinnvolle Inhalte und sperren sie auf einigen Plattformen wie beispielsweise YouTube für Kinder und Jugendliche. Dass diese im Internet jedoch keine schlimmen Bilder zu sehen bekommen, lasse sich nur schwer verhindern, meint P. und gibt gleichzeitig zu bedenken: „Schlimme Bilder sehen viele Kinder in der Ukraine leider jeden Tag.“ Dafür müssen sie nicht ins Internet schauen, sondern nur aus dem Fenster. Dort sehen sie Zerstörung, und im schlimmsten Fall auf den Straßen Leichen.“

Zumindest eine gute Nachricht kann P. berichten: „Bisher sind wir trotz Anschlägen ohne größeren Strom- und Heizungsausfall in Charkiw davongekommen.“ Aktuell ist es in der Ukraine -15 Grad. Für das kommende Wochenende sind bis zum -30 Grad vorhergesagt. 

Igor Prudkov

Wenn Igor Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Kreiskrankenhaus arbeitet, in diesen Tagen die Bilder der Zerstörung in seiner Heimatstadt Charkiw in der Ukraine sieht, dann muss er jedes Mal schwer schlucken. „All die Orte, an denen ich aufgewachsen bin, so zu sehen ist schlimm.“ Einer der jüngsten Einschläge war nur wenige Meter neben der Schule, die ich als Kind besucht habe“, sagt er. 

Es sei genauso, wie vor wenigen Wochen befürchtet, Russland habe lange keine Raketen in die Ukraine geschossen, um an den Weihnachtsfeiertagen eine größere Anzahl abzuschießen. „Anfangs haben wir noch eine Großzahl abgewehrt, doch bei so einer Masse sind auch unsere Abwehrsysteme irgendwann erschöpft“, sagt er. 

Nach den jüngsten Ereignissen werden in der Ukraine überall Hilfsmittel benötigt, vor allem medizinische Materialien sowie Medikamente für die Versorgung der vielen Verletzten in den Krankenhäusern, weiß Prudkov von vielen seiner Freunde vor Ort, von denen einige als Mediziner tätig sind. Deshalb ist der Gummersbacher schon wieder tatkräftig damit beschäftigt, Mittel für einen weiteren Hilfstransport zu organisieren.

Mittwoch, 20. Dezember

Igor Prudkov

An diesem Mittwochvormittag wird es im Konferenzraum des Gummersbacher Krankenhauses besinnlich. Auf dem Tisch steht Napoleon-Kuchen, eine ukrainische Süßspeise, die traditionell an Weihnachten serviert wird. Igor Prudkov verteilt die Kuchenstücke aus Blätterteig, Butter- und Vanille-Creme auf mehrere Teller. Der Mediziner, der am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet und gebürtig aus der Ukraine stammt, hat heute zu einer Feier in kleinem Kreis eingeladen.

Das bevorstehende Weihnachtsfest steht bei diesem Treffen aber nur an zweiter Stelle. Vielmehr geht es Igor Prudkov an diesem Vormittag darum, Danke zu sagen. Danke für die Unterstützung des Klinikums Oberberg bei der Beschaffung von medizinischen Hilfsgütern, die seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder in die Ukraine, vor allem in die Millionenstadt Charkiw gebracht worden sind. Und welche die Ärzte vor Ort bei ihrer Arbeit dringend benötigen.

An diesem Mittwochmorgen haben sich Magnus Kriesten aus der Geschäftsführung des Klinikums, Chefapotheker Lars Lemmer sowie die Pressesprecherinnen Angela Altz und Anja Dohrmann eingefunden. Sie alle erhalten leere Patronenhülsen, die Prudkov von seiner Hilfsreise in der Ukraine vor mehreren Wochen mitgebracht hat und die nach langem Postweg im Oberbergischen angekommen sind. Von der Frau eines Freundes wurden die Patronenhülsen bemalt. Sie zeigen Wahrzeichen der Stadt Charkiw, erinnern jedoch zugleich an den Krieg in der Ukraine. Sichtlich gerührt nehmen die Anwesenden die leeren Hülsen entgegen. 

„Die erste Kiste mit Hilfsgütern war die spannendste, denn sie war wochenlang unterwegs“, erinnert sich Angela Altz an den ersten Transport, der bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn im Februar 2022 von Gummersbach nach Charkiw auf den Weg gebracht worden war. Wegen andauernden Luftangriffen hatte der Transporter damals tagelang im Wald gestanden und der Fahrer hatte eine Lücke in den Bombardierungen abgewartet, um die Hilfsmittel weiter nach Charkiw an eine Klinik bringen zu können. 

„Wir werden unsere Hilfe fortsetzen“, versichert Magnus Kriesten und dankte neben der Belegschaft am Klinikum und weiteren Unterstützern vor allem den vielen Spendern für deren Engagement. Es seien die vielen Akteure, die all die Hilfen gemeinsam ermöglicht hätten. Dank der zahlreichen Spendengelder habe man von Seiten des Klinikums medizinische Hilfsgüter im Gesamtwert von mehr als 100.000 Euro aufbringen und in die Ukraine bringen können.

Sichtlich bewegt zeigt sich auch Lars Lemmer, Chefapotheker am Klinikum Oberberg, von den Präsenten aus der Ukraine und der Grußbotschaft per Videotelefonat aus Charkiw, denn Igor Prudkov hat auch seinen Freund und Gefäßchirurg Dr. Vitaliy P. live aus der ukrainischen Millionenstadt zugeschaltet.

Dr. Vitaliy P.

Die bemalten Patronenhülsen aus Charkiw seien nur ein kleiner Teil eines großen Dankeschöns für die Hilfe aus dem Oberbergischen für seine Heimat sowie die Arbeit der Ärzte in seiner Klinik und in den Sanitätsbataillonen, betont P. ebenfalls gerührt. „Wir sind sehr dankbar für diese Hilfe und für das große Engagement“, so der Gefäßchirurg. „Natürlich haben wir die große Hoffnung, dass es auch im neuen Jahr weitere Unterstützung gibt“, fügt er hinzu.

An diesem Morgen sei jüngst eine Rakete in Charkiw in ein Straßenbahndepot eingeschlagen. Dort sei nun ein großer Krater zu sehen. Verletzt oder getötet worden sei dabei zum Glück niemand, berichtet P. weiter. In seiner Klinik hat P. derweil viel zu tun. „Wir behandeln derzeit viele verletzte Soldaten mit Knochenbrüchen oder Gefäßverletzungen“, erzählt der Chirurg. Die Arbeit sei glücklicherweise einfacher als im vergangenen Jahr zur selben Zeit, denn „dieses Jahr haben wir bislang kaum Stromausfälle und auch die Heizung ist an.“ Die Situation bleibe dennoch schwierig. 

Frei an den Weihnachtsfeiertagen habe in Charkiw kaum jemand. Gefeiert werde ohnehin nicht, denn die Feiertage wurden wegen des Krieges gestrichen. Er selbst habe zumindest am Wochenende frei, welches er wegen einer Vorlesung, die er am Freitag halten müsse, in Odessa verbringe, berichtet P. am Telefon.

Igor Prudkov

Nach dem bewegenden Telefonat mit Dr. Vitaliy P. und den Eindrücken aus Charkiw nutzt Igor Prudkov das Treffen mit den Verantwortlichen des Klinikums Oberberg, um noch einmal auf weitere Spenden hinzuweisen. In der hart umkämpften ukrainischen Stadt Awdijiwka an der Grenze zu Russland werde derzeit besonders dringend ein Krankenwagen benötigt, hat er über seine Kontakte vor Ort erfahren. Händeringend ist Prudkov nun auf der Suche nach einem passenden Fahrzeug und nach Spenden, die eine Beschaffung ermöglichen würden.

Spenden können auf ein speziell eingerichtetes Konto der Caritas Oberberg überwiesen werden unter dem Stichwort „Ukraine-Hilfe Klinikum Oberberg“. Informationen zum Spendenkonto gibt es auf den Homepages der Caritas Oberberg und auf der Internetseite des Klinikums Oberberg, die für Hilfstransporte Hand in Hand arbeiten. 

Mittwoch, 22. November

Dr. Vitaliy P.

Während das Thermometer in Gummersbach am Mittwochmorgen 1 Grad Celsius anzeigt und sich Frost auf der Wiese des Kreiskrankenhauses abzeichnet, an dem Igor Prudkov arbeitet, ist in der ukrainischen Stadt Charkiw der erste Schnee gefallen. Minus 5 Grad Celsius steht dort auf der Anzeige, berichtet Prudkovs Freund Dr. Vitaliy P. am Telefon.

Es ist die Jahreszeit, vor der die Ukrainerinnen und Ukrainer, die derzeit im Krieg leben müssen, besonderen Respekt haben. Denn neben den Beschüssen durch die russische Armee kommt nun die Kälte dazu. „Noch funktionieren die Heizungen, und auch Strom ist da“, berichtet P. aus Charkiw. Anfang des Monats seien zunächst die Heizungen an den Kliniken angeschaltet worden, kurz darauf kam die Wärme in die Wohnhäuser – allerdings nicht überall.

Zahlreiche Mehrfamilienhäuser in Charkiw sind zerstört

Zahlreiche Mehrfamilienhäuser sind zerstört, in einigen klaffen riesige Löcher in den Fassaden. „So kommt die Wärme nicht in die noch intakten Wohnungen drumherum“, sagt P. weiter. Somit sitzen viele in Charkiw derzeit mit Heizlüftern oder ganz ohne Wärme in ihren vier Wänden.

„Noch hat es kaum Beschüsse auf Energiewerke gegeben. Im letzten Jahr haben die russischen Soldaten diese schon ab September bombardiert. Wir haben aber große Sorge, dass Raketen gesammelt werden, und es bald tägliche Angriffe auf diese Werke geben wird, damit wir sie nicht schnell genug reparieren können“, spricht P. das aus, was derzeit viele Menschen in der Ukraine fürchten. Ein richtig ungutes Gefühl bekam P. zudem in diesen Tagen, als eine russische Drohne über sein eigenes Dach flog und abgeschossen wurde. 

Gesetz zwingt Familien mit Kindern, Orte an der Frontlinie zu verlassen

Hilfsangebote, auch in Bezug auf alternative Unterbringungsmöglichkeiten für Menschen, die ohne Heizung sind, gebe es in Charkiw weiterhin, berichtet P.: „Es gibt in unserer Stadt viele Studentenwohnheime mit Zimmern, die zurzeit leer stehen, da die Studenten alle nur online unterrichtet werden und deshalb zu Hause geblieben sind“, erläutert der Gefäßchirurg, der in Charkiw an einer Klinik arbeitet. Er weiß jedoch auch: „Viele Menschen wollen trotz der Kälte und den unwohnlichen Zuständen ihr Haus nicht verlassen.“ 

Gesetzlich geregelt sei in der Ukraine dagegen die Evakuierung von Familien mit Kindern, die in Ortschaften unmittelbar an der Grenze zur Frontlinie wohnen. „Da dort die Gefahr von Beschüssen besonders hoch ist und die Kinder geschützt werden sollen, werden diese Familien gezwungen, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen und in nahegelegene, sicherere Orte gebracht – ob sie wollen oder nicht.“

Und wie wäre es, wenn er selbst eines Tages im Kalten sitzen würde, da in seinem Haus die Heizung ausfällt oder sein Haus von Raketen getroffen würde? „Darüber habe ich mir ehrlicherweise noch keine intensiven Gedanken gemacht. Aber ich denke, wenn es so kommen würde, dann können meine Frau und ich in der Wohnung meines ältesten Sohnes unterkommen. Er wohnt auch in Charkiw. Das wäre definitiv meine erste Anlaufstelle, und es ist gut zu wissen, dass wir diese Möglichkeit haben.“

Besuch von Verteidigungsminister Boris Pistorius in Kiew

Derweil verfolgt auch Dr. Vitaliy P. den überraschenden Besuch von Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius, der am Dienstag mit dem Zug in Kiew angekommen ist. „Das ist für mich berührend und gibt mir Hoffnung, denn es zeigt, dass wir nicht alleine sind im Krieg“, betont der Arzt dankbar. Generell seien Fortschritte des ukrainischen Militärs immer dann erkennbar, wenn Hilfe aus anderen Ländern in die Ukraine geschickt werde. 

Traurig macht P. dagegen das Wissen, dass ein Soldat, den er einst selbst in seiner Klinik behandelt hat, an der Frontlinie bei Bachmut gestorben ist. Da die Lage dort jedoch so angespannt ist, sei es bislang nicht möglich gewesen, den Verstorbenen zu bergen und nach Hause zu seiner Familie zu bringen und dort zu bestatten. Dabei ist die Bestattung der Verstorbenen besonders wichtig. „Von allen Soldaten ist die DNA genommen worden, um Tote identifizieren zu können. Zudem trägt jeder eine Marke mit seiner Identität“ berichtet der Gefäßchirurg. Einen DNA-Test mache man auch bei verstorbenen Zivilisten, deren Identität nicht klar erkennbar sei. 

Igor Prudkov

Gut einen Monat nach seinem persönlichen Hilfseinsatz für die Ukraine und der Reise nach Charkiw, um einen ausrangierten Krankenwagen sowie medizinische Hilfsmittel von Gummersbach aus dorthin zu bringen, ist Igor Prudkov bereits mit den nächsten Hilfseinsätzen beschäftigt. „Der Sohn eines guten Freundes hat mich um Hilfe und Ausrüstung gebeten für das Sanitätsbataillon in Awdijiwka.“

Prudkov hat gehört, dass an der Front zuletzt viele ukrainische Soldaten gestorben sind. „Es wird deshalb ein neues Bataillon gebildet und vor Ort wird dringend ein Krankenwagen benötigt“, sagt der Psychiater und ergänzt: „Sie haben dort nichts, weder einen Wagen, noch eine medizinische Einrichtung, noch Hilfsmittel für die Versorgung Verletzter.“

Es sind diese Nachrichten, die Igor Prudkov auch nachdenklich stimmen, wenn er vom Besuch des deutschen Verteidigungsministers in Kiew hört. „Es ist wichtig, dass die Ukraine Hilfe bekommt, und dafür sind die Menschen auch sehr dankbar. 20.000 Artilleriegranaten klingt viel, aber wenn 7000 pro Tag benötigt werden, dann sind diese Hilfen schon nach Tagen aufgebracht. Wir brauchen längerfristige Hilfe“, meint der Gummersbacher. 

Mittwoch, 1. November

Igor Prudkov, Psychiater am Krankenhaus in Gummersbach, und Notfallsanitäter Rolf Kühr, haben kürzlich gemeinsam einen ausrangierten Krankenwagen in die ukrainische Millionenstadt Charkiw gebracht. Gespendet wurde der Krankenwagen von der Caritas Oberberg für den Hilfseinsatz im Krieg an der ukrainischen Frontlinie. In Gummersbach machten sich Prudkov und Kühr auf den Weg. Unterwegs haben sie Tagebuch geführt.

Montag, 16. Oktober

Um 11.30 Uhr steigen Igor Prudkov und Rolf Kühr am Gummersbacher Krankenhaus in den ausrangierten Krankenwagen, den sie nach Charkiw bringen möchten. An Bord sind auch Medikamente und weitere medizinische Ausrüstung, die dank vielen Spenden zusammengekommen sind. Sie sollen der Gefäßklinik in Charkiw und weiteren Krankenhäusern und einem Sanitätsbataillon zugutekommen.

Heutiges Ziel: so weit fahren wie möglich.

Dienstag, 17. Oktober

In den frühen Morgenstunden, um 2.30 Uhr, haben die beiden Oberberger den Grenzübergang in Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze erreicht. Bis dahin haben sie nur wenige kurze Pausen gemacht. Bei den jeweiligen Zollbeamten müssen sie für die Aus- und Einreise jede Menge Papiere vorlegen, darunter Fahrzeugbrief und -schein, einen Kaufvertrag des Autos sowie Unterlagen, in denen festgehalten ist, wohin das Auto gebracht werden soll, und dass sich weitere Hilfsgüter an Bord befinden.

„Viele Papiere wurden direkt von den Ukrainern selbst ausgefüllt und die Ladung kurz kontrolliert. Alle waren sehr hilfsbereit und die Ukrainer natürlich auch sehr dankbar für die humanitäre Hilfe“, berichtet Igor Prudkov. Um 5 Uhr ist die Grenzkontrolle geschafft und die Einreise in die Ukraine genehmigt. Da die nächtliche Ausgangssperre, die in der Ukraine derzeit zwischen 23 und 5 Uhr gilt, gerade vorbei ist, kann es direkt weiter gehen.

Um 10 Uhr stärken sich die Oberberger in einem Restaurant mit Borschtsch, einer traditionellen ukrainischen Suppe, und Spiegeleiern. Anschließend geht die Fahrt weiter. Zahlreiche Kontrollstellen, sogenannte Blockposten, erschweren die direkte Route, immer wieder wird Slalom gefahren. Nach ein paar verpassten Abbiegungen und einem Stau vor einer Brücke, kommen Igor Prudkov und Rolf Kühr gegen 17 Uhr in Kiew an und müssen sich einer Kontrolle unterziehen. Anschließend fahren sie zwei weitere Stunden Richtung Poltawa.

Unterwegs organisiert Prudkov, der aus der Ukraine stammt und in Charkiw aufgewachsen ist, ein Hotel. Denn bis nach Charkiw ist es noch zu weit, um durchzufahren – und auch die Ausgangssperre rückt näher. Um 19 Uhr kommen die beiden schließlich in einem Hotel an. Der Parkplatz befindet sich in einem Innenhof und ist videoüberwacht. „Darauf habe ich natürlich geachtet, denn der Krankenwagen und die Hilfsmittel an Bord sollten sicher stehen“, berichtet Igor Prudkov. Im Hotel machen die beiden schnell Bekanntschaft mit mehreren jungen Menschen, mit denen sie sich sogar auf Deutsch unterhalten können. Müde fallen die Oberberger in die Betten.

Mittwoch, 18. Oktober

Nach dem Frühstück starten Prudkov und Kühr um 8 Uhr ihre Weiterfahrt nach Charkiw. „Obwohl ich so müde war nach der langen Fahrt, habe ich nicht gut geschlafen“, erzählt Prudkov. Er sei viel zu aufgekratzt gewesen. Zudem habe es nachts ständig Luftalarm gegeben, berichtet der Psychiater weiter, der eine spezielle Warn-App auf seinem Smartphone installiert hat.

Über zum Teil schlechte Straßen rund um Poltava, geht die Tour mit dem gespendeten Krankenwagen weiter bis ins noch knapp 200 Kilometer entfernte Charkiw. Die Brücken sind militärisch gesichert, die bisherigen Anschläge haben deutliche Spuren hinterlassen. „Ab Poltawa war jede Brücke besetzt“, berichtet Prudkov. An einem Blockposten in Charkiw, wo sie gegen Mittag endlich ankommen, werden die beiden Oberberger erneut kontrolliert und müssen ihre Papiere vorzeigen.

Erschöpft, aber erleichtert kommen Igor Prudkov und Rolf Kühr gegen 13 Uhr in Charkiw an. Nachdem sie den Krankenwagen noch einmal aufgetankt haben, steuern sie zunächst das seit zwei Jahren leer stehende Haus von Prudkovs Mutter an. Ein Freund passt auf das Haus auf, hält es instand und hat es für den Besuch der beiden Oberberger hergerichtet. „Das war für mich sehr emotional. Ich war fünf Jahre nicht mehr in der Ukraine. In dem Haus anzukommen, hat viele Erinnerungen hervorgerufen“, berichtet Prudkov, der auch berührt ist von den vielen Spuren, die der Krieg auf den Straßen rund um das Haus hinterlassen hat.

Nachdem sich die beiden umgezogen und etwas ausgeruht haben, geht es weiter Richtung Klinik, in der auch Prudkovs Studienfreund Dr. Vitaly P. als Gefäßchirurg arbeitet. Regelmäßig telefonieren die beiden. In einer Garage wird der Krankenwagen sicher geparkt, denn er soll erst am nächsten Tag offiziell übergeben werden. P. ist an diesem Tag nicht in der Klinik, da er sich noch auf einer Tagung in Kiew befindet. Und so machen sich Prudkov und Kühr alleine auf den Weg.

Mehrere Stunden laufen sie am Nachmittag durch Charkiw. Dabei zeigt Igor Prudkov seinem Begleiter zahlreiche Plätze und Orte, an denen er aufgewachsen ist und berichtet aus seiner Kindheit. „Es hat mich sehr berührt, die Stadt, in der ich als Kind mit meinen Eltern gewohnt habe, im Kriegszustand zu sehen. Der Krieg ist bei jedem Schritt sichtbar“, berichtet der Ukrainer sichtlich bewegt.

Wie traurig-normal der Krieg für die Bewohner vor Ort geworden ist, sei bei einem Café-Besuch deutlich geworden. „Als der Luftalarm losging, sind alle einfach sitzen geblieben. Niemand ist panisch aufgesprungen“, sagt Prudkov. Denn zu nah ist Belgorod. Raketen, die von dort aus geschossen werden, sind so schnell in   Charkiw, dass die Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, oft gar nicht reicht. Nach der Stadttour sind Prudkov und Kühr abends noch bei einem Freund zum Essen eingeladen.

Donnerstag, 19. Oktober

Der Donnerstag sei der anstrengendeste Tag der Reise gewesen, berichtet Igor Prudkov nach der Rückkehr. Als er und Rettungsassistent Rolf Kühr morgens aufbrechen, um mit der U-Bahn zur Klinik in Charkiw zu fahren, wissen sie das aber noch nicht. „Die U-Bahn-Hallen sind hervorragende Bauwerke und sehr beeindruckend. Es ist überall erstaunlich sauber. Nirgendwo liegt Müll herum, nirgendwo ist Graffiti gesprüht“, berichtet Kühr.

Zerstörung wird dagegen in der Stadt sichtbar. Ein 1880 erbautes historisches Gebäude ist beispielsweise von einer Rakete getroffen worden. Die Außenfassade ist nur leicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Innenhof, in dem Prudkov einst so gerne Zeit verbrachte, ist jedoch vollkommen zerstört, wie er mit Tränen in den Augen erzählt. „Das hat mir richtig wehgetan.“ Nur 300 Meter von dort entfernt habe seine Familie gewohnt.

Die beiden Oberberger sind auf dem Weg zur Klinik, um den Krankenwagen und die Spenden abzuholen. Auf dem Freiheitsplatz werden diese am Nachmittag übergeben. Der leitende Arzt des Sanitätsbataillons an der Frontlinie sowie weitere Medizinier von Kliniken seien begeistert von dem modernen Krankenwagen gewesen, berichten die Oberberger. Dieser soll direkt an der Front eingesetzt werden, obwohl er dafür eigentlich zu schade sei. Zuvor wird er noch olivgrün lackiert.

Zwei Kisten mit Medikamenten bleiben nicht in Charkiw. Sie werden weitergegeben an ein Krankenhaus in Woltschansk, in dem ebenfalls ein Freund von Prudkov als Arzt tätig ist. Besonders begehrt bei den Ukrainern seien zudem acht gelbe Trageliegen, sogenannte Spineboards, gewesen, berichtet Kühr, für den vor allem der Austausch mit dem ukrainischen Rettungsdienst sehr wertvoll gewesen sei.

Auch mit verletzten Soldaten sprachen die beiden Oberberger vor Ort. „Dadurch haben wir einen Eindruck davon bekommen, wofür unsere Spenden aus Oberberg genau verwendet werden und was vor Ort noch dringend benötigt wird“, sagt Kühr. Denn dem Klinikum Oberberg und der Caritas Oberberg sind eine zielgerichtete Hilfe besonders wichtig.

Nach der Übergabe der Hilfsmittel verbringen Prudkov und Kühr den Abend im Haus von Dr. Vitaliy P. und dessen Familie. „Dieses Wiedersehen war besonders schön für mich, wir haben uns so lange nicht mehr persönlich gesehen“, sagt Prudkov.

„Die Ankunft von Igor und Rolf war für mich und meine Kollegen in der Ukraine eine große Freude. Es ist eine Bestätigung dafür, dass wir von der europäischen Öffentlichkeit, Freunden und Kollegen aus Deutschland unterstützt werden und dass diese keine Angst davor hab, in dieser schwierigen und gefährlichen Zeit Tausende von Kilometern in die Ukraine zu reisen, wo Krieg herrscht und regelmäßig Raketen einschlagen. Das ist sehr mutig“, sagt P. dankbar. Bei ukrainischen Köstlichkeiten wird abends noch lange geplaudert.

Freitag, 20. Oktober

Um 10 Uhr macht sich Rolf Kühr an diesem Morgen auf den Weg zu einem Austausch mit dem Leiter des Rettungsdienstes in Charkiw. Von diesem erfährt er, unter welcher besonderen Belastung die Rettungssanitäter in Charkiw arbeiten müssen. Nach einem Anschlag versorgen sie die Verletzten und bringen sie in Kliniken. Danach müssen sie erneut zum Anschlagsort fahren und die Toten bergen, denn es gibt nicht genügend Bestatter, die diese Aufgabe erledigen können. Das Gespräch hallt lange nach.

Ebenso bewegend sind die Eindrücke weiterer ukrainischer Orte, nahe der russischen Grenze, die beinahe komplett zerstört sind. Ein 16-stöckiges Haus ist bewohnt, obwohl nach einem Anschlag in der unteren Hälfte ein großes Loch in der Fassade klafft. „Wenn man darin wohnt, hat man den Krieg jeden Tag ganz besonders vor Augen. Das kann man nicht ohne Tränen in den Augen sehen“, berichtet Prudkov. Mit einem seiner besten Freunde, den er schon seit Schultagen kennt, kehren Prudkov und Kühr mittags in einem Restaurant ein.

Am Nachmittag treten die beiden Oberberger ihre Rückreise an – zunächst geht es mit dem Zug nach Kiew. Dort treffen sie den Offizier Marat A., zu dem beide Oberberger eine besondere Beziehung haben. A. war im Kriegseinsatz schwer verletzt worden und hatte beide Beine verloren. Im Sommer 2022 wurde er im Gummersbacher Krankenhaus behandelt. Heute kann er dank erfolgreicher Behandlung in Gummersbach und Prothesen wieder laufen, wenn auch langsamer als zuvor. Das Wiedersehen mit Prudkov und Kühr ist besonders herzlich.

Nach einem siebenstündigen Aufenthalt in Kiew geht es mit dem Bus weiter nach Polen nach Katowitz. Ein Shuttle bringt sie zum außerhalb des Zentrums gelegenen Flughafen. Von dort aus startet der Flieger nach Dortmund.

Samstag, 21. Oktober

Vollkommen erschöpft und nach einer insgesamt 40-stündigen Rückfahrt ab Charkiw landen Igor Prudkov und Rolf Kühr in Dortmund. Von dort geht es zurück nach Gummersbach und für den vollkommen übermüdeten Igor Prudkov noch weiter nach Bergisch Gladbach, wo er wohnt. Zurück bleiben einschneidende Erlebnisse der Hilfstransport-Reise.

„Ich habe die Stadt und meine Freunde so lange nicht gesehen. Mich hat die ganze Reise vor allem emotional sehr berührt“, sagt Igor Prudkov. Wieder zurück im Oberbergischen, berichten er und Rolf Kühr auch dem Klinikum Oberberg und der Caritas vom Erlebten und den vielen Eindrücken vor Ort. Sie alle hoffen auf weitere Spenden für die medizinische Versorgung in der Ukraine, denn wie wichtig diese vor Ort ist, haben Igor Prudkov und Rolf Kühr mit eigenen Augen gesehen.

Donnerstag, 19. Oktober

Igor Prudkov

Er sei immer noch ganz aufgeregt, berichtet Igor Prudkov. Der Grund: Prudkov sitzt an diesem Tag nicht – wie sonst üblich – im Konferenzraum des Gummersbacher Krankenhauses, in dem er als Psychiater arbeitet, und mit seinem ukrainischen Freund in Charkiw telefoniert. Dieses Mal sitzt er direkt neben ihm und beide lächeln gemeinsam in die Handykamera. Prudkov hat sich am Montag, gemeinsam mit Rettungssanitäter Rolf Kühr, in Gummersbach auf den Weg in die Ukraine gemacht, um einen ausrangierten Krankenwagen in die Ukraine zu bringen. Dieser wurde über die Caritas Oberberg für den Einsatz an der ukrainischen Frontlinie zu Russland gespendet. 

Die Einreise in die Ukraine habe gut funktioniert, berichtet Prudkov. „Rolf ist richtig gut gefahren. Wir sind an einem Tag durch Deutschland und Polen gefahren und waren sehr schnell an der polnisch-ukrainischen Grenze“, erzählt er mit anerkennendem Blick auf seinen Begleiter. An der Grenze hätten sie sehr zuvorkommende Zollbeamte angetroffen, die ihnen die Einreise in die Ukraine leicht gemacht hätten. „Und wenn sie erfahren, dass wir Hilfsmittel bringen, ist die Freunde natürlich besonders groß und man erfährt eine große Dankbarkeit“, so Prudkov.

Übernachtet wurde anschließend 200 Kilometer von der ukrainischen Millionenstadt Charkiw entfernt, denn nachts gilt in der Ukraine nach wie vor eine Ausgangssperre. Da müssen auch Hilfstransporte pausieren. Am nächsten Tag setzten die Oberberger ihre Fahrt fort. In Charkiw angekommen übergaben die beiden den Krankenwagen sowie Medikamente und weitere medizinische Ausrüstung, die sie dank Caritas und Klinikum Oberberg ebenfalls als Spenden mitnehmen konnten, am Institut für Chirurgie in Charkiw. Die Freude und Dankbarkeit der Anwesenden sei riesig gewesen, berichten Prudkov und Kühr. 

Die Eindrücke vor Ort haben bei Prudkov einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Fünf Jahre war er nicht mehr in seiner ukrainischen Heimat, berichtet er. Das erste Mal ist er außerdem dort, seitdem Russland den Krieg gegen die Ukraine eröffnet hat. „Man sieht den Krieg bei jedem Schritt, obwohl vieles schnell repariert wird, um so wenig Kriegszeichen wie möglich vor Augen zu haben. Aber man spürt ununterbrochen, dass Krieg herrscht. Die Sirenen sind ständig zu hören“, berichtet Prudkov.

Ein Erlebnis hat sich besonders eingeprägt. „Als wir in Charkiw angekommen sind und am Ortsschild standen, ist eine Rakete Richtung Stadt über uns geflogen. Russland hat uns direkt begrüßt“, berichtet Prudkov sarkastisch und traurig, denn erneut seien Menschen in der Region bei dem Beschuss ums Leben gekommen.

Er habe Rolf Kühr vor Ort schon vieles aus seiner Kindheit gezeigt, erzählt Prudkov. Dreieinhalb Stunden habe er ihn zu all den Orten geführt, die ihm viel bedeuten. Auch in den nächsten Tagen möchte er seinem Oberberger Freund seine Heimat zeigen und gleichzeitig die Zeit mit seinem Studienfreund Dr. Vitaliy P. genießen, den er so lange nur am Telefon gesprochen hat. Dabei muss er immer wieder übersetzen und auch sonst jede Menge organisieren – das fordere ihn zwar, sagt er, allerdings mit einem sehr zufriedenen Lächeln im Gesicht. 

Rolf Kühr

Zum zweiten Mal ist Rolf Kühr in der Ukraine. Neben der ihm entgegenkommenden Dankbarkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer für seine Hilfe ist er vor allem von der außerordentlichen Sauberkeit auf den Straßen beeindruckt – und das inmitten der Kriegszerstörungen. „Nirgendwo liegt Müll, man sieht keine Graffiti und auch keine Sachbeschädigungen. Die Ukrainer haben scheinbar eine andere Mentalität, was das angeht“, berichtet Kühr.

Bei seinem Hilfseinsatz in der Ukraine möchte sich der Rettungssanitäter aus dem Oberbergischen einen Eindruck von den Gegebenheiten vor Ort verschaffen und auch sehen, wo die Hilfe aus dem Oberbergischen zum Einsatz kommt. Und gleichzeitig, welche medizinischen Mittel am dringendsten gebraucht werden. „Dann können wir gezielt überlegen, in welche Mittel die Spenden aus Oberberg fließen sollen, und was sinnvoll ist“, sagt Kühr. Dabei unterscheiden sich die benötigten Mittel je nach Ort jedoch erheblich, hat der Rettungssanitäter bereits festgestellt, der sowohl in einer Klinik als auch im Sanitätsbataillon unterwegs war und dort mit verletzten Soldaten gesprochen hat. 

All die Hilfe, die Rolf Kühr in diesen Tagen leisten kann, sei ohne Hilfsorganisationen wie die Caritas Oberberg und die vielen Spender nicht möglich, sagt der Rettungssanitäter dankbar, und hofft auch in Zukunft auf weitere wertvolle Unterstützung.

Dr. Vitaliy P.

Lächelnd hört Dr. Vitaliy P. seinem Freund Igor Prudkov und Rolf Kühr zu, die von dem in den vergangenen Tagen erlebten berichtet. Er sei dankbar für die Hilfe und für Leute wie die beiden, die wichtige Hilfe für die Ukraine leisten, sagt er immer wieder. Denn der Gefäßchirurg, der in einer Klinik in Charkiw arbeitet, weiß, wie wichtig die Medikamente und medizinischen Mittel bei der täglichen Versorgung seiner Patienten sind, von denen viele mit Kriegsverletzungen in seine Klinik kommen.

Es ist nur das „Danke“, was P. an diesem Donnerstagmittag über die Lippen kommt. Er ist ruhiger als sonst. Bei der Frage, was er noch alles mit seinem Freund und dessen Begleiter vorhat, während deren Besuch, blüht er jedoch schlagartig auf. „Ich habe sehr viel geplant, der Tag wird voll“, meint er und lacht. Am Abend soll es zur Abwechslung in ein deutsches Restaurant gehen. „Dann kann Rolf mit der Küche zu Hause vergleichen“, meint P. schmunzelnd. 

Mittwoch, 11. Oktober

Igor Prudkov

Mehrfach versucht Igor Prudkov an diesem Mittwochmorgen von Gummersbach aus seinen Freund Dr. Vitaliy P. in der Ukraine zu erreichen. Doch der Anruf führt ins Leere – sowohl über das Internet als auch über das normale Telefonnetz. Prudkov ist beunruhigt. „Das kommt sehr selten vor. Das Internet ist oft schlecht, vor allem, wenn es Beschüsse gegeben hat, aber eigentlich erreiche ich meinen Freund dann über das Telefonnetz. Das ist meist recht stabil.“

An diesem Morgen gibt es erneut heftige Kämpfe in der Ostukraine, in der Nähe von Donezk. Dr. Vitaliy P., der als Gefäßchirurg in einer Klinik in Charkiw – unweit zur russischen Grenze – arbeitet, befindet sich an diesem Mittwochmorgen im südwestlichen Teil der Ukraine, in Winnyzja. Dort nimmt er an einer Konferenz für Gefäßchirurgen teil, auf der er selbst eine leitende Funktion besitzt und zwei Vorträge hält. Schon in den vorherigen Tagen sei das Netz nicht stabil gewesen, berichtet Prudkov. Erst einen Tag später erhält er erleichtert die Nachricht. Seinem Freund in der Ukraine geht es gut. Er hatte sein Handy vergessen und war deshalb einen Tag lang nicht erreichbar.

Mehrfamilienhaus eines Bekannten wurde in Charkiw getroffen

In Charkiw habe es in den vergangenen Tagen schwere Raketenangriffe im Zentrum der Region gegeben, berichtet Prudkov. Dabei sei auch ein Mehrfamilienhaus getroffen worden, in dem ein Bekannter von ihm gewohnt habe. „Er hat Glück gehabt und hat überlebt. Aber er hat nun keine Wohnung mehr. Er ist 70 Jahre alt und jetzt obdachlos“, berichtet der Psychiater, der am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet. Das sei auch im Hinblick auf den bevorstehenden Winter schlimm. 

„Die Menschen in der Ukraine haben im vergangenen Winter Erfahrungen gesammelt. Es war schlimm, aber sie sind jetzt darauf vorbereitet und wissen, was in der kalten Jahreszeit auf sie zukommen wird“, berichtet der Psychiater weiter. Von seinem Freund P. weiß er, wie dankbar dieser für das Winter-Hilfspaket für die Ukraine der deutschen Bundesregierung sei.

Entsetzen über die Ereignisse in Israel

Entsetzt ist auch Prudkov über die Ereignisse in Israel. „Ich empfinde großes Mitleid mit den Betroffenen in Israel und auch in der Ukraine ist die Anteilnahme sehr groß“, berichtet Prudkov, der bereits in den vergangenen Tagen mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. darüber gesprochen hat. Die Hilfsbereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer sei immens – und das, obwohl diese selbst im Krieg leben und Hilfe benötigen. „Am Dienstag war ganz Kiew in den Farben der israelischen Flagge angestrahlt“, berichtet Prudkov. 

Schockiert und vollkommen verständnislos zeigt sich der Gummersbacher Psychiater in Bezug auf Versammlungen von Hamas-Sympathisanten in Deutschland, die die Angriffe der palästinensischen Terrororganisation auf die Israeliten gutheißen.

„Dafür habe ich kein Verständnis. Dass so etwas in Deutschland überhaupt passiert, vor allem mit der Vergangenheit des Landes, in dem einst Juden verfolgt und getötet wurden“, kritisiert Prudkov diese Versammlungen scharf und hat eine ganz klare Meinung: „Menschen, die hier hergekommen sind, sich aber nicht an unsere Werte und Gesetze halten, die sollten direkt wieder in den Flieger gesetzt werden und unser Land verlassen.“ Dabei wünscht sich Igor Prudkov auch ein klares Vorgehen der Behörden. „Es wird viel zu viel diskutiert statt reagiert“, sagt er. 

Dienstag, 19. September

Dr. Vitaliy P.

Während es im vergangenen Jahr am Tag der Unabhängigkeit in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw eine 48 Stunden lange Ausgangssperre gab, fiel diese vor drei Wochen aus, berichtet Dr. Vitaliy P. beim Telefonat mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov. Gefeiert worden sei der Tag, dessen Botschaft in Zeiten des Krieges umso wichtiger für die Ukrainerinnen und Ukrainer sei, aber dennoch nicht richtig.

„Öffentliche Feiern sind nach wie vor untersagt. Das wäre einfach zu gefährlich. Und zum Feiern ist auch niemandem zumute“, berichtet der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet. Angestoßen habe er mit seinen Arbeitskollegen nach Feierabend aber trotzdem. „Dabei haben wir all denen gedacht, die im Krieg gestorben sind. Und auch ein bisschen auf unsere Regierung geschimpft, denn leider gibt es an einigen Stellen nach wie vor Korruption.“

Tägliche Ausgangssperre in Charkiw zwischen 23 und 5 Uhr

Was in Charkiw nach wie vor Bestand hat, ist die tägliche Ausgangssperre, die um 23 Uhr beginnt und bis 5 Uhr am nächsten Morgen gilt. „Die Leute halten sich daran, denn ansonsten wird man von der Polizei mit einer Geldstrafe oder sogar mit Arrest belangt“, berichtet P. weiter. Aber es gebe auch Ausnahmen. Sei er beispielsweise als Chirurg im Einsatz, dann dürfe er für seine Arbeit auch außerhalb der Ausgangssperre sein Haus verlassen.

Zuletzt habe Unruhe in Charkiw geherrscht, berichtet der Gefäßchirurg. „Sechs Wochen hat es keine Beschüsse gegeben. Alle haben jeden Tag mit einem Angriff gerechnet. Man konnte die Anspannung regelrecht spüren.“ Am vergangenen Samstag seien dann vier Raketen auf Charkiw geschossen worden, in der Nacht weitere fünf und auch in der Nacht auf Dienstag folgten Angriffe aus der Luft. Der Arzt vermutet die Angriffe als Reaktion auf die zuletzt vermehrten Drohnenangriffe der Ukrainer auf russisches Gebiet.

Fortschritte der ukrainischen Soldaten an der Front bei Bachmut

Angespannt verfolgen P. und seine Landsleute zudem die aktuellen Geschehnisse und ukrainische Durchbrüche an der Front zu Russland bei Bachmut. „Ich bekomme sehr genau mit, was dort passiert, denn ich kenne Soldaten, die dort im Einsatz sind und erhalte Informationen aus erster Hand“, berichtet der Arzt seinem Gummersbacher Freund am Telefon.

Russland sei bei den dortigen Gebietseroberungen damals nicht strategisch vorgegangen. Als der Kreis Charkiw noch besetzt gewesen sei, sei es vor allem darum gegangen, Strecken zusammenzuziehen. „Auf dem Gebiet an der Front bei Bachmut gibt es allerdings gar nichts. Da ist nur Erde, keine Häuser – nichts, was sich lohnen würde, einzunehmen“, berichtet P. weiter. 

Dass die Ukrainer auf dem Gebiet nun so schnell vorankommen, liege daran, dass es dort kaum Minenfelder gebe. „Das ist für eine gute Chance für uns, schnell weiterzugehen“, hat der Arzt von den Soldaten an der Front erfahren. Kleine Bergdörfer drumherum seien bereits wiedererobert worden. 

Geschichte einer Arbeitskollegin berührt den Arzt in diesem Tagen sehr

Doch in dieser Woche liegt Dr. Vitaliy P. noch etwas anderes auf dem Herzen. Er möchte seinem Freund in Gummersbach, eine Geschichte erzählen, die ihn selbst sehr berührt. Es ist die Geschichte einer Krankenpflegerin, die in seiner Klinik arbeitet. „Sie wohnt 20 Kilometer von der Klinik entfernt, in einem Dorf, das wiederum etwa zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist. Bereits in der ersten Kriegswoche ist das Dorf besetzt worden. Meine Arbeitskollegin, ihre Mutter, ihr Mann und ihr Sohn standen unter Okkupation“, beginnt P. seine Erzählung. 

Fortan habe sie für die älteren Menschen in ihrem Dorf gekocht und sich um Kranke gekümmert, denn zur Arbeit in die Klinik durfte sie nicht mehr kommen. „Ihr Mann besaß einen kleinen Bus, den er für Geschäftsfahrten genutzt hat. Er hat ihn kaputt gemacht, damit die russischen Soldaten ihn nicht für ihre militärischen Zwecke benutzen. Das ist ihnen allerdings so verdächtig vorgekommen, dass sie ihn in Haft genommen haben – als Militärgefangenen, obwohl er selbst gar kein Soldat ist“, erzählt der Arzt weiter.

Sohn kämpft als Soldat an der Front

P. macht eine kurze Pause, atmet tief durch und erzählt weiter: „Der Mann meiner Arbeitskollegin musste Schutzmaßnahmen für die russischen Soldaten erledigen, beispielsweise Gräben graben. Sie haben ihn auf eine Liste gesetzt, um ihn gegen einen eigenen gefangenen Soldaten eintauschen zu können.“

Die Eltern des Mannes seien mit dem Sohn seiner Kollegin geflohen. Sie hätten die Ukraine über russisches Gebiet bis nach Finnland verlassen. Seine Arbeitskollegin habe jedoch nicht mitgehen können, denn ihre Mutter sei nach einem Schlaganfall pflegebedürftig. „Sie wollte und konnte sie nicht zurücklassen.“

Als die Besetzung des Dorfes aufgehoben gewesen sei, habe sie wieder angefangen, als Krankenpflegerin in seiner Klinik zu arbeiten, erzählt P. weiter. „Obwohl ihr Sohn zwischenzeitlich in Finnland eine neue Arbeit gefunden hatte, hat er sich nach einer gewissen Zeit entschieden, zurück in seine Heimat zu kommen, und als Soldat gegen Russland zu kämpfen“, berichtet P., der selbst zwei Söhne hat.

Erfahren, dass ihr Mann am Leben sei

Ihr Mann sei im Gefängnis – wo, wisse seine Kollegin nicht – und der Sohn an der Front im Krieg. P. legt eine Pause ein. „Die Situation ist auch so schon schwierig, aber wenn die russischen Soldaten erfahren würden, dass der Sohn sich für das Militär gemeldet hat, würde ihr Mann den Platz auf der Liste zum Tausch sofort verlieren. Niemand darf erfahren, dass der Sohn an der Front ist“, berichtet P., der die Angst bei einer Kollegin täglich spüren kann.

Von einer Organisation habe sie erfahren, dass ihr Mann am Leben sei. Wie viel Glauben man dieser Information schenken könne, wisse niemand. Aber es sei ein kleiner Hoffnungsschimmer, an dem sie sich nun festhalte. Kürzlich habe die Krankenpflegerin den kaputten Bus ihres Mannes repariert, um ihn den ukrainischen Soldaten zur Verfügung zu stellen –  aus einem ganz besonderen Grund.

„Sie hat zur Bedingung gemacht, dass der Bus von ihrem Sohn abgeholt wird. Eine Nacht war er zu Hause. Sie hat für ihn und seine Kameraden Maultaschen gekocht. All das hat sie nur gemacht, um ihren Sohn eine einzige Nacht wiederzusehen“, berichtet der Arzt und kämpft gegen die Tränen an. „Wegen solchen Leuten werden wir den Krieg gewinnen“, fügt er abschließend an. 

Igor Prudkov

Bei Geschichten wie der, die sein Studienfreund aus Charkiw ihm an diesem Morgen am Telefon erzählt, schüttelt auch Igor Prudkov beim Zuhören immer wieder mit dem Kopf, und ist ebenfalls sichtlich berührt. Es seien diese Berichte von vor Ort, die ihm jedes Mal klarmachen, dass der Krieg noch lange nicht vorbei sei und nach wie vor ernst genommen werden müsse. 

Wie er dazu stehe, dass immer mehr Menschen abstumpfen und den Krieg nicht mehr als wichtigsten Fokus beim Nachrichtenkonsum sehen? Natürlich gewöhne man sich an Dinge, auch an den Krieg. Und er verstehe auch, dass Menschen nicht nur negative Nachrichten aufnehmen möchten. „Aber die Menschen, die an der Front für die Ukraine kämpfen, werden sich nie daran gewöhnen, im Krieg zu sein“, betont Prudkov, der am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet.

Igor Prudkov: „Meine Sorge ist so groß wie am ersten Tag des Krieges“

„Wir müssen aus der Sicht der Soldaten denken und uns jeden Tag vor Augen führen, wie schlimm das ist, was diese jeden Tag erleben.“ Jede Erinnerung an das, was im Krieg passiere, die persönlichen Schicksale der Menschen, und aktuelle Berichte seien wichtig. „Davor dürfen wir auch nach anderthalb Jahren Krieg nicht die Augen verschließen.“

Keiner wisse, was noch kommt. „Meine Sorge ist so groß wie am ersten Tag des Krieges. Und ich werde nicht aufhören, alles dafür zu geben, dass die Menschen vor Ort Hilfe erhalten“, betont Prudkov. In den vergangenen Tagen hat er zwei weitere Hilfstransporte nach Charkiw geschickt hat, die unter anderem Krankenbetten, Medikamente, sowie Decken und Kissen geladen haben. „Jeder Bus, der dort ankommt, bringt etwas“, ist sich der Psychiater sicher.

Und Igor Prudkov hat eine weitere gute Nachricht. Mithilfe des Einsatzes von Ralf Kühr sowie des Klinikums Oberberg hat er einen Krankenwagen organisiert, der den Ärzten in Charkiw bald zugutekommen soll.

Dienstag, 22. August

Dr. Vitaliy P.

An der sonst eher schlicht gehaltenen weißen Wand im Büro von Dr. Vitaliy P. hängt ein einziges kleines Bild. Dieses sticht jedoch besonders hervor. Darauf zu sehen ist ein Einhorn, das vor einem bunten Regenbogen steht. Darüber steht geschrieben: „Wir sterben nicht.“ Mit einem dicken Punkt, um der Botschaft Nachdruck zu verleihen und klarzumachen, dass dort auch stehen könnte: „Wir schaffen das.“

Gemalt hat das Bild ein Mädchen, das als Patientin in der Klinik in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw behandelt worden ist, in der P. als Gefäßchirurg arbeitet. „Sie kam in die Klinik, als die Stadt unter Bombenanschlägen stand“, berichtet P., der sich um das Mädchen kümmerte, bevor es ein halbes Jahr zu seiner Oma nach Italien fuhr – weit weg vom Krieg. Mittlerweile ist das Mädchen zurück in Charkiw, und nach wie vor optimistisch, dass die Ukraine den Krieg bald beenden kann. Ihr älterer Bruder kämpft seit Kriegsbeginn an der Frontlinie.

Persönliche Schicksale, die berühren

Es sind diese Geschichten, die auch den Gefäßchirurgen aus Charkiw und seinen Gummersbacher Freund Igor Prudkov, mit dem er an diesem Morgen wieder telefoniert, berühren und emotional werden lassen. „Eigentlich sollte das Mädchen nun in die dritte Schulklasse gehen. Doch erst kam Corona, dann der Krieg. Diese Kinder verpassen die Einschulung und den Schulalltag – mit allem, was dazugehört. Sie haben keine Kindheit“, meint der Gefäßchirurg traurig. Pausen, Spielen mit anderen Kindern, Bildung – all das gehe in Zeiten des Krieges verloren und könne auch durch den Digitalunterricht nicht aufgefangen werden, so P. weiter.

Dennoch blieben viele Familien, auch mit ihren Kindern, in der Ukraine. Sie möchten ihr zu Hause nicht verlassen, nicht alles aufgeben, was ihnen so viel bedeutet. Von denen, die nicht zu Beginn des Krieges aus der Ukraine geflohen sind, seien nach wie vor viele in der Heimat. Einige seien sogar nach Charkiw zurückgekehrt, um ihr Zuhause wieder aufzubauen. „Einige Dörfer mussten aber auch zwangsevakuiert werden, da es dort einfach zu gefährlich ist, vor allem mit Kindern. Nicht alle haben ein Gefühl dafür“, berichtet P. am Telefon. 

Diese Menschen würden dann in speziellen Wohnheimen untergebracht, wo es sicherer sei, erzählt der Arzt weiter. Zwingen, dort zu bleiben, könne man jedoch niemanden. Wer trotz aller Gefahren in sein eigenes Haus zurückkehren möchte, den müsse man gehen lassen. Zum Aufbau der Häuser fehlt jedoch häufig das Geld.

Im Falle des Todes: Mündliches Versprechen unter den Soldaten

Für die Soldaten, egal ob von Berufswegen bei der Armee oder freiwillig, gibt es ein Soldatengehalt. „Die Höhe des Lohns hängt davon ab, wo die Soldaten eingesetzt sind, ob in der ersten, zweiten oder dritten Linie an der Front“, berichtet der Gefäßchirurg. Oftmals reiche der Lohn jedoch nicht aus, um die ganze Familie aus zerstörten Gebieten herauszuholen und woanders unterzubringen. 

„Es gibt ein mündliches Versprechen unter den Soldaten. Wenn jemand stirbt, dann sammeln die anderen aus der jeweiligen Abteilung Geld für die Hinterbliebenen des getöteten Soldaten, beispielsweise, in dem sie einen Monat auf ihren Lohn verzichten. Das kommt leider sehr oft vor“, berichtet P. mit Tränen in den Augen. Von dem Zusammenhalt der Soldaten unter schlimmsten Bedingungen ist der Mediziner sichtlich gerührt. Für einen verletzten Soldaten, der in seiner Klinik behandelt wird, organisiert P. die Fahrten zum Rehabilitationszentrum. Andernfalls wäre auch dies finanziell nicht möglich. 

Zwei Feiertage in Charkiw ohne große Feiern in der Öffentlichkeit

Für die Menschen in Charkiw stehen eigentlich zwei Feiertage vor der Türe. Am 23. August feiern sie den Stadttag, einen Tag später den Unabhängigkeitstag. „Feiertage sind allerdings seit Kriegsbeginn in der Ukraine verboten“, sagt P. am Telefon. Deshalb werde es auch keine öffentlichen Feiern geben. Eine Ausgangssperre, wie vor einem Jahr, gebe es dieses Mal aber nicht. Seit Tagen beobachte er weniger Drohnen und Raketen wie sonst. „Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Ich befürchte, dass Russland diese aufspart, um uns an den Feiertagen besonders zu treffen“, vermutet der Arzt. 

Auch, wenn keine großen Feiern möglich sind, mit seiner Familie plant P. zumindest ein Essen und auch auf der Arbeit werde es sicher Gratulationen geben. „Die Unabhängigkeit ist wichtig, vor allem in diesen Zeiten. Aber der Tag wird uns auch nachdenklich stimmen und wir werden uns fragen: Wie viel haben wir erreicht in 32 Jahren Unabhängigkeit?“

Igor Prudkov

15 sogenannte Vac-Systeme, die bei der Versorgung verletzter Patienten zum Einsatz kommen, hat Igor Prudkov in Zusammenarbeit mit dem Klinikum Oberberg kürzlich zu seinem Studienfreund in die Klinik nach Charkiw geschickt. Dieser zeigte sich beim Videotelefonat einmal mehr dankbar für die Hilfe aus dem Oberbergischen, zumal er nur mit fünf statt 15 gerechnet hatte.

Ob es einen Tag gebe, an dem er keine Hilfe für seine ukrainische Heimat organisiere? „Nein, den gibt es nicht. Selbst im Urlaub habe ich solche Dinge geregelt. Ich habe mein Handy immer an und schalte es auch nachts nicht aus. Ich bin immer erreichbar“, berichtet Prudkov der am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet.

Über die digitalen Medien vernetzt

In Zeiten der digitalen Medien ist es leicht geworden, sich mit Menschen zu vernetzen. Das komme ihm auch bei der Organisation von Hilfen zugute, auch wenn diese oftmals viel Zeit und Nerven kostet. Und auch, um mit den ukrainischen Freunden in Kontakt zu bleiben und sich regelmäßig nach deren Wohl zu erkundigen, ist das Handy für Igor Prudkov unabdinglich.

Per Handy ist Prudkov auch mit den Fahrern vernetzt, die die Spenden per Transporter in die Ukraine bringen. Viele kenne er mittlerweile schon gut. „Ich arbeite allerdings nur mit Leuten zusammen, die mir empfohlen wurden von Freunden oder Bekannten und überprüfe die Fahrer auch“, betont der Psychiater.

Mittwoch, 2. August

Dr. Vitaliy P.

Aus einem Hotelzimmer in der ukrainischen Stadt Poltawa meldet sich Dr. Vitaliy P. am Mittwochmorgen am Handy und winkt am Bildschirm seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov zu, der an der anderen Telefonleitung im verregneten Oberberg sitzt. P. macht mit seiner Frau in Poltawa einige Tage Urlaub und hat bereits ein Museum besucht, in dem ukrainische Keramiksammlungen ausgestellt sind. „Gekauft haben wir aber nichts“, sagt der Gefäßchirurg aus Charkiw schmunzelnd, der es sich auch bei leckerem Essen im Urlaub gut gehen lässt. Und er genießt die bis zu acht Stunden Schlaf, die er im normalen Klinikalltag nie zählen kann.

Poltawa habe er sich als Ziel ausgesucht, da es dort deutlich sicherer sei als im 150 Kilometer entfernten Charkiw, wo P. und seine Familie leben und zuletzt unter ständigem Beschuss der russischen Soldaten gearbeitet haben. „Hier sieht man kaum Kriegszeichen und auch wenige Soldaten“, berichtet der Mediziner.

Vermehrt Drohen am Himmel von Charkiw beobachtet

In Charkiw dagegen habe er in den vergangenen Tagen vermehrt Drohnen am Himmel beobachtet. „Damit spionieren sie uns aus und testen auch, ob und wo es Abwehrsysteme gibt. Im Nachgang schicken sie dann die großen S300-Raketen“, erzählt P. traurig und wütend. Dass nun so viele Drohnen am Himmel fliegen, hänge wohl damit zusammen, dass Russland angefangen habe, Drohnen selbst zu produzieren, ist sich P. sicher. 

Trotz der vielen Anschläge zuletzt gibt sich der Gefäßchirurg ein wenig hoffnungsvoll. „An der Frontlinie, wo wir bei Kupjansk vor drei Wochen wenige Kilometer unseres Gebiets verloren haben, kommen wir nun langsam wieder voran und haben diese Kilometer zurückerobert. Die Lage hat sich wieder etwas stabilisiert“, so der Arzt erleichtert.

Keine Ferienstimmung bei den Kindern in der Ukraine

Ferienstimmung komme in der Ukraine bei keinem Kind auf. Von seinen Arbeitskollegen weiß P., dass einige Familien in die Karpaten gefahren sind. „Im Gebirge ist es ruhiger und an den Seen kann man wenigstens für einen kurzen Moment eine schöne Zeit verbringen.“ Wenn die Eltern überhaupt Urlaub bekommen, denn viele müssten derzeit ununterbrochen arbeiten. Andere wiederum haben in Folge des Krieges ihre Arbeit verloren und kein Geld für Urlaub. Viele Kinder spielen in den Ferien auf dem Hof der Familie oder schalten sich notgedrungen im Internet zusammen.

„Mein jüngster Sohn studiert und hat derzeit auch Semesterferien. Er ist in diesen Tagen mit Freunden in Kiew verabredet, um dort Zeit zusammen zu verbringen“, berichtet P. am Telefon. Größere Sorgen als sonst mache er sich wegen Kiew aber nicht. Die Stadt werde zwar oft beschossen, habe aber auch die besten Abwehrsysteme der gesamten Ukraine.

Sorge vor dem zweiten Kriegswinter in der Ukraine

Was die Wetterextreme angeht, die derzeit in einigen europäischen Ländern zu beobachten sind, hat P. zunächst Entwarnung geben. Derzeit hätten die Ukrainerinnen und Ukrainer weder mit Hitze noch mit nicht enden wollenden Regenschauern zu kämpfen. Doch der Gefäßchirurg blickt schon jetzt sorgenvoll in die Zukunft: „Wenn es im Herbst mehr regnet und auch wieder kälter wird, dann wird die Lage wieder ernster und es wird vor allem für die Familien schwer, deren Häuser so zerstört sind, dass sie kein richtiges Dach über dem Kopf haben.“

Und auch vor dem Winter hat P. schon jetzt etwas Angst, denn aus dem vergangenen Winter weiß er, wie herausfordernd es ist, ohne dauerhaft verfügbaren Strom geschweige denn eine konstant laufende Heizung leben zu müssen. „Die russischen Soldaten haben im vergangenen Winter die verletzlichen Stellen unserer Infrastruktur ausgekundschaftet und die passenden Ziele festgestellt. Das wird diesen Winter schlimmer werden.“

Igor Prudkov

Für einen gemeinsamen Studienfreund, der in einem Bataillon der Armee als Reanimationsarzt an der Frontlinie bei Kupjansk arbeitet, hat Igor Prudkov – in Zusammenarbeit mit dem Klinikum Oberberg – kürzlich ein Erste-Hilfe-Paket aus Gummersbach in die Ukraine geschickt. Organisiert hat der Gummersbacher Psychiater den Hilfstransport aus seinem Urlaub in Kroatien. „Natürlich denke ich auch im Urlaub an meine Heimat und bin mit meinen Freunden auch dort jederzeit in Kontakt“, berichtet Prudkov. Geschickt hat er unter anderem Notfallmedikamente sowie Narkosemittel. 

Erholt habe er sich aber trotzdem gut. Gemeinsam mit seiner Familie und seinen beiden Enkelinnen habe die Auszeit im Urlaub gutgetan, so der frisch gebackene Facharzt, der den Urlaub davor hauptsächlich mit lernen verbracht hatte. Die medizinischen Bücher tauschte er dieses Mal gegen Taucherbrille und Schnorchel ein.

Mit Sorge beobachtet Prudkov neben der mangelnden medizinischen Versorgung an vielen Stellen in seiner Heimat auch die Getreideproduktion. Immer wieder werden Häfen bombardiert, von denen aus das Getreide aus der Ukraine ausgeliefert werden soll. „Früher gab es in Charkiw überall Felder. Auf denen sind Sonnenblumen und Weizen gewachsen. Nun ist dort gar nichts mehr“, so Prudkov und ergänzt: „Putin zerstört damit unsere Zukunft und gleichzeitig auch die Wirtschaft in Europa.“

Dienstag, 27. Juni

Dr. Vitaliy P.

Er habe es erst gar nicht richtig glauben können, was er vor wenigen Tagen in den Nachrichten sah, erzählt Dr. Vitaliy P., Gefäßchirurg aus der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. Doch als mehrere andere Medien und Quellen die Ereignisse in Russland bestätigten, war auch der Arzt kurz sprachlos. Kurz darauf sei die Hoffnung in ihm aufgekeimt. Die Hoffnung, dass sich der Fokus der russischen Armee für einen Moment von der Ukraine abwende, weil sich im eigenen Land mit der Söldnertruppe Wagner um Anführer Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin plötzlich für Russland kämpfende Soldaten Putin und seinen Anhängern gegenüberstellten.

P. sitzt an diesem Dienstagmorgen nicht in seinem Büro in der Klinik in Charkiw, sondern in einem Hotelzimmer in den ukrainischen Karpaten. Dort findet nach vier Jahren Unterbrechung wegen Corona und des Krieges in der Ukraine erstmals wieder ein Symposium für Gefäßchirurgen aus aller Welt in Präsenz statt. Alle 14 angemeldeten internationalen Gästen seien jedoch per Video zugeschaltet. Zu groß sei die Angst, in ein Kriegsgebiet zu reisen, erzählt P. am Telefon.

Auch der Krieg ist Thema auf dem medizinischen Symposium

Neben den fachlichen Beiträgen werde auf dem Symposium viel über den Krieg und den jüngsten Aufstand in Russland gesprochen. „Das ist doch klar. Wir leben im Krieg, das ist unser Leben“, betont P., der sich sehr darüber freut, viele seiner Ärztekollegen endlich wieder persönlich treffen zu können. Und eben auch mit diesen zu diskutieren. 

„Ich hatte mit dem Aufstand von Prigoschin die Hoffnung, dass Russland die Soldaten von der Frontlinie zur Ukraine abziehen muss, um im eigenen Land zu kämpfen“, beschreibt P. beim Videotelefonat mit seinem Freund Igor Prudkov, der in Gummersbach sitzt. Umso größer sei die Enttäuschung über das schnelle Ende des Aufstandes gewesen. „Die Ereignisse haben aber ganz klar gezeigt, dass es in Russland zwei Lager gibt. Und viele standen nicht auf der Seite Putins, sondern auf der von Prigoschin“, betont P. mit ernster, aber auch nüchterner Stimme.

Verdächtige Anspannung in Russland

Wie unlogisch das ganze Kriegskonzept von Wladimir Putin sei, habe seiner Meinung nach auch gezeigt, dass dieser tschetschenische Soldaten geschickt habe, um gegen die Wagner-Truppe zu kämpfen und somit auch gegen russische Soldaten. Und, dass Prigoschin letztendlich nach Weißrussland geflohen sei. „Ich hoffe, dass dieses unlogische Vorgehen den Menschen in Russland endlich die Augen öffnet, und sie Putins Handeln endlich hinterfragen“, sagt der Gefäßchirurg. 

Wie auch viele Menschen in der Ukraine und weltweit ist P. davon überzeugt, dass der Aufstand nicht ohne Konsequenzen bleiben wird. „Es wird explodieren, da bin ich mir sicher“, sagt er. Er rechne mit vielen Verhaftungen der Soldaten, die sich auf die Seite Prigoschins gestellt hätten. Vor allem die aktuelle Ruhe und Anspannung stuft P. als verdächtig ein und rechnet noch in dieser Woche mit einer Reaktion Putins auf die jüngsten Ereignisse.

Ob er Angst vor einer Eskalation habe? „Welche Eskalation?“, fragt P. ernst. „Es ist doch jetzt schon alles schlimm. Außerdem sieht man, dass Putin Angst hat, er hat sich stundenlang zurückgezogen, als es ernst wurde.“ Doch er weiß auch: Das Chemiewerk auf der Krim ist vermint, ebenso das Atomkraftwerk Saporischschja. Das Ausmaß einer Explosion dieser beiden Orte möchte auch P. nicht in Worte fassen. 

Keine große Vorfreunde auf die Sommerferien in der Ukraine

Derweil sind auch in der Ukraine die Sommerferien an den Schulen gestartet. Wirklich freuen können sich die Schülerinnen und Schüler aber nicht, weiß P., denn seit Kriegsbeginn findet der Unterricht nur noch online statt und die Kinder seien ohnehin zu Hause. „Sie freuen sich zumindest darauf, nicht den ganzen Tag vor dem Computer sitzen zu müssen. Aber ich glaube, sie würden lieber in die Schule gehen, ihre Freunde wiedersehen und auf den Spielplatz gehen statt zu Hause zu sitzen“, sagt er.

Für September plane man in Charkiw – je nach aktueller Kriegslage – einen Zwei-Schichtbetrieb in Präsenz in den Schulen. Etwas anderes sei auch gar nicht möglich, denn zahlreiche Schulen in Charkiw sind zerstört worden und nur wenige unversehrt geblieben. Ob diese Pläne gelingen, um den Kindern wieder soziales Miteinander zu ermöglichen, bleibt abzuwarten.

Igor Prudkov

Mit Hoffnung und Sorge hat auch Igor Prudkov in diesen Tagen in die ukrainische Heimat geschaut und nach Russland auf die dortigen Ereignisse. Still sei es trotz des Aufstandes in Russland in seiner Heimat nicht gewesen. Auch Charkiw sei in den vergangenen Tagen erneut von mehreren Raketen des Typs S-300 getroffen worden. Dabei seien erneut Privathäuser zerstört worden, berichtet der Psychiater, der am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet. 

Was den Aufstand von Prigoschin angeht, hat Prudkov eine klare Meinung. Auch ihm habe der Aufstand Hoffnung für seine Heimat gegeben. Nach dem Scheitern ist er sich aber sicher: „Ich gebe keinen Cent darauf, dass Prigoschin überlebt. Er hat sein Leben verspielt.“

Freude über bestandene Facharztprüfung

Igor Prudkov wirkt an diesem Dienstagmorgen trotz der beunruhigenden Nachrichten entspannt – aus gutem Grund. Nach vielen Wochen des Lernens hat der Psychiater kürzlich seine Facharztprüfung bestanden und trägt an diesem Morgen ein neues Namensschild mit der neuen Bezeichnung an seinem weißen Arztkittel.  

Bei dem ganzen Lernen der vergangenen Wochen sei sein Engagement in Form von Hilfstransporten für Charkiw zuletzt zwangsläufig weniger geworden, gibt Prudkov zu. Nun, mit dem Facharzt in der Tasche, wolle er sich aber wieder der Beschaffung von Hilfsmitteln wie Medikamenten oder weiterer medizinsicher Ausstattung für seine Kollegen in den Krankenhäusern in der Ukraine widmen.

Donnerstag, 25. Mai

Dr. Vitaliy P.

Er habe vergessen, wann er sich zuletzt eine Tageszeitung in Papierform gekauft habe, berichtet Dr. Vitaliy P. aus Charkiw. Dort arbeitet er an einer Klinik als Gefäßchirurg und telefoniert regelmäßig mit seinem Freund Igor Prudkov in Gummersbach. Informationen über die Kriegslage in ihrer ukrainischen Heimat erhalten die beiden Mediziner aus den digitalen Medien, vor allem über Nachrichten-Messenger auf dem Handy.

„Mein Vater kauft sich aber noch die Zeitung. Er ist damit groß geworden“, sagt P. am Telefon. Obwohl die tägliche Arbeit für Journalisten in der Ukraine alles andere als leicht ist, werden nach wie vor Zeitungen gedruckt, damit sich auch Menschen ohne Internetzugang informieren können. Auch das Radio läuft. Manchmal sieht P. internationale Korrespondenten. „Viele trauen sich aber nicht hierher und die meisten Journalisten sind ukrainisch. Diese erhalten an der Frontlinie auch viel einfacher vertrauliche Informationen“, erzählt er.

Die Bombardierungen in Charkiw und der angrenzenden Region haben zuletzt wieder zugenommen, berichtet P.: „Zum Glück hat es zuletzt keine Toten gegeben, aber viele Verletzte.“ Getroffen worden seien unter anderem Schulen, eine Krankenwagenstation sowie ein Kindergarten. Stromausfälle habe es in Charkiw aber keine gegeben.  

Pharmaindustrie in Charkiw produziert nach wie vor Antibiotika

In der Klinik, in der P. arbeitet, werden aktuell wieder mehr Patienten behandelt, als noch in den Wochen zuvor. Unter den Patienten seien auch ukrainische Soldaten. „Hier in der Klinik werden aber eher leicht oder mittelgradig verletzte Patienten behandelt“, berichtet P. am Telefon und zeigt sich einmal mehr dankbar für die humanitäre Hilfe, die auch seiner Klink zugutekommt.

Als er von dem Mangel an Antibiotika im Oberbergischen und in NRW – vor allem für Kinder – hört, von dem sein Freund Igor Prudkov ihm erzählt, überlegt P. kurz. „Dass bei uns Kinderantibiotika fehlen, davon habe ich zumindest noch nichts gehört“, berichtet P und ergänzt: „Wir haben Antibiotika, da wir allein in Charkiw drei Pharmakologische Werke haben, in denen die Produktion nach wie vor läuft.“ Ende 2022 habe es zwar Bombardierungen auf einer Sammelschiene einer Pharmastation gegeben, bei der viele Medikamente vernichtet worden seien. „Aber unsere Pharmaindustrie hat das überlebt“, betont der Gefäßchirurg.

Der Stress schlägt den Soldaten auch auf den Magen

Für den Sohn eines guten Freundes, der als Soldat zuletzt in Bachmut stationiert war, hat P. in diesen Tagen Medikamente zusammengepackt. „Er hat starke Schmerzen im Magen, zum einen durch das unregelmäßige Essen und zum anderen durch den großen Stress, dem er ausgesetzt ist“, berichtet der Arzt besorgt. 

An diesem Tag ist der Gefäßchirurg außerdem nicht alleine in seinem Büro. Er hat Besuch von seinem Studienfreund Sergeji, der als Arzt in einem Sanitätsbataillon an der militärischen Frontlinie arbeitet. Heute bringt er Patienten in die Klinik nach Charkiw. 

Sergeji

Vor drei Monaten wurde Sergeji als Arzt für Anästhesie und Reanimatologie in einem Sanitätsbataillon an der militärischen Frontlinie mobilisiert. Die Verletzten, die er dort erstversorgt, bringt er später in andere Krankenhäuser. Dabei muss er mit dem Krankenwagen, mit dem er die Verletzten transportiert – und der kein Reanimationsmobil, sondern vielmehr ein einfacher Transporter ist – oftmals gefährliche Fahrten unter Beschuss auf sich nehmen.

„Die russischen Soldaten möchten durch Beschüsse auf Krankenwagen zum einen die Ärzte vernichten, die Hilfe leisten können, und zum anderen die darin befindlichen Soldaten“, sagt er ernst. Nicht umsonst werden die Krankenwagen umlackiert, damit sie von den russischen Soldaten nicht sofort als solche erkannt werden. „Erst gestern ist wieder ein Auto abgeschossen worden“, berichtet Sergeji. 

Zehn Betten befinden sich in dem Sanitätsbataillon, in dem Sergeji als Arzt stationiert ist, um die Patienten zu stabilisierten. Derzeit sei die Lage an der Frontlinie etwas entspannter als noch vor wenigen Wochen. „Durch den Angriff der russischen Soldaten in Belgorod haben sich alle Soldaten nach dorthin verlagert“, erzählt er, eher er sich wieder von P. verabschiedet. 

Igor Prudkov

Nach zwei Wochen Urlaub auf Teneriffa wirkt Igor Prudkov beim Videotelefonat mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. entspannt und ausgeruht. „Es war der erste größere Urlaub seit einem Jahr. Ich habe probiert, mich zu erholen und von den vielen Sorgen zu distanzieren. Leicht war das allerdings nicht“, berichtet der Psychiater, der am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet. Denn auch im Urlaub ließen ihn die Nachrichten aus seiner ukrainischen Heimat nicht komplett los. Beim Schwimmen, Schnorcheln und Tauchen lenkte sich Prudkov zumindest zeitweise von den trüben Gedanken ab. 

Beim Bericht von Sergeji hört auch Prudkov andächtig zu. „Vor ein paar Monaten wollten auch verletzte Soldaten möglichst schnell wieder zurück in den Krieg, um ihre Heimat zu verteidigten. Doch nun merkt man bei vielen die Müdigkeit“, berichtet der Psychiater, der auch beobachtet, wie sich viele immer mehr zurückziehen und eher wortkarg werden. „Viele Soldaten haben viele Tote und Verletzte gesehen. Das brennt sich ein“, sagt er und betont, dass die Berichte der Soldaten, die er zu hören bekommt, auch ihn selbst belasten.

Nach dem Bericht von Sergeji über die fehlende Ausstattung in den Krankenwagen an der Frontlinie und den Aufruf für weitere Unterstützung, steht für Prudkov einmal mehr fest, dass er helfen möchte. „Ich werde versuchen, einen weiteren Krankenwagen aufzutreiben“, sagt er motiviert. Ob dies jedoch gelingen wird, das weiß er nicht. Was jedoch gelingen soll, ist eine weitere Medikamentenlieferung in eine Klinik in Charkiw. Die Gespräche mit dem Klinikum Oberberg dazu laufen bereits, verrät der Psychiater. 

Mittwoch, 26. April

Dr. Vitaliy P.

Erholt blickt Dr. Vitaliy P. an diesem Morgen in die Kamera seines Handys, als er mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov telefoniert. Um den Geburtstag seiner Frau zu feiern, war der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in der ukrainischen Stadt Charkiw arbeitet, wo er auch lebt, kürzlich ein paar Tage nach Odessa ans Meer gefahren.

„In Charkiw sind die Auswirkungen des Krieges deutlich zu sehen, da vieles zerstört ist. In Odessa ist das anders. Dort ist der Krieg nicht ganz so sichtbar wie bei uns zu Hause“, sagt der Arzt. Am Strand in Odessa könne man sich zwar etwas entspannen, berichtet P. weiter, aber: „Schwimmen kann man dort nicht, denn überall im Wasser schwimmen Minen. Das wäre zu gefährlich.“

Nach zwei ruhigeren Wochen wieder zahlreiche Beschüsse

In Charkiw und der angrenzenden Region ist die Lage derzeit wieder angespannter. Nach fast drei Wochen Ruhe gab es am Samstag und Dienstag erneut zahlreiche Beschüsse. „Wenn es lange ruhig war, merkt man richtig die Unruhe in der Stadt, da alle damit rechnen, dass die nächsten Raketen bald kommen“, erzählt P. ernst. Im nahe gelegenen Kupjansk sei zudem ein Heimatmuseum getroffen worden. Ein Mitarbeiter kam dabei ums Leben. 

Ob aus Angst vor Zerstörung wichtiger historischer Gegenstände Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden oder ob diese gar in Sicherheit gebracht werden, weiß P. nicht genau. „Ich habe in Odessa nur gesehen, dass ein Museum von außen gesichert wurde. Aber wo sollen die Dinge auch hin? Die sichersten Plätze unter der Erde sind für die Menschen. Deren Leben ist wichtiger als jeder historische Gegenstand“, betont er, ehe sein Kollege ihn zu einer Operation ruft. Während er sich für die Operation umzieht, schaltet P. den Videomodus ab, bliebt aber noch einen Moment am Telefon.

Kurzreise nach Kiew für einen Vortrag

Nicht nur in der Klinik in Charkiw ist der Gefäßchirurg gefragt. Bald wird der Arzt auch nach Kiew reisen, um dort einen Vortrag zu halten. „Auch darauf freue ich mich schon. Das wird auch wie Urlaub für mich sei“, berichtet er. Denn mal etwas anderes zu sehen als die eigene zerstörte Stadt sei ihm wichtig und tue gut. „Seit drei Jahren war ich nicht mehr in Urlaub“, erzählt. P. am Telefon.

Wohin er als Erstes reisen würde, wenn der Krieg vorbei sei, möchte sein Freund Igor Prudkov wissen. „Mit einem Kumpel zusammen in die Stadt Uzhhorod, um Danke zu sagen. Denn die Stadt hat im Krieg bisher großen Einsatz gezeigt. Und von dort aus mit einem Kreuzfahrtschiff weiter über das Meer nach Polen, Deutschland bis nach Amerika, ebenfalls um Danke zu sagen. Ich befürchte, ich werde für die Reise mindestens drei Monate Urlaub benötigen“, meint P. nachdenklich.

Blitzer und Kameras sind bei der Polizeiarbeit derzeit verboten 

Bevor er sich am Telefon verabschiedet, um im Operationssaal tätig zu werden, berichtet P. noch kurz aus dem Polizeialltag in Charkiw. Denn Igor Prudkov hat ihm von einem Blitzer berichtet, der an diesem Morgen auf der Autobahn 4 bei Engelskirchen Verkehrssünder festgehalten hat. Gibt es so etwas derzeit auch in Charkiw?

„Nein! Das ist schon seit längerer Zeit verboten. Denn dadurch könnten die russischen Soldaten die Möglichkeit erhalten, unsere Panzer und Militärfahrzeuge auszuspionieren“, erklärt er den Hintergrund. Deshalb hätten auch die Polizisten in der Ukraine ihre Bodycams, die sie sonst an ihrer Uniform tragen, abgelegt. Und auch in den Autos installierte Kameras, wie in der Ukraine üblich, sind untersagt. 

„Die Kriegssituation hat sich wieder drastisch verändert. Ich hoffe sehr, dass die Nachrichten bald wieder besser werden“, meint P., der zurzeit die Lieferung des ersten Patriot-Luftabwehrsystems in die Ukraine verfolgt. „Wie oft haben wir in der Vergangenheit schon darüber am Telefon geredet und es herbeigesehnt“, meint P., der sehr bedauert, dass es so lange gedauert habe, bis das System tatsächlich geliefert wurde. Dieses lange Warten trübe nun etwas die Freude über die Lieferung, meint er, ehe er sich von seinem Gummersbacher Freud am Telefon verabschiedet.

Igor Prudkov

Es tue nicht nur ihm gut, dass die Tage mit Beginn des Frühlings wieder heller werden, sondern auch den Menschen in seiner ukrainischen Heimat. „Denn das heißt nicht nur, dass sie den kalten Winter überlebt haben, sondern auch, dass sie bei Stromausfällen nicht mehr ganz so lange im Dunkeln sitzen“, sagt Igor Prudkov. Und dass die kürzere Dunkelheit auch gut fürs Gemüt ist, weiß der Psychiater, der am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, allemal. 

Von seinen Freunden aus Charkiw und im Militärkrankenhaus direkt an der Grenze zu Russland, hat ihn mittlerweile die Nachricht erreicht, dass die zuletzt gesendeten Medikamente, die durch die Gummersbacher Rotarier gespendet worden waren, vor Ort in der Ukraine angekommen sind. „Sie haben sogar schon einen Dankesbrief nach Gummersbach geschickt“, verrät Prudkov, der weiß, wie wichtig die aus Oberberg gesendete Hilfe für seine ukrainischen Kollegen ist, die im Kriegsgebiet arbeiten und täglich wichtige medizinische Hilfe leisten. 

Viele geflüchtete Ukrainer sind auf der Suche nach einer Arbeitsstelle

Mit anderen Herausforderungen sind derweil seine Landsleute im Oberbergischen konfrontiert. Nachdem sie vor dem Krieg geflüchtet sind, mussten sich viele zunächst einleben, die Sprache lernen und sind nun auf der Suche nach einer Arbeit. „Einige – vor allem diejenigen, die gute Englischkenntnisse haben – arbeiten schon. Aber viele suchen auch noch“, berichtet Prudkov und ergänzt: „Ich bin der Meinung, dass es Sinn ergibt, erst Zeit zu investieren, um Deutsch zu lernen, und sich dann für Jobs zu bewerben.“ 

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen haben, seien sehr motiviert zu arbeiten. „Sie bleiben ohne Deutschkenntnisse in der Jobsuche jedoch häufig unter ihren eigentlichen Fähigkeiten, da sie nicht richtig verständigen können“, so Prudkov.

Er selbst möchte bald ein paar Tage abschalten von den schlechten Nachtrichten aus seiner Heimat, seiner fordernden Arbeit am Krankenhaus und dem ebenso fordernden Engagement für seine Heimat. Die Hilfsangebote leistet Prudkov neben seiner eigentlichen Arbeit dank großer Netzwerken aus Ehrenamtlichen und der humanitären Hilfe. Doch bald geht es für zwei Wochen in den Urlaub. „Und vorher gehe ich vielleicht noch mit einem guten Freund in Belgien Angeln – wenn es nicht regnet“, meint er schmunzelnd.

Dienstag, 4. April

Dr. Vitaliy P.

Dr. Vitaliy P. wirkt an diesem Dienstagmorgen gut gelaunt, denn ein paar freie Tage für den ukrainischen Arzt, der als Gefäßchirurg an einer Klinik in Charkiw arbeitet, stehen unmittelbar bevor. „Meine Frau hat am Freitag Geburtstag und ich habe mir Urlaub genommen. Wir fahren über ein verlängertes Wochenende nach Odessa ans Meer“, berichtet der Arzt. Sein Gummersbacher Freund Igor Prudkov, mit dem er an diesem Morgen per Videotelefonat spricht, muss dabei schmunzeln, denn in Odessa – mitten im Kriegsgebiet – würden derzeit nicht viele Urlaub machen.

Für P. ist der Krieg in seiner Heimat dagegen längst Alltag. „Ob ich in Charkiw bin oder in Odessa, Anschläge können jederzeit passieren“, sagt er am Telefon und ergänzt sarkastisch: „Ich habe keinen Kontakt zu Putin und kann ihn nicht fragen, wohin der die nächste Rakete schießen lässt." 

Sechs Raketen schlugen an einem Tag beinahe zeitgleich in Charkiw ein

Nach einigen ruhigeren Tagen haben die Anschläge in Charkiw in den vergangenen drei Wochen wieder zugenommen. Sechs Raketen schlugen vor einer Woche an einem Tag beinahe zeitgleich in Charkiw ein, drei weitere im Umland. „Zum Glück ist niemand dabei gestorben, aber es gab viele Verletzte“, erzählt der Gefäßchirurg weiter. Getroffen worden seien dabei ausschließlich Mehrfamilien- und Einfamilienhäuser. Warum ausgerechnet diese Objekte Ziel der jeweils rund eine Tonne schweren S300-Raketen waren, kann sich P. nicht erklären.   

„Seit Kriegsbeginn wurden viele Privathäuser bombardiert und damit gezielt die Zivilbevölkerung angegriffen“, wiederholt P. immer wieder. Auch zahlreiche öffentliche Gebäude seien zerstört. Fast die Hälfte der Schulen in Charkiw seien laut dem Arzt zerstört, ebenso eine Vielzahl an Sporthallen, Universitäten und Hochschulen. „Sie wollen damit scheinbar verhindern, dass Sportler trainieren können und an Sportveranstaltungen teilnehmen können, um die Ukraine zu präsentieren“, mutmaßt der Mediziner. Er bedauert außerdem, dass es vor allem für Vereine und junge Menschen keine so wichtigen sportlichen Angebote mehr gebe. 

Schon lange keine Stromausfälle in Charkiw mehr

Erfreulich sei derweil, dass es trotz der vielen Angriffe lange keine Strom- und Heizungsausfälle mehr gegeben habe. Zehn Grad zeigt das Thermometer an diesem Morgen im Büro des Arztes an. „Seit einiger Zeit leuchten auch die Straßenlaternen abends wieder regelmäßig. Das sorgt für ein gutes Gefühl, denn es signalisiert, dass eine Art Normalität in den Alltag zurückkehrt.“ Was das Gefühl von Normalität in all den Kriegsmonaten aufrechterhalten habe, seien zudem die immer fahrenden U-Bahnen, Busse und sogar Taxen gewesen. 

Die Auswirkungen des Krieges merke man dagegen an anderer Stelle im öffentlichen Leben. Nach wie vor gelte in Charkiw zwischen 23 und 5 Uhr eine Ausgangssperre – auch am bevorstehenden Osterfest. Dieses wird auch in der Ukraine in den katholischen Kirchen schon in den kommenden Tagen gefeiert. „Die meisten feiern bei uns aber das christlich-orthodoxe Osterfest eine Woche später“, berichtet P. am Telefon und freut sich auch auf eine kleine Feier mit seiner Familie. 

Igor Prudkov

Wenn Igor Prudkov an Ostern an seine ukrainische Heimat denkt, dann verbindet er diese Erinnerung auch mit einigen traditionellen Köstlichkeiten, darunter „Paska“, ein süßes Osterbrot. In der vergangenen Woche hat er in Zusammenarbeit mit der Caritas Oberberg einen Lkw mit Hilfsmitteln nach Charkiw geschickt, darunter Medikamente und Kleidung. 

Von seinem Studienfreund Dr. Vitaliy P. erfährt Igor Prudkov am Telefon, dass neben den notwendigen Medikamenten, die in den Krankenhäusern benötigt werden, Kleidung genau die richtigen Hilfsgüter sind. Auch Alltagsgegenstände wie Wasserkocher, Pfannen, Töpfe und ähnliches gebraucht werden. Generatoren habe man dagegen genügend, berichtet Prudkovs Freund aus Charkiw dankbar. 

Plötzlich muss es an der Gummersbacher Klinik schnell gehen

Kurz nach dem Telefonat mit P. muss es dann plötzlich ganz schnell gehen. Prudkov, der am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet, erfährt, dass schon am selben Tag eine Fahrt in Richtung Charkiw möglich ist. Es ist die Möglichkeit, eine ganz besondere Spende, die das Klinikum Oberberg erhalten hat, kurzfristig auf den Weg zu bringen.

Stolze 10.000 Euro hat der Förderverein der Rotary-Clubs Gummersbach und Gummersbach-Oberberg für die Hilfe des Gummersbacher Krankenhauses für die Kollegen in der Ukraine gespendet. Prudkov weiß, wie wichtig diese Spende ist. Seinem Studienfreund, der Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie in Charkiw, nahe der ukrainisch-russischen Grenze, ist, ist das Nahtmaterial ausgegangen. Auch Schmerz- und Narkosemittel seien Mangelware.

Wie das Klinikum Oberberg mitteilt, konnte der Chefapotheker des Klinikums, Lars Lemmer, das teure Nahtmaterial dank der Spende der Rotarier beschaffen. Dieses sowie Medikamente und weitere medizinische Sachgüter im Wert von 9000 Euro sollen schon am Mittwoch in Charkiw ankommen. Weitere Medikamente im Wert von 1000 Euro hat die Gummersbacher Krankenhaus-Apotheke für das städtische Krankenhaus von Krywyi Rih beschafft, teilen das Klinikum Oberberg und Prudkov weiter mit. „Dieses Krankenhaus liegt nahe der Front und behandelt täglich Verletzte“, berichtet der Gummersbacher Psychiater.

Gert Riemenschneider, Vorsitzender des Fördervereins der beiden Rotary-Clubs, und Stellvertreter Frank Müller freuen sich, dass die Spende komplett für die humanitäre Hilfe in der Ukraine genutzt wird. Deshalb machen sie sich am Dienstag auch spontan auf den Weg ins Krankenhaus nach Gummersbach, um die Hilfsgüter gemeinsam mit Prudkov auf den Weg zu bringen. „Unser Ziel ist es, Not zu lindern“, sagt Riemenschneider. Es ist nicht die erste Hilfsaktion der Rotarier für die Ukraine. Der Gummersbacher Förderverein hatte bereits im vergangenen Jahr den Transport medizinischer Hilfsgüter über das Krankenhaus Gummersbach unterstützt. 

Die Dankbarkeit in den ukrainischen Krankenhäusern für die Hilfe aus Deutschland sei sehr groß, sagt Igor Prudkov. „Die Häufigkeit der Angriffe ist in den vergangenen Wochen zwar etwas weniger geworden, aber jetzt wird Charkiw mit schweren Raketen von einer Tonne Sprengstoff bombardiert, was enorme Zerstörung und viele Verletzte zur Folge hat.“

Mittwoch, 8. März

Dr. Vitaliy P.

Während Igor Prudkov, Psychiater am Kreiskrankenhaus Gummersbach, am Mittwochmorgen zentimeterhohen Schnee vor dem Fenster des Klinikums fallen sieht, zeigt das Thermometer bei seinem Freund Dr. Vitaliy P. im ukrainischen Charkiw plus 4 Grad an. „Zum ersten Mal seit dem 24. Februar 2022 haben diese Woche die Straßenlaternen abends für anderthalb Stunden geleuchtet“, berichtet der Gefäßchirurg. Denn seit mehreren Wochen hat es zumindest in Charkiw keine Bombardierungen und somit auch keinen Stromausfall mehr gegeben. Zeit also, um das Stromnetz kurzzeitig wieder etwas hochzufahren. An diesem Mittwoch weiß P. noch nicht, dass es schon am nächsten Tag wieder Angriffe auf Charkiw geben wird. 

An diesem Mittwoch feiern auch P. und seine Landsleute in der Ukraine den Internationalen Weltfrauentag. „Meine Frau hat von mir schon einen Blumenstrauß bekommen“, verrät P. mit einem Schmunzeln. Darüber habe sie sich zwar sehr gefreut, allerdings werde dieser Tag zeitgleich auch in Russland gefeiert, das dämpfe die Freude etwas. „Wir möchten so wenige Feiertage wie möglich mit Russland zeitgleich haben“, berichtet P. weiter. Deshalb werde derzeit überlegt, ob man den Frauentag in der Ukraine nicht auf einen anderen Tag legen könnte, beispielsweise auf einen der Geburtstage berühmter ukrainischer Schriftstellerinnen. 

Mitarbeiter wohnen in der Klinik, da ihre Häuser zerstört wurden

In der Klinik, in der P. arbeitet, sind noch immer zwei Zimmer belegt, in denen Familien von Mitarbeitern untergekommen sind, die ihr zu Hause durch Anschläge verloren haben. Dabei seien die Perspektiven, wieder ein zu Hause außerhalb der Klinikräume zu haben, ganz unterschiedlich. „Mache wohnen direkt an der Grenze, da wird es schwierig, wieder in das zerstörte Haus zurückzukehren. Dort gibt es ständig neue Beschüsse.“ In anderen Gebieten könnten dagegen Häuser repariert und neue Fenster eingesetzt werden, sodass Familien dort vielleicht bald wieder einziehen können, schildert er.

Durch die derzeit ruhigere Lage in Charkiw kommen auch wieder mehr Patienten in seine Klinik. „Oft handelt es sich dabei um schwere Fälle. Viele haben sich lange nicht getraut, ins Krankenhaus zu kommen, aus Angst vor Bombardierungen. Deshalb müssen wir derzeit häufig Infektionen und andere Komplikationen behandeln“, berichtet der Gefäßchirurg. Dennoch gebe es noch Platz in der Klinik für weitere Patienten, beispielsweise auch für verletzte Soldaten. 

Einer der verletzten Soldaten ist Juri. Und so möchte P. an diesem Vormittag nicht alleine von der Lage vor Ort aus dem Kriegsgebiet erzählen. Er lässt auch Juri bei dem Telefongespräch mit seinem Gummersbacher Freund zu Wort kommen. Der 57-Jährige hat sich zu Beginn des Krieges freiwillig für den Militärdienst gemeldet und kämpfte monatelang an der Front gegen die russischen Soldaten. Wegen einer Beinverletzung muss er derzeit in der Klinik von P. behandelt werden.

Juri

Er sei in Charkiw geboren und dort aufgewachsen, berichtet Juri am Telefon. Als Putin den Krieg gegen die Ukraine eröffnete, habe er keine Sekunde gezögert und sich sofort freiwillig für den Militärdienst gemeldet, um seine Heimat zu verteidigten. „Ich habe damals meinen Wehrdienst in Afghanistan abgeleistet. Ich war von 1983 bis 1985 dort als Soldat stationiert“, berichtet der gelernte Elektromonteur mit militärischer Erfahrungen. In Afghanistan kämpfte der Ukrainer noch mit den russischen Soldaten zusammen, heute kämpfen sie gegeneinander. 

„Es gibt ganz verschiedene Stärken in der russischen Armee. Manchen Soldaten sind sehr qualifiziert, auch was den Umgang mit Waffen umgeht. Und andere sind sehr ängstlich, haben wenig Erfahrung. Sie lassen teilweise vor Angst die Waffen fallen und laufen weg“, berichtet Juri, der zuletzt an der Grenze zu Russland im Einsatz war. Auch sein Sohn kämpfe als Soldat in der Armee, erzählt er. „Er hatte für meine Entscheidung, sich für den Militärdienst zu melden, Verständnis. Meine Frau hingegen hat sich große Sorgen gemacht und tut es noch – um uns beide“, sagt Juri.

Müdigkeit in der ukrainischen Armee, aber nach wie vor Siegeswille

Unberechtigt war diese Sorge nicht. Im Juni wurde Juri ein erstes Mal verletzt, im November dann ein zweites Mal, berichtet er. Dabei brach er sich in beiden Beinen die Knochen und musste operiert werden. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand bemerkte: auch die Gefäße waren verletzt worden. Daraufhin bildete sich ein Blutgerinnsel, weshalb Juri nun erneut behandelt werden muss und Patient in der Gefäßklinik von Dr. Vitaliy P. ist. Heute gehe es ihm den Umständen entsprechend gut, sagt er. Langsam könne er schon wieder mit einer Gehhilfe laufen. 

Mit seinem Sohn, der weiterhin gegen die russischen Soldaten kämpft, haben er und seine Frau nur wenig Kontakt, denn nur selten habe dieser die Möglichkeit zu Hause anrufen, sagt Juri. Nach einem Jahr Krieg habe sich eine Müdigkeit in der ukrainischen Armee eingestellt. „Diese Müdigkeithat aber keinen Einfluss auf unseren Glauben an einen Sieg. Wir dürfen nicht aufhören“, betont 57-Jährige, der – sobald er in drei bis vier Monaten wieder gesund ist – wieder in die Armee zurückkehren möchte. 

Igor Prudkov

Dass Juri auf all die vielen Fragen, die ihm während des Telefonats gestellt werden, nur kurz und wenig detailliert antwortet, wundert Igor Prudkov, der von Gummersbach aus den Berichten des Soldaten aus Charkiw zuhört, nicht. „Das kenne ich von meinem Opa. Er hat im Zweiten Weltkrieg an der Front als Soldat gekämpft und hat auch sehr selten über seine Erlebnisse gesprochen“, berichtet er. Dabei habe er seinen Opa damals immer wieder nach Geschichten aus dem Krieg gefragt – als kleiner Jungen nicht wissend, wie belastend diese für seinen Opa gewesen sein müssen. 

„Diejenigen, die den Krieg erlebt haben und viel darüber sprechen, die waren nicht an der Front eingesetzt und haben all das, was die Soldaten dort erleben, nicht gesehen“, meint der Psychiater. Die traumatischen Erlebnisse als Soldat im Krieg seien nur sehr schwer aufzuarbeiten.

Fertig ist derweil eine lange Liste mit notwendigen Medikamenten und medizinischem Material. Gemeinsam mit Dr. Vitaliy P. und einem weiteren Freund, der in einem Militärkrankenhaus an der Frontlinie arbeitet, hat Igor Prudkov sie erstellt, damit sichtbar ist, was bei einem nächsten möglichen Hilfstransport nach Charkiw auf jeden Fall an Bord gehen soll. 

Mittwoch, 1. März

Dr. Vitaliy P.

Den heutigen Frühlingsanfang betrachtet Dr. Vitaliy P. als positiv, obwohl das Thermometer an diesem Tag auch in der ukrainischen Stadt Charkiw nur -1 Grad anzeigt. „Frühlingsanfang bedeutet, dass wir den Winter überstanden haben. Das ist ein wichtiger Tag für die Ukrainer“, betont der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet. Ebenfalls positiv: Seit mittlerweile zwei Wochen habe es in Charkiw keinen Stromausfall mehr gegeben und auch die Heizungen laufen. 

Die vergangenen Tage waren auch für den Arzt sehr emotional. Das wird schnell deutlich, als er beim Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov müde in die Kamera blickt. Am 24. Februar, dem Tag, an dem sich der Beginn des russischen Angriffskrieges auf seine Heimat zum ersten Mal jährte, fanden zahlreiche Trauerfeiern in Charkiw statt. Auch P. hielt gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen in der Klinik inne, um den zahlreichen Verstorbenen zu gedenken.

„Präsident Selenskyj hat Soldaten aus der Armee Medaillen verliehen für ihren Einsatz und für ihren Mut. Und er hat auch bereits verstorbene Soldaten nachträglich ausgezeichnet und die Orden deren Familien übergeben“, berichtet der Gefäßchirurg. In einer U-Bahn-Station seien Fotos von 80 berühmten Sportlern aufgebaut worden. Sie alle, darunter auch ein erst 19 Jahre alter Biathlon-Profi, habe sich freiwillig für die Armee gemeldet, um ihr Heimatland zu verteidigen und bezahlten es am Ende mit ihrem Leben.

Trauer um einen guten Freund und Maler, der im Krieg sein Leben verlor

Er selbst habe an keiner der Trauerfeiern, die hauptsächlich auf Friedhöfen an den Gräbern der vielen Opfer stattgefunden haben, teilgenommen. „Ich hatte Dienst in der Klinik und musste ganz normal arbeiten. Aber natürlich waren auch wir hier alle an diesem Tag sehr bedrückt“, sagt P., hält inne und kämpft kurz mit den Tränen. Er nimmt ein Buch in die Hand und zeigt es in die Kamera seines Handys. 

Bei dem Buch handelt es sich um medizinische Fachliteratur des Institutes, dem auch seine Gefäßchirurgie-Klinik angehört. Der Professor des Instituts, und gleichzeitig sein guter Freund, habe lange vorgehabt, das Buch zu veröffentlichen. Doch durch den Krieg verzögerte sich die Veröffentlichung der mittlerweile 13. Auflage um fast ein Jahr. Auch P. hat Fachtexte zur Gefäßchirurgie als Autor für das Buch geschrieben.

„Ein sehr guter Freund von uns und Maler hat die Texte mit Zeichnungen ergänzt. Er hat beispielsweise Gefäße gezeichnet, um die Texte anschaulicher zu machen“, berichtet P. und schluckt. Im Krieg ist auch sein Freund und Maler kürzlich gestorben. „Er war nicht nur ein guter Maler, sondern auch ein guter Mensch.“

Menschen haben ihr Leben an den Krieg in der Ukraine angepasst

Kann man sich an den Krieg gewöhnen? „Man kann sich nicht an Krieg gewöhnen, aber anpassen“, antwortet P. auf die Frage. Fand im ersten halben Jahr des Krieges fast kein Leben statt, haben mittlerweile fast alle Geschäfte wieder geöffnet und auch Restaurantbesuche sind wieder möglich. Das Leben im Krieg gehe weiter, auch wenn es absurd klinge, erzählt P. und ergänzt: „Ich kenne jemanden, der hat sich kürzlich sogar ein neues Auto gekauft.“ 

„Die Angst ist immer da, aber ich habe sie mittlerweile in meinem Inneren zurückgedrängt und gebe ihr nicht zu viel Platz“, erklärt er seinen persönlichen Schutzmechanismus. Im Alltag versuche er sich oft abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen. In Spaziergängen mit seinem Hund schaffe er es gelegentlich den Kopf frei zu gekommen.

Einen anderen Hund, einen Jack Russell Terrier, kennen derweil fast alle in der Ukraine. Patron hat mit seiner feinen Nase bereits zahlreiche Minen erschnüffelt, die dank ihm entschärft werden konnten. Doch nicht alle Tiere haben diese Aufmerksamkeit. „Viele sind in den Häusern der Geflüchteten zurückgeblieben. Oder die Besitzer wurden getötet und die Tiere sind nun allein. Sie werden von einer Organisation eingesammelt, versorgt und nach Europa gebracht. Das ist sehr traurig“, meint der Arzt und Hundebesitzer.

Igor Prudkov

Ihm sei einfach nicht zum Feiern zumute gewesen, sagt Igor Prudkov und blickt ebenfalls auf den 24. Februar zurück. „Ich habe den Pflegerinnen und Pflegern auf meiner Station das ehrlich gesagt und sie hatten Verständnis dafür“, berichtet der Psychiater. Prudkov arbeitet am Gummersbacher Krankenhaus und hätte am Jahrestag des Angriffskrieges auf die Ukraine eigentlich an der nachgeholten Weihnachtsfeier seiner Abteilung hätte teilnehmen sollen. 

Stattdessen fuhr er, gemeinsam mit weiteren Landsleuten, zum Ukraine-Treff im Gemeindehaus in Reichshof. „Dort haben wir gemeinsam ukrainische und deutsche Gerichte gekocht und auch zwei Gottesdienste gefeiert. Und wir haben uns ausgetauscht und unsere Gedanken miteinander geteilt“, berichtet Prudkov. 

In einem Filmvortrag sei sein Heimatland vorgestellt worden. „Dabei wurde nicht der Fokus auf den Krieg gelegt, sondern gezeigt, was die Ukraine alles zu bieten hat und welche Geschichte hinter unserer Heimat steckt“, erzählt er. Noch lange habe man anschließend zusammengesessen und sich unterhalten.

Nebenbei brachte Prudkov, mit Unterstützung weiterer engagierter Menschen, wieder einen Hilfstransport nach Charkiw auf den Weg. Medizinisches Material und vor allem Betten sind mittlerweile angekommen. Weitere Hilfsmittel, die aus dem Restbestand des Gummersbacher Impfzentrums stammen, sind an diesem Mittwoch ebenfalls auf der Zielgeraden Richtung Charkiw. 105 Pakete sind es insgesamt. Einige von ihnen kommen auch weiteren Freunden von Prudkov zugute, darunter einem Handchirurgen.

Mittwoch, 22. Februar

Dr. Vitaliy P.

Während Dr. Vitaliy P. in seinem Büro in Charkiw sitzt und mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov telefoniert, ertönt im Hintergrund der Luftalarm. Vier Raketen sind in der russischen Stadt Belgorod abgeschossen worden, entnimmt der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet, einer Warnmeldung auf seinem Handy. Von Angst ist in seinem Gesicht allerdings nichts zu lesen – obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wo die Raketen einschlagen werden. P. ist mittlerweile routiniert, was Luftalarm angeht, denn   auf den Tag seit einem Jahr tobt der Krieg in seiner Heimat – seit Russland am 24. Februar 2022 den Angriffskrieg auf die Ukraine eröffnete.

Wenige Minuten später weiß P. mehr: Es hat mehrere Explosionen in Charkiw gegeben. „Zwei Menschen sind dabei wohl verletzt worden“, berichtet der Arzt am Telefon von seinen ersten Erkenntnissen. Auch in den vorigen zwei Wochen hatte es Beschüsse gegeben. Der Strom fiel in der vergangenen Woche jedoch kein einziges Mal aus, berichtet der Gefäßchirurg, der seit Kriegsbeginn viele Male im Dunkeln saß oder auf das Notstromaggregat in der Klinik angewiesen war, um dort seine Arbeit fortzusetzen.

Sorge vor Anschlägen am sich jährenden Tag des Kriegsbeginns

Die ständigen Angriffe auf Charkiw, unweit der Grenze zu Russland, seien auch der Grund, warum viele geflüchtete Einwohnerinnen und Einwohner noch nicht wieder in die Millionenstadt zurückgekehrt seien. „Sie haben zu große Angst vor Anschlägen und trauen sich noch nicht, wiederzukommen“, berichtet der Arzt.

„Natürlich haben viele die Sorge, dass am 24. Februar vermehrt Raketen abgeschossen werden“, sagt der Gefäßchirurg. Er persönlich verspüre jedoch nicht mehr Sorge als sonst. „Es wird auch so ständig geschossen. Wir wissen nie, wann Raketen kommen. Da ist es eigentlich egal, welcher Tag ist“, sagt er. Was an diesem 24. Februar jedoch anders ist, sei das Bewusstsein, dass unzählige Ukrainerinnen und Ukrainer im vergangenen Jahr unfreiwillig ihr Leben verloren. „Das ist das, was mich sehr schmerzt“, betont er.

Sicherlich werde es an diesem Tag Gedenkveranstaltungen geben, die jedoch bewusst geheim gehalten werden, um den russischen Soldaten keine gezielte Angriffsfläche zu bieten. Er selbst werde – wie an jedem Morgen – eine Schweigeminute, für die vielen Kriegsopfer in seiner Heimat einlegen, erzählt P. von einem Ritual, das seit Kriegsbeginn in der Ukraine immer um 9 Uhr stattfindet. „Dann wird in der gesamten Ukraine eine Minute geschwiegen, bevor es wieder an die Arbeit geht. Auch in unserer Klinik“, erzählt der Gefäßchirurg.

Unterstützung aus anderen Ländern gibt Kraft

Dass die Ukraine den Krieg gewinnen werde, daran habe er nach wie vor keine Zweifel. Erst recht nicht, nachdem die Menschen aus seiner Heimat den russischen Soldaten schon seit einem Jahr die Stirn bieten und mit ihrem Widerstand wohl viele überrascht hätten. „Wir haben gezeigt, welche Kraft wir haben“, betont P. und ergänzt: „Und wir bekommen viel Unterstützung: Wir haben seit Kriegsbeginn in Europa viele neue Freunde gewonnen. Das gibt uns Kraft und neuen Mut.“

Auch in der Ukraine haben in den vergangenen Tagen einige die Karnevalsumzüge in den großen Städten wie Köln, Düsseldorf oder Mainz in den Medien verfolgt und die Mottowagen samt Kritik an Putin wahrgenommen. „Ich selbst schaue momentan wenig Fernsehen, aber ich weiß, dass andere es verfolgt haben. Es ist natürlich ungewohnt, Putin als riesige Figur auf einem Wagen zu sehen, der durch die Stadt fährt. Aber wir verstehen die Botschaft dahinter. Und wir finden es gut, dass man auch in Europa die Kritik an ihm und dem Krieg so deutlich und öffentlich zeigt“, meint P. am Telefon. 

Igor Prudkov

Natürlich habe er Karneval gefeiert, berichtet Igor Prudkov. Mit seiner Tochter und seiner Enkelin verbrachte er die einige der jecken Tage in der Eifel. Freunden aus der Heimat zeigte er außerdem den Karnevalsumzug in Bergisch Gladbach. „Die waren total begeistert davon. In der Ukraine kennt man Karneval gar nicht“, berichtet er.

Doch in diesen Tagen befindet sich Prudkov in einem Gewissenskonflikt. Auch er möchte in Gummersbach am sich jährenden Tag des Kriegsbeginns in seiner Heimat der vielen Opfer gedenken. „Allerdings findet genau an diesem Tag die nachgeholte Weihnachtsfeier auf unserer Station statt“, berichtet der Psychiater, der am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet. „Ich werde an der Feier teilnehmen, denn ich möchte meinem Personal Danke sagen, das finde ich sehr wichtig. Aber es wird komisch sein, an diesem Tag zu feiern“, sagt er.

Erneuter Hilfstransport für die ukrainische Heimat

Neben seiner Arbeit im Krankenhaus bereitet Prudkov in diesen Tagen zudem erneut einen möglichen Hilfstransport in seine ukrainische Heimat und zu seinem Freund Dr. Vitaliy P. vor. Gemeinsam mit Dr. Vitaliy P. hat er deshalb bereits angefangen, eine Liste mit benötigten Medikamenten und weiteren medizinischen Mitteln zusammenzustellen.

Auch in anderen Krankenhäusern in der ukrainischen Region fragen die beiden Freunde derzeit nach, ob dort etwas benötigt wird. „Leider ist es vielen zu anstrengend, humanitäre Hilfe anzunehmen, da dies mit unglaublich viel Bürokratie verbunden ist. Dabei ist sie so wichtig“, betont Prudkov.

Donnerstag, 9. Februar

Dr. Vitaliy P.

Die Corona-Pandemie spiele in der Ukraine keine Rolle mehr, auch in den Krankenhäusern nicht, berichtet Dr. Vitaliy P., der als Gefäßchirurg an einer Klinik in Charkiw arbeitet, als er seinen Gummersbacher Freund Igor Prudkov am Handybildschirm mit Maske sieht. Auch bei seinen Patienten gebe es immer weniger positive Fälle. „Corona haben wir scheinbar schon besiegt, jetzt müssen wir nur noch die Russen besiegen“, sagt P. mit einem müden Lächeln.

Denn auch in den vergangenen Tagen schlugen Raketen des Typs S-300 in Charkiw ein. Getroffen wurde unter anderem eine Fabrik neben einem beliebten Park im Zentrum, eine Hochschule und eine Klinik in Wowtschansk, an der P.s bester Freund als Chefarzt arbeitet. „Seitdem ist die Klinik dort ohne Strom. Das ist eine sehr schwierige Situation“, berichtet der Gefäßchirurg ernst.

Schwierige Situation für Studierende sowie Schülerinnen und Schüler

Ebenso schwierig ist die Situation für Studierende und Schülerinnen und Schüler. Seit Beginn des Krieges vor knapp einem Jahr findet der Unterricht nur noch online statt. Was das für das Sozialleben der jungen Menschen bedeutet, kann sich P. nur allzu gut vorstellen, denn auch seine zwei Söhne sind betroffen. „Und ich gebe auch selber Vorlesungen für Medizinstudenten in den Fächern Allgemein- und Gefäßchirurgie“, berichtet P. am Telefon. 

Neben dem fehlenden persönlichen Kontakt seien beim Online-Unterricht auch die ständigen Netzausfälle ein Problem. So komme es immer wieder vor, dass die Verbindung bei den teilnehmenden Studentinnen und Studenten unterbrochen werden und sie dem Unterricht nicht in vollem Umfang folgen können. Darüber hinaus falle die so wichtige Praxiserfahrung in den Krankenhäusern weg. „Der reine Online-Unterricht ist eine Katastrophe“, kann es P. vor allem in Bezug auf die Medizinstudenten nicht anders beschreiben, der aber dankbar ist für die PJler und die Assistenzärzte, die weiterhin in den Kliniken unterstützen können.

Minen in Charkiw explodieren beim Entschärfen

Auch weiterhin hält die Klinik in Charkiw, in der P. arbeitet, Betten bereit, um im Ernstfall schwer verletzte Patienten aus anderen Krankenhäusern an der russischen Grenze zur Weiterbehandlung übernehmen zu können, berichtet der Gefäßchirurg. Etwa 30 Prozent der Bettkapazität können dafür kurzfristig freigemacht werden, wobei zehn Prozent von ihnen derzeit von Klinikpersonal in Beschlag genommen wird, da auch einige seiner Kollegen ihr zu Hause im Krieg verloren haben.

Verhalten, aber durchaus vorhanden, ist bei P. derweil die Freude über die weiter zugesagten Panzerlieferungen aus Deutschland. „Natürlich sind das gute Nachrichten, aber ich weiß auch, dass es noch dauern wird, bis diese in der Ukraine sind und wir im Umgang geschult sind. Wir brauchen noch viel Geduld“ sagt der Arzt aus Charkiw. Immer wieder hört P. während des Telefonats mit seinem Freund Igor Prudkov im Hintergrund ein Knallen. Raketen seien dies jedoch nicht, sondern Minen, die beim Entschärfen explodieren, berichtet er. 

Igor Prudkov

Handschuhe, Spritzen, Desinfektionsmittel, Masken und Kittel – das sind einige der Dinge aus den Beständen des mittlerweile geschlossenen Impfzentrums im ehemaligen Karstadt in Gummersbach, die nun gespendet wurden und sowohl der Ukraine als auch der Türkei im Erdbebengebiet zugutekommen sollen.

Ein Drittel sei bereits am Mittwoch per Flugzeug in das betroffene türkische Gebiet geschickt wurden, berichtet Igor Prudkov, der am Krankenhaus Gummersbach als Psychiater arbeitet. Prudkov stammt aus der Ukraine und setzt sich seit Kriegsbeginn sowohl in Zusammenarbeit mit dem Klinikum Oberberg als auch darüber hinaus privat für Hilfsprojekte für seine Heimat ein. Dass man nun die vorhandenen Kontakte und Ressourcen auch für die Türkei nutze, sei selbstverständlich, betont er. 

Vorfreude auf die Karnevalstage

Wie viele andere schaut auch Prudkov auf den bevorstehenden Tag des Kriegsbeginns in seiner Heimat, der sich in zwei Wochen jährt. Vor einem Jahr brach der Krieg an Weiberfastnacht aus – in einer Zeit, in der eigentlich alle fröhlich Karneval feiern wollten. Auch jetzt steht Karneval bevor. Vom Feiern abhalten lassen, möchte auch Prudkov aber nicht, auch wenn er in diesen Tagen mit seinen Gedanken oft in der Ukraine sein wird.

„Ich gehe zu hundert Prozent zum Karneval. Ich habe mir extra Urlaub genommen, um meinen ukrainischen Freunden den Rosenmontagszug in Köln zu zeigen“, erzählt er. Auch mit seiner Enkelin wolle er zusammen Karneval feiern. „Ich mag einfach die Stimmung der vielen Leute, die gut gelaunt zusammen kommen, feiern und sich freuen. Da kann auch ich Energie tanken“, sagt er.

Mittwoch, 1. Februar

Dr. Vitaliy P.

Anfang dieser Woche schlug in einem Mehrfamilienhaus in der ukrainischen Stadt Charkiw erneut eine Rakete ein. „Eine Frau ist dabei ums Leben gekommen“, berichtet Dr. Vitaliy P., der als Gefäßchirurg an einer Klinik in Charkiw arbeitet, am Telefon. Das sorgt auch bei seinem Freund Igor Prudkov, der am Ende der anderen Leitung in Gummersbach sitzt, für eine bedrückte Stimmung. „Mitten im Zentrum ist die Rakete eingeschlagen. Das war wieder ein russischer Angriff auf die Bevölkerung. Mit militärischen Angriffen hat das nichts zu tun“, sagt er.

Besonders schlimm seien die Beschüsse am 25. Januar gewesen. Auf die gesamte Ukraine verteilt seien 55 Raketen geschossen worden. „47 von ihnen haben wir abgewehrt, aber die anderen sind eingeschlagen“, berichtet P., der für Charkiw für diesen 25. Januar jedoch keinen Einschlag vermeldet. Zuvor seien die Ziele der Raketen bei Nacht mit Drohnen ausgekundschaftet worden, berichtet der Arzt weiter.  

Sorge vor angekündigter russischer Offensive

Die angekündigte russische Offensive sieht Dr. Vitaliy P. mit großer Sorge, doch der Gefäßchirurg weiß auch: „Ohne eine solche Offensive gibt es leider keinen Kriegsgewinn. Das wird viele Menschenleben kosten, das ist das Schlimme daran“, sagt er. Einmal mehr fordert er deswegen die Lieferung moderner Waffen für die ukrainischen Soldaten. „Ich freue mich über die Panzerzusage von Olaf Scholz“, ergänzt er.

In der Klinik in Charkiw, in der P. arbeitet, bereitet man sich derweil – nach der Ankündigung der russischen Offensive – auf eine Vielzahl an Verletzten vor. P. erzählt am Telefon: „Wir haben bereits Betten bereitgestellt und können im Notfall mehrere Verletzte gleichzeitig aufnehmen.“ Aktuell werden in seiner Klinik in Charkiw noch wenig Menschen mit Kriegsverletzungen behandelt. Das liege jedoch nicht an der mangelnden Kapazität, sondern vielmehr an der schlechten Erreichbarkeit seiner Klinik. Eine Brücke, die über die Talsperre führt, sei zerstört und somit andere Krankenhäuser oft näher als das in Charkiw.

Vorbereitung auf einen möglichen Blackout in der Ukraine

Was die Stromausfälle angehe, sei es in den vergangenen zwei Wochen besser gewesen. „Gestern konnten wir zum ersten Mal den gesamten Tag durcharbeiten, ohne dass das Notstromaggregat in der Klinik anspringen musste“, berichtet P. am Telefon weiter. Dennoch gebe es weiterhin geplante Ausfälle, um Reparaturarbeiten an den zerstörten Leitungen vorzunehmen. Zu Hause habe er die Heizungen nun aufgedreht. „Ich heize mein Haus derzeit auf 20 bis 22 Grad, damit es bei einem möglichen Blackout nicht sofort kalt wird, und sich die Wärme noch etwas hält“, erklärt er. 

Wer seine Arbeit verloren habe oder in finanzielle Not geraten sei, müsse jedoch keine Angst haben, dass ihm der Gashahn zu Hause abgedreht werden, berichtet der Gefäßchirurg. Finanzielle Mittel seien da, vor allem durch die humanitäre Hilfe. „Natürlich sind wir dabei auch auf Europa angewiesen“, betont P. am Telefon. Zuschüsse gebe es außerdem für diejenigen, die obdachlos gewordene Menschen bei sich aufnehmen. 

Igor Prudkov

Abendliche Talkshows im Deutschen Fernsehen könne er sich nur noch selten ansehen, berichtet Igor Prudkov. Der Psychiater, der am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet, ärgert sich vor allem über die Aussagen der Gäste zu Waffenlieferungen an die Ukraine und was diese bewirken könnten, nämlich eine „weitere Eskalation“. So werde es von vielen benannt, schildert Prudkov. Und genau diese Formulierung sei das, was ihn so ärgert. 

„Weitere Eskalation? Was könnte denn noch schlimmer sein als das, was momentan schon in der Ukraine passiert?“, fragt er und schaut auf seine Heimat, die an vielen Orten nur noch als Ruine zu bezeichnen ist. „Städte aufbauen kann man an vielen Stellen gar nicht mehr. Da wäre ein Neubau günstiger“, meint er. Von den vielen Toten möchte er erst gar nicht sprechen. „Deswegen ärgern mich solche Aussagen in den Talkshows ganz besonders.“

Was er von den brasilianischen Vermittlungsversuchen für den Frieden halten soll, weiß Prudkov noch nicht so recht. „Gut finde ich, dass Olaf Scholz schon klargestellt hat, dass solche Friedensgespräche nur mit der Ukraine zusammen stattfinden können“, betont er. Dass China einen großen Einfluss auf Russland hat, weiß auch der Psychiater aus Gummersbach. „Putin ist abhängig von China. 90 Prozent des Budgets, vor allem für Gas, kommt aus China.“ Ob sich China aber tatsächlich an den Vermittlungsversuchen beteiligen werde, das sehe er derzeit eher skeptisch. 

Igor Prudkov erfreut sich lieber an realistischen Gegebenheiten. So etwa an der Ankunft des aus dem Oberbergischen geschickten Krankenwagens in die Ukraine für ein Sanitätsbataillon in Donezk. Dieser ist mittlerweile vor Ort angekommen. Per Video haben sich die Helfer vor Ort bedankt und schickten ein Foto von dem bereits umlackierten Wagen, der durch diese Sicherheitsmaßnahme nun nicht mehr auf den ersten Blick als Krankenwagen erkennbar ist. 

Dienstag, 17. Januar

Dr. Vitaliy P.

Erneut sind in der vergangenen Woche zwei Raketen des Typs S-300 in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw eingeschlagen – eine traf ein Wohngebiet, eine andere ein Elektrizitätswerk. Die ganze Region blieb für neun Stunden ohne Strom. Das berichtet Dr. Vitaliy P., der als Gefäßchirurg in einer Klinik vor Ort arbeitet, und nur dank Notstromgenerator seine Arbeit im Krankenhaus nicht komplett niederlegen musste. „Außerdem habe ich von einem guten Freund noch einen weiteren einfacheren Generator für die Klinik bekommen“, erzählt der Gefäßchirurg.

Zum Glück sei noch genügend Diesel vorhanden, um die Generatoren antreiben zu können, berichtet P. im Telefongespräch mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov. Das Problem seien auch gar nicht die Dieselvorräte selbst, sondern vielmehr die Kosten, um den Diesel zu beschaffen. Für die Bereitstellung der Gelder sei im Falle der Klinik, in der P. tätig ist, die Stadt zuständig, berichtet er weiter.

Finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau zerstörter Häuser

Kosten verursachen derweil auch die Reparaturarbeiten an den zahlreichen zerstörten Häusern. Instand gesetzt werden können derzeit nur minimal beschädigte Häuser, deren Fenster und Dächer kaputt seien. „Sodass die Leute wieder dort wohnen können. Auch Heizungen werden dann repariert. Aber mehr ist nicht möglich. Schwer beschädigte Häuser können momentan nicht wieder aufgebaut werden“, berichtet P. am Telefon. 

Holzplatten, Glas und weitere Baustoffe gebe es im Baumarkt zu kaufen, vor allem Glas sei aber rare Ware. Längst seien auch in der Ukraine die Preise für diese Materialien enorm gestiegen. Wer sein privates Haus repariere, zahle in der Regel selber. So wie einst auch P., als er seinen Sohn bei der Reparatur von dessen Haus unterstützte. Wem allerdings die finanziellen Mittel fehlen, der könne einen Antrag auf Unterstützung bei der Stadt stellen. Die Arbeiten übernehmen dann in den meisten Fällen die ortsansässigen Handwerksbetriebe.

Begeistert vom Besuch von Annalena Baerbock in Charkiw

Begeistert zeigt sich P. am Telefon von dem kürzlichen Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, die nach Charkiw gekommen war, um sich das Ausmaß der bisherigen Zerstörung vor Ort anzuschauen. „Ich finde es gut, dass sie vorbeikommt, um sich mit eigenen Augen ein Bild macht, statt nur die Bilder im Fernsehen zu schauen“, betont der Gefäßchirurg. Sie habe die schlimmsten Orte, in denen fast kein Haus mehr stehe, besichtigt und versprochen, die Stadt und die Unternehmen wieder aufzubauen, freut sich P. noch eine Woche später über diese Worte.

Auch den Rücktritt von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat P. von Charkiw aus verfolgt und war gespannt, wer die Nachfolge antreten wird. Denn Boris Pistorius, der nun in die Fußstapfen von Lambrecht tritt, habe ein großes Mitspracherecht bei der Unterstützung der Ukraine und einer möglichen Lieferung weiterer Waffen in die Ukraine, weiß P., meint aber gleichzeitig: „Olaf Scholz hat am Ende wohl doch das letzte Wort.“

Erschüttert zeigt sich P. derweil von den Reaktionen zahlreicher russischer Bürgerinnen und Bürger unter einem Video auf YouTube, das die Zerstörung eines Hochhauses in Dnipro nach Raketeneinschlägen zeigt. „Von Mitleid ist dort keine Spur zu lesen. Im Gegenteil: nur Zuspruch und Hass aus der Bevölkerung“, berichtet er.

Igor Prudkov

Immer wieder sind zuletzt Rettungswagen in der Ukraine beschossen und beschädigt worden bei dem Versuch, verletzte Soldaten aus den umkämpften Gebieten herauszuholen und in Lazarette und Krankenhäuser zu transportieren. Auch in einem Sanitätsbataillon in der ostukrainischen Stadt Donezk fehlt es aus diesem Grund derzeit an einem Krankentransportwagen. Ein Arzt hat deshalb einen Hilferuf ins Oberbergische an seinen Freund Igor Prudkov gestartet, der als Arzt am Kreiskrankenhaus in Gummersbach arbeitet und selbst aus der Ukraine stammt.

Prudkov wandte sich daraufhin an den Kreisverband der Caritas mit der Bitte um Unterstützung – mit Erfolg. Peter Rothausen, Vorstandsvorsitzender der Caritas Oberberg, machte sich auf die Suche und trieb mithilfe der ehrenamtlichen Helferin Valentyna Butulay, die sich im Rahmen ihres Engagements für ihre ukrainische Heimat längst ein großes Netzwerk aufgebaut hat, ein ausgedientes Impfmobil auf. Gemeinsam mit der Rettungswache Gummersbach um den Leiter Rolf Kühr sowie ukrainischen Geflüchteten gelang es nun, das Impfmobil zu reparieren.

Spenden für ein Sanitätsbataillon in Donezk

Die Flughafen-Feuerwehr Köln/Bonn und das Kreiskrankenhaus Gummersbach ermöglichten durch Spenden außerdem, dass das Auto für den Einsatz im Kriegsgebiet entsprechend ausgestattet werden konnte.  Prudkov freut sich über die schnelle Hilfe für seine Landsleute und Kollegen im Sanitätsbataillon in Donezk.

„Das Auto ist zu wertvoll, um direkt an der Front eingesetzt zu werden“, betont der Psychiater und führt aus: „Die verletzten Soldaten werden mit Pick-ups aus dem Gefahrenbereich heraus gebracht und von dort in Krankenwagen verlegt, sodass die Notfallversorgung und der Transport zum nächsten Lazarett oder Krankenhaus sichergestellt sind.“ Und noch eine gute Nachricht: Dank zusätzlicher Spenden in Höhe von 3000 Euro, die in Ruppichteroth gesammelt wurden, gehen auch noch Medikamente mit auf den Weg.

Außerdem erfährt der Gummersbacher Psychiater beim Telefonat mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. aus Charkiw: Endlich ist der aus Gummersbach losgeschickte Defibrillator in der Klinik in Charkiw angekommen – allerdings ohne ukrainischsprachige Gebrauchsanweisung. „Wir überlegen derzeit noch, wer von uns das Gerät testet und den ersten Stromschlag abbekommt“, scherzt sein Freund Dr. Vitaliy P., ist jedoch sehr dankbar für dieses wichtige medizinische Gerät. 

Dienstag, 10. Januar

Dr. Vitaliy P.

Als Igor Prudkov ihn auf die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigte Waffenruhe wegen des orthodoxen Weihnachtsfestes in der Ukraine anspricht, antwortet sein ukrainischer Freund Dr. Vitaliy P. nur mit einem müden Lächeln. „Russland hat in der Vergangenheit so oft angekündigte Waffenruhen nicht eingehalten. Das nehme ich längst nicht mehr ernst“, sagt der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in der Millionenstadt Charkiw arbeitet, beim Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund.

Und er hatte recht behalten. Kaum war die angebliche Waffenruhe ausgesprochen, schon habe es besonders an der Grenze der Ukraine zu Russland zahlreiche Angriffe gegeben, berichtet er weiter. Und auch in dieser Woche fiel bereits eine Rakete auf Charkiw. „Dabei wurde ein Wochenmarkt in dem Dorf Schewtschenkowe getroffen. Ein 13-jähriges Mädchen ist dabei schwer verletzt worden und zwei ältere Frauen wurden getötet. Eine von ihnen war die Oma des verletzten Mädchens“, berichtet P., der diese Informationen von Kollegen einer anderen Klinik in Charkiw erhalten hat, in der das Mädchen zurzeit behandelt werde.

Ukrainer feiern trotz Angriffe das orthodoxe Weihnachtsfest

Trotz der weiter anhaltenden Angriffe feierten viele von P.s Landsleuten  Ende der vergangenen Woche das orthodoxe Weihnachtsfest. Dabei füllten sich viele der Kirchen mit zahlreichen Gläubigen. Er selber sei nicht in eine Kirche gegangen, das liege aber nicht etwa an der Angst vor Angriffen an diesen mit Menschen überfüllten Plätzen, sondern daran, dass die vollen Kirchen generell nicht sein Ding seien, berichtet P. am Telefon. „Ich bin gläubig, aber ich trage meinen Glauben an Gott in meiner Seele“, erzählt er.

Natürlich hätten viele Menschen Ängste, sich in diesen Tagen an Orten wie Kirchen aufzuhalten, denn mit Angriffen von russischer Seite müsse man immer rechnen, weiß der Gefäßchirurg. In Charkiw habe es deshalb in diesen Tagen einen sogenannten Notzustand gegeben. „Bis 11 Uhr kann man sich in der Stadt frei bewegen, danach herrscht bis 17 Uhr eine Ausgangssperre und die Leute sollen zu Hause bleiben“, erklärt er. 

Wofür braucht Russland ukrainische Territorien?

Wie schon so oft fragt sich P. auch in dieser Woche: „Wofür braucht Russland überhaupt ukrainische Territorien?“ An Sibirien sehe man doch, dass Russland schon jetzt nicht mit seinen eigenen Territorien klarkomme, meint der Gefäßchirurg und nennt die vielen ausgestorbenen Dörfer in dieser Gegend.

Optimistisch blickt P. in diesen Tagen auf die von Deutschland angekündigte Lieferung eines Panzers. „Bis jetzt ist es aber nur eine Information. Richtig freuen werde ich mich erst, wenn dieser auch tatsächlich in der Ukraine angekommen ist“, sagt er. Die Ukraine wolle zu Europa gehören, betont der Gefäßchirurg aus Charkiw eindrücklich. Und zwar nicht, um daraus Profit zu schlagen, sondern wegen der politischen Werte Europas. P. bekräftigt: „Wir wollen Teil dieser demokratischen Werte sein.“

Igor Prudkov

Längst haben Dr. Vitaliy P. und Igor Prudkov die Erkenntnis gewonnen: „Mit Wladimir Putin sind keine Friedensgespräche möglich.“ Und Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, ergänzt: „Die Ukrainer müssen ihre Heimat nicht nur verteidigen, sondern den Krieg auch gewinnen. Nur dann kommt das Kriegsende. Anders geht es nicht, denn Putin kennt nur Macht.“ Wie schwierig diese Debatten sind, in denen es um die Waffen geht, weiß Prudkov, denn Verteidigung und Angriff sind schließlich zwei unterschiedliche Paar Schuhe. 

Den immer wieder aufkommenden Gerüchten um den schlechten Gesundheitszustand Putins möchte Igor Prudkov keinen Glauben schenken. „Diese Gerüchte gab es bereits im Jahr 2002. Schon damals war Putin angeblich schwer krank. Ich glaube davon kein Wort“, sagt er.

Derweil wartet der Gummersbacher Psychiater weiterhin auf positive Nachrichten aus Charkiw, dass der aus Oberberg auf den Weg gebrachte Defibrillator in der Klinik seines Freundes ankommt. In der Ukraine ist er schon angekommen, weiß Prudkov dank seiner Kontakte. Jetzt muss er nur noch sein endgültiges Ziel erreichen.

Mittwoch, 4. Januar

Dr. Vitaliy P.

Seine Stimmung an Silvester sei gut gewesen, berichtet Dr. Vitaliy P. im Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov. Das liege vor allem daran, dass er überzeugt davon sei, dass in diesem noch jungen Jahr der Krieg in seiner ukrainischen Heimat beendet werde, sagt der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw arbeitet. Es ist ein Optimismus in schlimmen Zeiten, denn auch in Charkiw fanden die Weihnachtsfeiertage und das Silvesterfest inmitten des Krieges alles andere als sorglos und unbeschwert statt.

Die Hoffnung lasse die Menschen nach vorne blicken, berichtet P., der an den Feiertagen frei hatte und gemeinsam mit der Familie ins neue Jahr rutschte. Doch in den Tagen zuvor hatte es zahlreiche Beschüsse in der gesamten Ukraine und auch in Charkiw gegeben. „Wieder hat es viele Stromausfälle gegeben. Glücklicherweise war der Strom meist nach zwei Stunden wieder da“, erzählt der Gefäßchirurg. Die schlimmsten Beschüsse habe es am 26. Dezember gegeben.

Was P. jedoch freut, seien die vielen abgewehrten russischen Drohnen. „In einigen Städten sind keine Drohnen durchgekommen“, sagt er. Dass in Kiew an Silvester ein Hotel getroffen wurde, zeige aber einmal mehr, dass sich die russischen Angriffe nicht an das Militär, sondern die Zivilbevölkerung richten. Und das an einem Tag, an dem alle zusammenkommen, um das neue Jahr zu begrüßen. Silvester und Neujahr seien zwei der wichtigesten Feiertage in seiner Heimat, erzählt der Gefäßchirurg.

Mehr Angst als an anderen Tagen habe er selbst an Silvester nicht gehabt, obwohl in der Ukraine alle mit Angriffen an diesen besonderen Feiertagen gerechnet hatten. „Aber wir wissen nie, wann tatsächlich Angriffe kommen. Raketen brauchen von Belgorod nur anderthalb Minuten bis nach Charkiw. So schnell können wir gar nicht gewarnt werden und in einen Schutzbunker laufen“, berichtet P. weiter. Mit der Zeit habe er die Angst verloren. „Und man verdrängt sie auch auf eine gewisse Weise“, ergänzt der Arzt.

Silvester zu Hause mit der Familie in Charkiw gefeiert

Er habe Silvester zu Hause mit seiner Familie gefeiert und viel Weihnachtsstollen gegessen. „Es war trotzdem anders als sonst, denn es gab ein Feuerwerksverbot“, berichtet er. Und daran habe sich auch die gesamte Stadt Charkiw gehalten. „Keine einzige Silvesterrakete wurde geschossen, obwohl wir eigentlich verrückt danach sind“, erzählt P. und ergänzt: „Das hat vor allem meinen Hund gefreut, denn er hat immer Angst davor.“ Knallende Feuerwerksraketen passten einfach nicht in ein Kriegsgebiet, in dem ein Knall Angst statt Freude auslöse, weiß der Gefäßchirurg.

Einige seiner Landsleute würden am 6. Januar noch das orthodoxe Weihnachtsfest feiern, erklärt P. weiter. Viele hätten sich jedoch an den 24. und 25. Dezember gewöhnt und ihr Weihnachtsfest nun vorverlegt. „Letztendlich ist der Tag aber doch egal. Man kann jeden Tag an Gott denken und braucht dafür kein spezielles Datum“, so der Gefäßchirurg.

Igor Prudkov

Weil sein Freund Dr. Vitaliy P. dieses Jahr in Charkiw auf Silvesterraketen verzichten musste, übernahm sein Gummersbacher Freund Igor Prudkov das Feuerwerk. „Ich habe jede Menge gekauft“, verrät er schmunzelnd. Die Silvesterraketen wurden – nach einem langen Spaziergang – mit seiner Enkelin in der Eifel in die Luft geschossen. „Ich habe gut gefeiert“, sagt Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet.

Mit einem Auge habe er jedoch immer in seine ukrainische Heimat geschaut, telefonierte mit Dr. Vitaliy P. und schaute die Neujahrsansprache von Präsident Wolodymyr Selenskyj. „Die war sehr positiv. Sie hat ein Gefühl von Zusammenhalt gegeben“, sagt Prudkov. Denn das sei das Wichtigste in diesen schweren Zeiten.

Kein ruhiges Silvesterfest in vielen Teilen der Ukraine

Denn während die Neujahresfeier in Charkiw weitestgehend ruhig verlief, seien vor allem die ukrainischen Ortschaften an der Grenze zu Russland dauerhaft bombardiert worden. Die Menschen dort hätten alles andere als ein ruhiges Silvesterfest erlebt und teilweise lange im Dunkeln gesessen, weiß Prudkov, der auch weitere Freunde in anderen Orten der Ukraine hat, mit denen er im regelmäßigen Austausch ist.

„Die nächsten drei Monate werden am härtesten, wenn es eine weitere Mobilmachung russischer Soldaten geben sollte. Außerdem ist weiterhin Winter und die Angriffe auf die Infrastruktur werden wohl so schnell nicht aufhören“, meint Igor Prudkov mit Sorge.

Dienstag, 20. Dezember

Dr. Vitaliy P.

Stolz schwenkt Dr. Vitaliy P. seine Handykamera durch die Klinik in Charkiw und zeigt den bunt geschmückten Weihnachtsbaum, der im Ärztezimmer steht. Auch Schneeflocken aus Papier und Lametta-Girlanden hängen an der Decke und an der Wand und verbreiten einen kleinen Hauch an Weihnachtsstimmung in der Klinik der ukrainischen Millionenstadt. P. arbeitet dort als Gefäßchirurg und telefoniert an diesem Dienstagmorgen wieder mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov, dem er die Dekoration zeigt.

Doch zum Feiern sei ihm in dieser Woche gar nicht zumute gewesen, berichtet P. – zumal in der Ukraine seit Kriegsbeginn ohnehin alle Feiertage gestrichen wurden. Denn es habe erneut mehrere Angriffe der russischen Truppen gegeben – die wahrscheinlich schlimmsten seit Kriegsbeginn, berichtet P. weiter. Zweimal in dieser Woche wurde auch Charkiw von Raketen des Typs S-300 getroffen. „Beim ersten Mal hat Charkiw zwei Raketen abbekommen. Beim zweitem Mal zehn. Davon konnten zwar zwei abgewehrt werden, acht sind jedoch eingeschlagen“, berichtet der Gefäßchirurg. 

Einschläge sorgten für schwere Schäden

Die Einschläge hätten für schwere Schäden gesorgt. Wieder seien lange Strom, Heizung und Netze ausgefallen. Einige Teile von Charkiw seien mehr als 24 Stunden ohne Strom gewesen. Die Klinik, in der er arbeitet, habe zehn Stunden ohne Strom auskommen müssen, berichtet P. am Telefon. Das Notstromaggregat sei zum Glück angesprungen und habe dafür gesorgt, dass Not-OPs weiterhin stattfinden konnten. Auch Beatmungsgeräte wurden weiterhin betrieben. Alle planmäßigen Operationen musste P. jedoch absagen. 

Auch die Heizung falle zwar immer wieder aus, da das Krankenhaus aber groß sei, werde die Wärme in den Räumen lange gespeichert und sei zuletzt nicht unter 15 Grad gefallen. Das sei zwar nicht gerade warm, aber aushaltbar, berichtet P., der von Freunden aus Kiew gehört habe, die in ihren Häusern nur acht Grad gemessen hätten. An diesem Dienstagmorgen sind es in Charkiw -7 Grad. 

Besonders in dieser kalten Jahreszeit seien die Menschen in der Ukraine dankbar für jede Hilfe. P. erklärt, wie die Hilfsmittel, die in die Ukraine geschickt werden, bei den Menschen ankommen. „Für jeden Stadtteil in Charkiw gibt es eine Liste mit den Namen der Menschen, die dort wohnen. Es gibt feste Punkte, ab denen Hilfe angeboten wird. Die Menschen werden dann per SMS benachrichtigt, wo der nächste Anlaufpunkt, je nach Straße, in der sie wohnen, ist.“ 

Bei der Ausgabe von Hilfsgütern in Charkiw wird der Pass kontrolliert

Vor Ort werde dann der Pass kontrolliert und auf der Liste die Namen derer abgehakt, die an diesem Tag Hilfe in Form von Lebensmitteln oder anderen Hilfsgütern erhalten haben. So soll gewährleistet werden, dass niemand vernachlässigt und alle gleich gehandelt werden, erklärt P. weiter. Auch mobile Transporte gebe es, die vor allem Plätze an großen Mehrfamilienhäusern abfahren. Außerdem seien rund um die Uhr geschützten Orte – meist unterirdisch – erreichbar, an denen Menschen Schutz suchen können und an denen es immer Brot und heißen Tee gebe.

Auch Weihnachten werde in Charkiw unter der Erde gefeiert – im U-Bahnhof unter dem zentralen Platz, auf dem in den Vorjahren der große Weihnachtsbaum aufgestellt wurde. Dieser steht nun unter dem Platz in der U-Bahnstation, neben beleuchteten Weihnachtsbuden. Für die Kinder gibt es weihnachtliches Programm. Auch er wolle mit seiner Familien an Weihnachten zusammensitzen, hat sich P. vorgenommen.

Und abschließend verrät der Gefäßchirurg lachend: „Es wurden sogar frischer Stollen gebacken. Das kennen wir in der Ukraine eigentlich gar nicht. Eine Woche sollen wir noch warten, bis wir ihn essen können. Ich weiß nicht, ob diese Wochen schaffen werde.“

Igor Prudkov

Dass es in Charkiw kürzlich einen Termin eines Architekten mit dem Bürgermeister vor Ort zum Wiederaufbau der Stadt gegeben habe, könne er sich nur so erklären: „Die Sicherheit in der Ukraine, den Krieg zu gewinnen, ist groß“, meint Igor Prudkov. Auch andere Länder hätten der Ukraine bereits Unterstützung für den Wiederaufbau ihrer Städte gegeben. Es brauche diese Zuversicht in seiner Heimat. 

„Als ich letztens Bilder von Charkiw gesehen habe, die vor genau einem Jahr aufgenommen wurden, von unserer hellen und schönen Stadt, hatte ich Tränen in den Augen“, sagt Prudkov. An diesem Dienstag herrscht genau seit 300 Tagen Krieg in seiner Heimat. 

Zeit mit der Familien an Weihnachten verbringen

Auf die Weihnachtszeit möchte sich Prudkov aber trotzdem freuen, vor allem auf die Zeit mit seiner Familie. Denn mal wieder sei die Adventszeit so schnelllebig gewesen und die Zeit viel zu knapp. Immerhin einmal schaffte es der Psychiater, der am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet, mit seiner Enkelin den Weihnachtsmarkt am Kölner Heumarkt zu besuchen. „Dort sind wir Eislaufen gewesen. Das kann ich ganz gut, denn ich habe früher lange Eishockey gespielt“, berichtet Prudkov.

Was ihm an den Weihnachtsmärkten besonders gefalle? „Definitiv die Stimmung! Ich kenne Weihnachten aus der Ukraine gar nicht so, aber hier habe ich mich in diese Stimmung verliebt. Auf dem Weihnachtsmarkt kann ich Freude tanken“, antwortet er.

Valentyna Butulay

Einen kurzen Moment lauscht an diesem Dienstagmorgen auch Valentyna Butulay dem Telefongespräch von Igor Prudkov und seinem Freund Dr. Vitaliy P., denn sie hat gute Nachrichten, die auch den Gefäßchirurgen in Charkiw sehr freuen. Ein Spender hat einen gebrauchten, aber voll einsatzfähigen Defibrillator samt EKG-Funktion gespendet. Außerdem hat eine Feuerwehreinheit einen Notfallrucksack zur Verfügung gestellt. Beides soll mit einem Hilfstransport, der auch weitere Güter für andere Regionen enthält, am Donnerstag von Gummersbach aus auf den Weg gebracht werden. 

Bedacht werden neben dem Krankenhaus in Charkiw auch ein ukrainisches familiäres Waisenhaus an der Grenze zu Russland. 20 Akkuleuchten hat Butulay dank Spendengeldern für die Kinder besorgt. Aus dem Erlös der Bilder ukrainischer Kinder, die die Caritas Oberberg auf den Weihnachtsmärkten in Wiehl und Bielstein verkauft hatte, konnte zudem ein Radiator gekauft werden, berichtet Butulay.

Dienstag, 13. Dezember

Dr. Vitaliy P.

Auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, dem Gummersbacher Krankenhaus, musste sich Igor Prudkov am Dienstagmorgen gedulden. Wegen eines Verkehrsunfalls auf der Westtangente war die Straße kurzzeitig gesperrt worden. Als Prudkov beim anschließend etwas später stattfindenden Videotelefonat mit seinem ukrainischen Freund Dr. Vitaliy P. davon erzählt, lächelt dieser müde. „Ich habe schon lange nicht mehr im Stau gestanden“, sagt der Gefäßchirurg, der in einer Klinik in Charkiw arbeitet. Dabei seien in der Millionenstadt Staus im Berufsverkehr häufig vorgekommen. Doch seit Kriegsbeginn ist auf den kaputten Straßen wenig los.

Ebenso ruhig sei auch die vergangene Woche gewesen, erzählt P. weiter. Eine Woche lang habe es in Charkiw keine Raketenbeschüsse oder anderweitige Angriffe gegeben. Der Strom sei lediglich kontrolliert ausgefallen, um weiterhin Reparaturen an den kaputten Leitungen durchführen zu können. Doch nicht überall war es so ruhig. In anderen Ortschaften nahe Charkiw sei die Lage unverändert. Auf dem Weg zu einem Hausbesuch bei einem seiner Patienten habe er Schlimmes gesehen, berichtet P. von einer Fahrt durch Trümmer an der Grenze zu Russland.

Anblick der zerstörten Orte an der russischen Grenze erschüttert

„Ich war sehr lange nicht mehr in dieser Gegend und der Anblick hat mich sehr erschrocken“, erzählt P. seinem Gummersbacher Freund. So gut wie kein Haus stehe mehr in den Ortschaften an der russischen Grenze. „Es sieht dort aus wie in einem Computerspiel, wie eine Kraterlandschaft“, berichtet der Gefäßchirurg. Die zwei oder höchstens drei Häuser, die noch stehen geblieben sind und deren Fenster nicht vollständig zerstört wurden, seien wieder an das Heizungsnetz angeschlossen worden. Wie es für die Bewohner sein muss, in einem vollkommen zerstörten Ort zu leben, in dem fast nichts mehr steht, vermögen auch P. und Prudkov sich nicht vorzustellen.  

Dass er einen Patienten zu Hause besucht habe, liegt nicht daran, dass der Arzt, der im Krankenhaus arbeitet, nun auch Hausbesuche macht, sondern daran, dass es sich dabei um einen Bekannten handelte. „Aber es gibt auch Institutionen und Hausärzte, die solche Hausbesuche bei Patienten machen“, berichtet P. am Telefon. Auch spezielle Volunteers seien im Einsatz, um vor allem ältere Menschen, die sich nicht mehr selbst versorgen können, mit Lebensmittel und Getränken zu versorgen. Pflegepersonal sorge für regelmäßige Verbandswechsel. „Es gibt außerdem auch Chirurgen, die auf Abruf bereitstehen, um sich Patienten mit schweren Verletzungen anzuschauen.“ 

Weihnachten wird in der Ukraine erst seit einigen Jahren gefeiert

Er selber kümmere sich in der Klinik, in der er in Charkiw arbeitet, vermehrt um Patienten aus Altenheimen, die nun eingeliefert werden. Möglich sei diese Versorgung, die für die Patienten kostenlos ist, nur dank der finanziellen Unterstützung unter anderem durch das Klinikum Oberberg, sagt P. sehr dankbar.

Derweil habe er mit seiner Familien schon erste Vorbereitungen für das Silvester- und Neujahrsfest getroffen, berichtet P. weiter. Auch Weihnachten wolle er mit der Familie verbringen, das kirchliche Weihnachtsfest werde in der Ukraine am 24. und 15. Dezember aber erst seit einigen Jahren gefeiert und habe nicht so eine große Tradition wie in Deutschland, berichtet der Gefäßchirurg. „Und ich bereite mich schon mal auf die große Feier vor, wenn wir das Kriegsende feiern werden, und habe schon Ausflüge geplant für die Zeit nach dem Krieg“, fügt er an.

Igor Prudkov

Weil die orthodoxe Kirche einen anderen Kalender verwendet als die katholische Kirche, feiern die Menschen in der Ukraine Weihnachten erst am 7. Januar, erklärt Igor Prudkov die Tradition aus seiner Heimat. Diese Tradition stamme noch aus der Zeit, in der die Ukraine in Abhängigkeit zur Sowjetunion stand. Doch mittlerweile habe man sich an die kirchliche Tradition angepasst. Vor allem Katholiken feiern in der Ukraine nun auch am 25. Dezember Weihnachten. Das Neujahresfest habe allerdings eine viel größere Bedeutung, erläutert Prudkov weiter.

Was Igor Prudkov an diesem Dienstagmorgen ganz besonders auffällt: „Vitaliy ist heute gut gelaunt“, teilt er seine Beobachtungen mit. Bei dem Videotelefonat müssen die beiden Freunde immer wieder lachen und die Stimmung ist in einer Woche ohne Angriffe in Charkiw irgendwie gelöst. Auch zu kleinen Scherzen ist P. aufgelegt. Das sein nicht immer so gewesen, meint Prudkov und erinnert sich an Videotelefonate, in denen ihm ein müder Freund in die Augen geblickt hatte, der monatelang im Krankenhaus schlief und seine Familie kaum sah. 

Er bewundere nicht nur P., sondern auch seine weiteren Freunde, die noch in der Ukraine leben und von denen viele im medizinischen Bereich tätig sind. „Sie leisten alle sehr wichtige Arbeit vor Ort. Vor diesem Einsatz habe ich großen Respekt“, sagt der Psychiater, der ebenso wichtige Hilfe von Gummersbach aus leistet. Derzeit wartet Prudkov weiterhin auf die Zusage, dass ein Krankenwagen in die Ukraine geschickt werden kann. „Und vielleicht können wir in dem Wagen auch noch ein paar Stromgeneratoren mit auf den Weg schicken“, sagt er hoffnungsvoll.

Mittwoch, 7. Dezember

Dr. Vitaliy P.

70 russische Raketen innerhalb von 30 Minuten seien am 5. Dezember in Richtung der Ukraine abgeschossen worden. 61 von ihnen konnten dank vorhandener Luftabwehrsysteme abgewehrt werden, berichtet Dr. Vitaliy P. seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov und ergänzt: „Das haben wir nicht alleine, sondern zusammen mit den anderen Ländern, die uns diese Abwehrsysteme geschickt haben, geschafft.“ Und dennoch fielen neun Raketen auf die Ukraine, unter anderem auf Odessa und auf Kiew.

Und auch in Charkiw habe es in dieser Woche Stromausfälle gegeben, allerdings planmäßige, die das Stromnetz schonen und Reparaturen ermöglichen sollen. „Diese Ausfälle werden in den jeweiligen Stadtvierteln mit genauen Uhrzeiten angekündigt. Die Menschen können sich also darauf vorbereiten. Sie können Akkus vorher aufladen und Wasservorräte beiseite stellen“, erzählt P. weiter.

Öffentliche Gebäude in der Ukraine stehen im Fokus russischer Truppen

Am Mittwochnachmittag hat der Gefäßchirurg, der in einer Klinik in Charkiw arbeitet, schon zwei Operationen hinter sich. Die dritte OP steht kurz bevor. Es seien wieder mehr Patienten in der Klinik als vor einigen Wochen. Dennoch sei die Zurückhaltung der Menschen, in ein Krankenhaus zu gehen, um sich behandeln zu lassen, weiterhin spürbar, berichtet P. im Videotelefonat mit Igor Prudkov.

Denn öffentliche Gebäude stehen nach wie vor im Fokus der russischen Truppen und werden neben den Energieversorgungsstationen besonders häufig von Raketen getroffen. Die Patienten, die P. und seine Kollegen in der Klinik in Charkiw derzeit behandeln, seien besonders schwer verletzt, berichtet der Gefäßchirurg. „Bei vielen ist die Behandlung mehr als notwendig. Amputationen und bleibende Schäden sind nicht mehr zu verhindern“, schildert P. die Schwere der Verletzungen seiner Patienten. 

Viele ukrainische Patienten gehen erst schwer verletzt in ein Krankenhaus

Dass viele erst so spät in ein Krankenhaus gehen, liege nicht nur an der Angst vor Beschüssen, sondern auch an den verlangsamten Ketten in der medizinischen Versorgung. Viele Hausarztpraxen in der Ukraine seien zerstört und die Wege, in ein Krankenhaus zu kommen, länger als zuvor. Hinzu komme, dass viele kein Auto mehr haben und Krankenwagen nicht mehr permanent verfügbar sind, führt P. aus. 

60 Prozent der Einwohner der Millionenstadt seien laut P. noch in Charkiw, 40 Prozent hätten die Stadt dagegen längst verlassen und seien vor dem Krieg in die Nachbarländer geflohen, weiß der Arzt. Und dennoch seien viele Kliniken überlastet. Denn sie nehmen auch Patienten über die eigene Stadt hinaus aus den zerstörten Nachbarregionen auf.

Ukrainischer Präsident Selenskyj besucht militärisches Hospital

Ein militärisches Krankenhaus besuchte in dieser Woche der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. „Davon habe ich auch erst im Nachhinein erfahren. Das wurde bis zum Besuch geheim gehalten, denn das Krankenhaus liegt nur 50 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Wäre das vorab bekannt geworden, hätte es sicher russische Angriffe gegeben“, sagt P. und ergänzt: „Selbst für die Patienten in dem Krankenhaus war das eine Überraschung, dass plötzlich ihr Präsident vor ihnen stand.“ 

Er bewundere den Mut von Selenskyj, dass dieser sich so nah an die Frontlinie herantraue und keine Angst zeige. Und er schätze die Dankbarkeit, die Selenskyj den verletzten Soldaten durch seinen Krankenbesuch zeige. „Sie haben als Dankeschön für ihren militärischen Einsatz eine Medaille erhalten“, berichtet P. weiter.

Auf dem jüngsten Erfolg der Luftabwehrraketen möchte sich P. aber nicht ausruhen. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Beschuss kommt“, weiß der Gefäßchirurg und meint: „Vor allem an den Weihnachtstagen rechnen wir damit.“ Deshalb sei die Ukraine weiterhin auf die Unterstützung in Form dieser Systeme angewiesen, betont er. 

Igor Prudkov

„Irgendwann muss die russische Bevölkerung doch mal begreifen, wie viel Geld durch die Angriffe einfach in den Wind geschossen werden. Und das für nichts“, meint sich Igor Prudkov, während er mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. telefoniert und die beiden genau über diesen Punkt sprechen.  „Die 70 Raketen, die am 5. Dezember abgeschossen wurden, haben alleine eine halbe Milliarde Dollar gekostet“, meint Prudkov. 

Währenddessen hätten viele Russen in ihrer Heimat selbst nicht genügend finanzielle Mittel, um ein unbeschwertes Leben führen zu können, weiß Prudkov. Darüber hinaus habe Russland schon jetzt einen Teil seiner Reserve verschossen, die eigentlich ausschließlich für den Fall eines Weltkrieges zur Verfügung stehen. 

Wichtige Hilfe für die Ukraine aus Gummersbach

Ob er seit Kriegsbeginn schon einmal darüber nachgedacht habe, in seine ukrainische Heimat zu fahren? „Ich werde hier gebraucht. Ich helfe hier mehr als dort“, sagt Prudkov, der am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet und in Zusammenarbeit mit dem Klinikum Oberberg schon zahlreiche Hilfstransporte mit benötigten Medikamenten und medizinischen Gerätschaften nach Charkiw organisiert hat.

Auch für die Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, und im Oberbergischen angekommen sind, ist Prudkov ein wichtiger Ansprechpartner und auch Übersetzer. Viele seiner Freunde seien ebenfalls längst nach Deutschland gekommen, berichtet er weiter. 

Nächste Hilfsaktion aus Oberberg für die Ukraine ist in der Überlegung

Derzeit überlege er, einen Krankenwagen für einen Kollegen in Donezk, nahe der Frontlinie, zu organisieren. „Er arbeitet in einem Sanitätsbataillon als Arzt. An der Front werden Verletzte zunächst mit einem Militärfahrzeug zu einem relativ sicheren Platz gebracht. Und von dort aus werden sie dann mit einem Krankenwagen in eine Klinik gebracht. Das Lebensalter der Krankenwagen ist allerdings nicht sehr hoch, denn sie werden sehr oft beschossen“, berichtet er. 

Ob schon bald ein Krankenwagen aus dem Oberbergischen in der Ukraine im Einsatz sein wird, sei noch nicht sicher. „Mein Konto mit den Geldern für Hilfsmittel ist zurzeit leider ziemlich leer“, berichtet Igor Prudkov. 

Donnerstag, 1. Dezember

Dr. Vitaliy P.

In Weihnachtsstimmung sei in Charkiw derzeit noch niemand, berichtet Dr. Vitaliy P. seinem Freund Igor Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet. Am Donnerstag telefonieren die beiden per Videotelefonat und können sich zumindest über den Handybildschirm kurz in die Augen schauen. Einen Weihnachtsbaum werde es, zumindest im öffentlichen Raum, dieses Jahr in Charkiw wohl nicht geben. Und auch die städtischen Weihnachtsfeiern habe der Bürgermeister der ukrainischen Millionenstadt längst abgesagt, berichtet P. am Telefon. Zum Feiern sei ohnehin den Wenigsten zumute.

Der ukrainische Gefäßchirurg, der in einer Klinik in Charkiw arbeitet, berichtet von schweren zwei Wochen, die hinter ihm liegen. Grund dafür seien die zunehmenden Ausfälle jeglicher Energiequellen. Nicht nur der Strom sei nun täglich über viele Stunden weg, auch die Heizung falle dann zeitgleich aus, Wasser oder Telefonnetz gebe es ebenfalls stundenlang nicht. Die U-Bahnen bleiben stehen.

Besonders schlimm war die Situation in Charkiw am 23. November

Besonders schlimm sei es am 23. November gewesen. 24 Stunden sei alles ausgefallen. „Das war der längste Ausfall bisher“, berichtet P. am Telefon. Dem Stromausfall vorausgegangen waren erneute Raketenbeschüsse, die auch Charkiw trafen. Zumindest der wichtigste Teil der Arbeiten in der Klinik in Charkiw kann dank Notstromaggregat und genügend Diesel, um dieses anzutreiben, aufrechterhalten werden.

In Betrieb seien dann aber nur drei von insgesamt sieben Operationssälen sowie der Reanimationssaal, erzählt P. von den zunehmenden Herausforderungen für ihn und seine Kollegen. Die Verständigung muss in der Klinik in diesen Zeiten auf Zuruf funktionieren. Denn ohne Netz sind auch die Telefone tot. Auch von außen kann kein Rettungsdienst mehr gerufen werden. 

Noch nie war die Energie in Charkiw so lange weg wie am 23. November

24-Stunden-Ausfälle habe es danach zwar nicht noch einmal gegeben, doch erst vorgestern sei die Zeit ohne Energie wieder sehr lange gewesen. „Wir hatten von 7 bis 15 Uhr keinen Strom. Dann war er bis 17 Uhr wieder da. Und anschließend bis 23 Uhr wieder weg“, erzählt P. weiter. Die zwei Stunden, in denen der Strom da gewesen sei, habe man hauptsächlich dafür genutzt, um Handys oder weitere wichtige elektronische Geräte aufzuladen.

Was vielen in der Ukraine zudem Angst mache, seien die vier Atomkraftwerke, die von den Stromausfällen ebenfalls massiv betroffen seien, berichtet P. ernst. „Sie benötigen Strom, um am Laufen zu bleiben. Bei einem Ausfall müssen die Kraftwerke notfallmäßig heruntergefahren werden. Und bis sie danach wieder in den Normalzustand kommen, dauert es“, erklärt er.

Sichere Notunterkünfte für Menschen in allen Stadtbezirken Charkiws

Für ältere Menschen oder diejenigen, die von den Stromausfällen ganz besonders betroffen sind, habe die Stadt Notunterkünfte eingerichtet. Diese befinden sich laut P. meist in bombensicheren Kellern. Dort stehe dann auch ein Notstromaggregat zur Verfügung sowie Wasser und möglichst heiße Getränke. Auch Handys können dort aufgeladen werden, damit sich weiterhin über die Lage und mögliche Raketenwarnungen informiert werden kann. „In Charkiw gibt es außerdem viele Mehrfamilienhäusern mit Aufzügen. In diesen steht nun auch immer Wasser, falls Menschen bei einem Stromausfall über mehrere Stunden darin stecken bleiben“, berichtet der Gefäßchirurg.  

Ein Gutes hätten die langen Ausfälle gehabt, fügt Dr. Vitaliy P. sarkastisch hinzu: „Da im Krankenhaus dadurch weniger Arbeit möglich ist, habe ich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn neun Stunden am Stück geschlafen.“ Und auch mehr Zeit für die Familie und den Austausch mit seinen beiden Söhnen habe er zurzeit. Weniger Zeit habe er dagegen für die Vorbereitung eines Vortrages für ein Symposium mit weiteren Gefäßchirurgen, fügt er gleichzeitig hinzu.

Kleinere Weihnachtsaktionen für Kinder in der Ukraine geplant

Ob er mit seiner Familie Weihnachten feiern wolle? „Das steht noch nicht fest und wir haben auch noch nicht richtig darüber gesprochen“, antwortet P. auf die Frage. Früher seien die Vorbereitungen auf Weihnachten bereits Ende November gestartet, nun sei davon überhaupt nichts zu spüren. Für Kinder soll es jedoch kleinere Aktionen geben, beispielsweise Weihnachtsbäume und Geschenke in U-Bahnstationen, weiß P., denn die Kinder sollen unter dem Krieg nicht leiden und dennoch ein wenig Freude erfahren.

„Heute feiern wir übrigens noch aus einem anderen Grund, denn heute vor 31 Jahren haben sich 90,3 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer dazu entschlossen, sich unabhängig von der Sowjetunion zu machen“, berichtet P. an diesem 1. Dezember 2022. 

Igor Prudkov

Ist es nicht absurd, inmitten des Krieges Weihnachten und andere Feste zu feiern? Oder ist das gerade wichtig für das Wohlbefinden der Menschen in Charkiw und in der restlichen Ukraine? „Ich finde das keineswegs absurd. Wir leben in diesen Kriegszeiten. Bekannte von mir haben vier Monate in einer U-Bahnstation gelebt. Das ist Wirklichkeit“, antwortet Igor Prudkov, der als Psychiater täglich mit dem Inneren der Menschen zu tun hat. 

Es sei wichtig, besonders für die Kinder, zumindest ein wenig Weihnachten stattfinden zu lassen. „Auch hier in Deutschland veranstalten wir viele Aktionen extra für Kinder. Das ist in der Ukraine genauso wichtig, vor allem in Zeiten wie diesen“, betont Prudkov. Statt auf Weihnachten schaut Prudkov schon jetzt auf den 31. Dezember. „Die Neujahrsfeiern sind eigentlich die größeren Feiern in der Ukraine“, erklärt er. Dann rechne er eher damit, dass die Familien zusammenkommen, um gemeinsam auf ein hoffentlich kriegsfreies Jahr  2023 anzustoßen – „wenn Russland am 30. Dezember nicht wieder bombardiert hat und die Menschen nicht im Dunkeln sitzen“, fügt er nachdenklich hinzu. 

Abschließend möchte Igor Prudkov noch einmal um Spenden für die Menschen in seiner Heimat Charkiw aufrufen. „Es werden Spendengelder nicht nur für Medikamente benötigt, sondern nun vor allem für die Anschaffung von Generatoren“, sagt er. Spendengelder können auf das Bankkonto des Klinikums Oberberg unter dem Stichwort „Ukraine-Hilfe“ überwiesen werden. Das Klinikum Oberberg steht in engem Kontakt zur Klinik in Charkiw und hat bereits mehrfach Hilfsmittel dorthin geschickt.

klinikum-oberberg.de

Mittwoch, 16. November

Dr. Vitaliy P.

Von dem Einschlag in Polen habe er zunächst gar nichts mitbekommen. Erst um 2 Uhr nachts habe er davon erfahren, als die Netzverbindung und das Internet endlich wieder da waren, berichtet Dr. Vitaliy P. seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov am Telefon. Denn in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw, in der P. als Gefäßchirurg an einer Klinik arbeitet, fielen auch in dieser Woche wieder zahlreiche Raketen.

Er sei gerade mitten in einer Operation gewesen, als zwei schwere Bombeneinschläge Charkiw trafen und für einen langen Stromausfall in der Stadt sorgten. Glücklicherweise sei direkt der Notstromgenerator der Klinik angesprungen, sodass er seine Arbeit im Operationssaal fortsetzen konnte, berichtet P. weiter. Denn das Krankenhaus in Charkiw ist längst auf die ständig ausfallender Energiequellen in Folge der Beschüsse durch die russischen Truppen vorbereitet. Auch Wasserreservoire für Trinkwasser stehen bereit, für den Fall, dass Leitungen zerstört werden.

So war es auch in dieser Woche. Zehn Stunden waren Strom, Wasser und Handynetz weg, berichtet der Gefäßchirurg aus Charkiw. Dank dem erneut großen Einsatz der städtischen Arbeiter kamen die Energiequellen trotz großem Schaden auch dieses Mal verhältnismäßig schnell zurück. Die ausfallende Heizung mache bei den derzeit moderaten Temperaturen noch nicht zu schaffen.

Frau und Söhne sind die Ersten, die nach Einschlägen kontaktiert werden

Doch P. betont:  „Im strengen Winter wird das natürlich anders aussehen.“ Nach jedem Einschlag seien seine Frau und seine Söhne die Ersten, die P. anruft, um sich nach deren Befinden zu erkundigen – vorausgesetzt das Handynetz ist vorhanden. Genaue Angaben, wo die Raketen eingeschlagen sind, werden nicht gemacht.

Die jüngsten Geschehnisse in Polen könne er deshalb auch noch nicht einschätzen. Denn Zeit, um die Nachrichten zu sortieren, blieb dem Arzt in seinem arbeitsintensiven Alltag bislang nicht. Und an Spekulationen über das, was an der Grenze passiert sein könnte, möchte sich P. nicht beteiligen. An diesem Morgen freut sich der Gefäßchirurg stattdessen über den Besuch von Stanislav Drokin. Der ukrainische Künstler erschafft aus Trümmerteilen der Raketen Schmuckstücke, um an die vielen Kriegsopfer zu erinnern. Auch P. besitzt eine Brosche des Künstlers.

Stanislav Drokin

Stanislav Drokin ist in der Ukraine längst kein Unbekannter mehr. Als Künstler habe er sich schon vor Kriegsbeginn einen Namen gemacht, berichtet er am Telefon. Als Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen habe, habe er sich in einer Klinik in Charkiw, wo Drokin mit seiner Frau lebt, als freiwilliger Helfer gemeldet. In einem Lager habe er Medikamente sortiert und für Lieferungen vorbereitet, berichtet er.

Als sich die Lage nach einigen Monaten etwas entspannte, begann er sich neben seiner Arbeit in der Klinik, wieder der Kunst zuzuwenden. Mit seiner Frau war er zwischenzeitlich in ein Künstleratelier gezogen, wo er noch immer wohnt. Denn an seinem ursprünglichen Wohnort, der dauerhaft unter Beschuss stand, sei es zu gefährlich gewesen, erzählt er.

Schmuckstücke sollen an die vielen ukrainischen Kriegsopfer erinnern

„Anfang Mai habe ich mir die Frage gestellt, was ich als Künstler im Krieg machen kann. Und dann hatte ich die Idee, etwas aus den Überresten der Raketen zu erschaffen“, erzählt Drokin. Aus den Trümmerteilen erschafft er Schmuckstücke und Broschen. Diese verziert er mit Titan und Bronze und lässt aus den Kriegswaffen Blumen entstehen. Allerdings nicht irgendwelche, sondern ganz spezielle.

„Ich mache Vergissmeinnicht, als Symbol für die vielen Kriegsopfer und dass diese nie vergessen werden“, erzählt er. Für jeden Kriegstag möchte er ein Schmuckstück anfertigen, hat er sich als Ziel gesetzt. Pro Woche schaffe er derzeit fünf bis sieben Schmuckstücke herzustellen. Rund 70 hat er bislang insgesamt erschaffen. Diese verteilt er an all diejenigen, die im Krieg wichtige Hilfe leisten: „Ärzte, Straßenbauer, Elektriker, Sanitäter“, zählt er nur einige auf.

Für seine künstlerische Arbeit inmitten des Krieges erhielt Stanislav Drokin kürzlich eine ganz besondere Anerkennung. Im berühmten Auktionshaus Sotheby’s durfte Drokin, der in Idar-Oberstein studiert hat und eine Zeit lang auch in Deutschland als Juwelier arbeitete, mit weiteren Juwelieren aus seiner Heimat sowie aus England Schmuckstücke vorstellen. Eine seiner Broschen mit einem geschätzten Wert von zwei bis drei Schweizer Franken wurde schließlich für stolze 12.600 Franken versteigert. Das Geld hat Drokin dem Rehabilitationszentrum in Charkiw zugutekommen lassen.

Igor Prudkov

Im Gegensatz zu seinem Freund Dr. Vitaliy P. erfuhr Igor Prudkov sofort aus den Nachrichten von den Vorkommnissen in Polen an der ukrainischen Grenze. Der Psychiater, der am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, weiß auch über die vielen Spekulationen, die derzeit im Internet kursieren. Sind zwei russische Raketen in Polen eingeschlagen? Waren es eine russische Rakete und eine Abwehrrakete der Ukrainer? Oder war es nur eine ukrainische Abwehrrakete?

„Man muss abwarten, was nun ermittelt wird, bevor man vorschnelle Schlüsse zieht“, betont er. Er sei jedoch sicher, dass Russland nicht gezielt auf Polen geschossen habe. Aber so oder so: „Alle möglichen Varianten sprechen dennoch gegen Russland. Denn ohne den Krieg Russlands, würde all das nicht passieren“, betont er.

Was Prudkov in diesen Tagen nicht verstehen kann ist, dass erst jetzt, wo Raketen auf polnischem Boden eingeschlagen sind, der Luftraum dicht gemacht werden soll. „Warum wurde das nicht schon früher gemacht? Worin besteht jetzt der Unterschied?“, fragt er.

Mittwoch, 9. November

Dr. Vitaliy P.

Die Bombardierungen in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw bleiben. Vor allem gezielte Raketenbeschüsse zur Zerstörung der Infrastruktur und Energieversorgung gehören dort zum Alltag. Zerstört worden seien zuletzt vor allem Unternehmen, die sich mit Elektrik befassen, darunter eine Firma, die Ladesäulen für E-Autos herstelle, berichtet Dr. Vitaliy P., der als Gefäßchirurg an einer Klinik in Charkiw arbeitet. Doch auch private Mehrfamilienhäuser würden nach wie vor von Raketen getroffen. 

Im Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund, dem Psychiater Igor Prudkov, berichtet er am Mittwochmorgen von den vergangenen zwei Wochen. Da viele Stromleitungen durch die ständigen Beschüsse beschädigt seien und nicht voll belastet werden können, müsse der Strom derzeit täglich für drei bis fünf Stunden in der gesamten Region abgeschaltet werden, erzählt er.

Medizinische Versorgung ist weiterhin gewährleistet

Das gelte jedoch nicht für die Klinik, in der er arbeitet, denn die medizinische Versorgung der Patienten soll nach wie vor gewährleistet werden. Auch medizinische Geräte laufen für Untersuchungen weiterhin. „MRT oder CT-Geräte sind jedoch auf eine bestimmte Stromleistung angewiesen. Wenn diese Leistung nicht vorhanden ist, dann funktionieren auch die Geräte nicht“, erklärt P. die Einschränkungen in seinem Arbeitsalltag. Von der Klinikleitung seien die Mitarbeitenden zudem gebeten worden, Wasserkocher und Kaffeemaschinen möglichst nicht einzuschalten, um Strom zu sparen. 

U-Bahnen würden manchmal mitten am Tag einfach stehen bleiben, wenn der Strom abgeschaltet werde, berichtet P. weiter. Hintergrund dieser Maßnahme sei, die Leitungen, solange bis sie vollständig repariert wurden, nicht zu überfordern. Auch ihn selbst habe diese Sparmaßnahme kürzlich vor eine Herausforderung gestellt. P. erzählt: „Als ich in einer Werkstatt das Rad von meinem Auto wechseln wollte, war das nicht möglich, da es auch dort keinen Strom gab.“

Heizungen wurden nach Charkiw geliefert

Doch auch eine gute Nachricht kann P. in dieser Woche verkünden. „Es wurden Heizungen geliefert, die alle Haushalte bekommen haben, die nicht zerstört wurden. Auch unser Krankenhaus hat eine Heizung bekommen.“ Außerdem seien mit städtischer Hilfe die Fenster der Klinik ausgetauscht worden, die seit April kaputt waren. Das alles gebe zwar Aufwind, „aber die Angst, dass bald alles wieder zerstört ist, ist groß“, gibt P. zu bedenken. 

Was die Menschen in seiner Stadt am meisten brauchen, um den kalten Winter unter Beschuss der russischen Truppen zu überstehen, wird Dr. Vitaliy P. gefragt. „Luftabwehrsysteme“, lautet seine einfache Antwort. Dass Generatoren, Leitungen und Rohre zur Reparatur der zerstörten Infrastruktur benötigt werden, sei laut P. völlig unbestritten, aber: „Was nutzt es uns, wenn wir Generatoren oder Heizungen bekommen, die direkt wieder zerstört werden?“, fragt er.

Für große Freude sorgte bei dem Gefäßchirurgen aus Charkiw in der vergangenen Woche dagegen die Ankunft des neuen Gefäßultraschallgerätes, das dank Spendengelder der Kreissparkasse Köln an das Klinikum Oberberg angeschafft werden konnte und nun seinen Weg nach Charkiw gefunden hat. „Darüber freue ich mich riesig“, sagt P. und kann seine Begeisterung nicht verbergen. 

Es fühle sich an, als ob er von einem Ford auf einen Mercedes umgestiegen sei, meint er und lacht. Allein die zahlreichen Möglichkeiten des Gerätes bewundere er sehr und müsse sich viele Funktionen erst noch aneignen. Im Klinikalltag sein das Gerät schon jetzt täglich im Einsatz und nicht mehr wegzudenken. „Hergeben würde ich das nur im Tausch für Luftabwehrsysteme“, meint P. und lacht.

Igor Prudkov

Über den geglückten Transport des Gefäßultraschallgerätes und weiterer Medikamente, die in ein anderes Krankenhaus zu einem weiteren Freund geliefert wurden, freut sich in diesen Tagen auch Igor Prudkov. Er arbeitet am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater und ist mit Dr. Vitaliy P. seit Studienzeiten befreundet ist. Den Transport hatte er mit auf den Weg gebracht und kürzlich gebangt, als der Lieferwagen unterwegs mit einer Panne hängen geblieben war. 

Am Ende klappte aber doch noch alles reibungslos und Prudkov zeigt die Fotos auf seinem Handy, die P. ihm aus Charkiw geschickt hat. Sie zeigen ihn mit dem neuen Gerät im Einsatz, als er gerade das Bein eines seiner Patienten untersucht.

Wiederaufbau der ukrainischen Städte wird Jahre dauern

Was die Hilfsgüter für die Ukrainerinnen und Ukrainer angeht, ist sich Igor Prudov mit seinem Freund in Charkiw einig. Ohne Raketenabwehrsysteme bringe all die Hilfe nur wenig. „Dann haben wir neuen Generatoren und einen Tag später fällt eine Rakete vom Himmel und der Generator ist kaputt“, sagt er. Mit Sorge schaut er zudem in Richtung Iran. „Wenn deren Waffen zum Einsatz kommen, haben wir noch größere Probleme, als wir sowieso schon haben“, betont Prudkov.

Aus den Medien hat der Psychiater zudem entnommen, dass Experten sich in anderen Städten der Ukraine bereits ein Bild von den zahlreichen Fallschirmminen gemacht hätten, die nun überall liegen. „Es kann bis zu zehn Jahre dauern, bis diese alle entschärft sind“, sagt er.

Dienstag, 25. Oktober

Dr. Vitaliy P.

„Sonntag war der erste Tag seit langer Zeit, an dem keine Sirenen zu hören waren“, berichtet Dr. Vitaliy P. gleich zu Beginn des Videotelefonats am Dienstagmorgen mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov. Das sei sehr ungewohnt gewesen, denn täglicher Alarm gehöre in Charkiw, wo P. als Gefäßchirurg und Chefarzt an einem Krankenhaus arbeitet, längst zum Alltag.

Auch der Strom sei in der vergangenen Woche in Charkiw nicht ausgefallen. Das liege laut P. nicht nur daran, dass es in der ukrainischen Millionenstadt seit zwei Tagen keine erneuten Beschüsse gegeben habe, sondern auch daran, dass die Einwohner sich so sparsam beim Energieverbrauch verhalten hätten, dass laut dem Bürgermeister der Stadt rund 20 Prozent des Stromverbrauchs eingespart werden konnte. In anderen Regionen sei die Lage dagegen unverändert kritisch, weiß P.

Eine gute Nachricht sei außerdem der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gewesen, betont P. du erzählt: „Es gibt da dieses Foto aus dem Zug, mit dem er angereist ist. Auf dem Tisch standen Blumen, die bei uns Iris genannt werden. Das ukrainische Wort für Luftschutzwaffen heißt auch so. Das ist also ein Zeichen“, meint P. schmunzelnd.

Neben dem Besuch des Bundespräsidenten habe ihm auch die kürzlich stattgefundene Demonstration in Berlin gegen den Krieg in der Ukraine viel bedeutet. „Diese moralische Unterstützung ist für uns genauso wichtig.“

Rund 5000 gesicherte Raketen zusammengetragen

Rund 5000 gesicherte Raketen wurden in der vergangenen Woche in Charkiw auf einem Schrottplatz zusammengetragen. Eine eigens dafür gegründete Kommission sei nun damit beschäftigt, jede Nummer der Waffen zu registrieren und deren Ursprung zurückzuverfolgen. „So kann ermittelt werden, von welcher Kriegsorganisationen sie stammt und die Kriegsverbrecher können für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden“, berichtet der Arzt.

Er spricht das aus, was vielen Ukrainerinnen und Ukrainern wichtig sei, nämlich dass die Kriegstaten nicht ohne Konsequenzen bleiben. „Die gesicherten Waffen sind natürlich nur ein Teil aller. Noch immer liegen zahlreiche ungesicherte Minen überall“, berichtet P. weiter.

Aus Waffen Schmuck entworfen

Ein bekannter ukrainischer Künstler kreiere aus den alten Waffenteilen zudem Schmuckstücke – für jeden Kriegstag eins. Auch er selbst habe eines davon geschenkt bekommen, erzählt Dr. Vitaliy P. und zeigt das Foto einer Brosche mit blauen Blumenelementen. Der Erlös aus dem Verkauf der Schmuckstücke komme der ukrainischen Armee zugute.

Über das Gerücht, die Ukraine plane den Einsatz einer Atomwaffe, schüttelt Dr. Vitaliy P. den Kopf und ist wütend. „Das ist so primitiv, dass man gar nicht darüber sprechen möchte“, sagt er nur und das Thema ist für ihn gegessen. Die Bedenken, dass Russland die Propaganda dazu nutze, um selbst Atomwaffen einzusetzen, sei aber natürlich nach wie vor groß.

Weiterhin in Kontakt mit Waleri

Und was ist aus den Patienten geworden, die Dr. Vitaliy P. zuletzt am Handybildschirm hat sprechen lassen? Zu den meisten Patienten habe er nach der Behandlung keinen Kontakt mehr, sagt er. Anders sei das jedoch bei Waleri, der kürzlich bei ihm zur Behandlung war, da sein Bein durch eine explodierte Mine verletzt worden war.

Waleri hatte sich freiwillig der militärischen Einheit Krake angeschlossen und kämpft seitdem an der Front, um seine Heimat zu verteidigen. „Ich stehe noch mit ihm in Kontakt. Er befindet sich derzeit in der Rehabilitation mit einer Kontusion als Folge einer Explosion“, berichtet der Gefäßchirurg, der sich persönlich dafür eingesetzt habe, dass Waleri nun einen passenden Kopfschutz erhalte, der an spezielle Kopfhörer angepasst sei.

Igor Prudkov

Mit Sorgenfalten auf der Stirn betritt Igor Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, an diesem Morgen den leeren Konferenzraum, wo er in Ruhe mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. telefonieren möchte. „Der Transporter, den wir am Wochenende mit dem Gefäßultraschallgerät und Medikamenten in die Ukraine geschickt haben, hat eine Panne“, berichtet er. Ein Generator sei unterwegs kaputt gegangen. Erst, wenn dieser repariert worden sei, könne der Transporter seine Fahrt fortsetzen.

Möglich war die Anschaffung eines Gefäßultraschallgerätes, das Dr. Vitaliy P. für seine Untersuchungen im Krankenhaus in Charkiw benötigt, dank einer großzügigen Spende der Kreissparkasse Köln.

Auch die Schülerinnen und Schüler der Gummersbacher Grundschule Körnerstraße hatten Spenden gesammelt, um die Hilfsangebote des Klinikums Oberberg für das Krankenhaus in der Ukraine zu unterstützen. Dadurch konnten Prudkov und seine Kollegen auch noch Medikamente auf den Weg bringen, die einem weiteren Krankenhaus direkt an der Kriegsfront zum Einsatz kommen sollen.

Unvorstellbare Situationen ohne Strom und Netz

Als unvorstellbar bezeichnet Igor Prudkov auch in dieser Woche die Situation, die ihm viele seiner Freunde aus der Ukraine schildern. Die Beschüsse der russischen Armee sorgen immer öfter dafür, dass der Strom sowie das Internet über Stunden ausfallen. „Mein bester Freund hat mir erzählt, wie schlimm die Ungewissheit ist, wenn er allein im Dunkeln sitzt, ohne Telefon oder Internet, und somit ohne Möglichkeit, sich zu informieren“, berichtet er.

Von acht Uhr morgens bis 13 Uhr habe sein Freund kürzlich in genauso einer Situation zu Hause ausharren müssen, sein einziger Trost: seine Katze, die ihm im Dunkeln Gesellschaft leistete.

Dessen Frau sei bereits nach Spanien geflüchtet, wo ihre Tochter wohnt. Dass sein bester Freund ihr nicht folgen konnte, liege daran, dass Männern aus der Ukraine die Ausreise verwehrt werde. Denn sie sollen ihre Heimat verteidigen. Zum Militär könne sein Freund aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht.

Ob man von „Glück“sprechen könne, dass er nicht in den Krieg ziehen müsse? „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es nicht schlimmer ist, alleine zu Hause zu sitzen, im Dunkeln, und nichts tun zu können. Besonders zu dieser dunklen Jahreszeit ist das sehr belastend für die Menschen in der Ukraine“, meint der Psychiater.

Elternhaus verbarrikadiert

Auf einem Foto zeigt Igor Prudkov das Haus seiner vor zwei Jahren verstorbenen Mutter. Er hat einen Freund damit beauftragt, die Fenster des Hauses mit Holzplatten zu verriegeln und ein Auge darauf zu halten.

Eines Tages werde er wieder vor Ort sei, hofft er auf ein Ende des Krieges und darauf, auch seinen Freund Dr. Vitaliy P. nicht mehr nur am Handybildschirm, sondern von Angesicht zu Angesicht wiedersehen zu können.

Dienstag, 18. Oktober

Dr. Vitaliy P.

Zum ersten Mal seit Monaten habe er auf dem Weg zur Arbeit wieder vor einer roten Ampel anhalten müssen, berichtet Dr. Vitaliy P. beim Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund und Psychiater Igor Prudkov und muss dabei schmunzeln. Der Gefäßchirurg arbeitet als Chefarzt an einer Klinik in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw und muss sich dort derzeit immer wieder auf Stromausfall einstellen.

Denn fast täglich treffen Raketen die ukrainischen Städte, meist morgens im Berufsverkehr, wie P. berichtet. Auch an diesem Dienstagmorgen hat er schon Beschüsse gehört. Acht Raketen wurden in den frühen Morgenstunden abgeschossen. Wo Menschen verletzt worden sind, weiß der Gefäßchirurg zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht.

Die Elektriker in Charkiw arbeiten schnell

Was P. und Igor Prudkov ganz besonders bewundern: Immer wieder schaffen es Elektriker, die zerstörten Stromleitungen in Charkiw innerhalb eines Tages wieder ans Laufen zu bekommen. P. betont: „Sie reparieren die Leitungen unter Lebensgefahr.“ Denn diese Schattenseite gibt es auch: Bereits 16 Elektriker seien beim Versuch, kaputte Leitungen in Charkiw wiederherzustellen, gestorben.

Diese sind häufig mit Minen übersäht, außerdem werden Punkte gezielt zweimal hintereinander beschossen – dann, wenn dort bereits Reparaturarbeiten stattfinden. Das sei in Charkiw bereits mehrere Male passiert und gelte nicht nur für die Stromleitungen, sondern auch für den Straßenbau. Zerstörte Brücken baue man dagegen bewusst nicht wieder auf, um den russischen Truppen keine leichte Verbindung in die Städte zurückzugeben.

Krankentransporte mit kleinen Schiffen

Krankentransporte mache das aber gleichzeitig schwerer. Dr. Vitaliy P. erzählt: Eine Schulkameradin von ihm arbeite als Chefärztin in einem Krankenhaus in Woltschansk. Wenn Patienten zwischen den Krankenhäusern verlegt werden müssen, werden diese zunächst mit einem Krankenwagen ans Flussufer gebracht, von dort aus mit einem kleinen Schiff über das Wasser und anschließend mit einem weiteren Krankenwagen auf der andren Uferweise weiter bis nach Charkiw transportiert.

Der ukrainische Gefäßchirurg hat bemerkt, dass viele der Menschen aus Charkiw, die zunächst vor dem Krieg aus ihrer Heimat geflüchtet waren, nun wieder zurückgekommen sind, um ihr Zuhause aufzubauen. Und sie alle sind auch nach Hause zurückgekommen, um wieder zu arbeiten.

Energiesparen ist herausfordernd

Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die ukrainische Bevölkerung zum Energiesparen aufgerufen hat, um die angegriffenen Energienetze nicht zu überlasten, begrüße er, sagt P., betont aber gleichzeitig, dass es im Kriegsalltag mit Stromausfällen oft schwer sei, noch zusätzlich Energie einzusparen.

„Ich gebe zu, ich bin da etwas nachlässig, aber meine Frau achtet darauf und schaltet abends öfter das Licht aus.“ Wäsche gewaschen werde nun nachts und auch die Heizung läuft nachts, dann, wenn generell weniger Energie verbraucht wird. Die Temperatur soll bei der Heizung auf 16 Grad heruntergeregelt werden. Gespart werden müsse vor allem in den Hochzeiten zwischen 7 und 9 Uhr morgens und zwischen 17 und 20 Uhr abends. „Zehn Prozent Energie konnten laut unserer Regierung schon eingespart werden“, berichtet P. weiter.

Corona spielt nur eine untergeordnete Rolle

Was neben der Energiesparfrage und den alltäglichen Bombardierungen derzeit nur eine untergeordnete Rolle spiele, sei die Corona-Pandemie, berichtet der Gefäßchirurg. Dafür habe man derzeit kaum einen Kopf. Im Krankenhausalltag komme er dann aber doch immer wieder mit dem Virus in Berührung. Wer Symptome habe, werde getestet, eine Corona-Welle sei jedoch nicht zu erkennen.

Eine Maskenpflicht am Krankenhaus gilt nicht, erklärt P. weiter. Wer möchte, der kann sich auch in der Ukraine mit diversen Vakzinen impfen oder boostern lassen. Dass dort jedoch auch der neue, an die Omikron-Variante angepasste Impfstoff zur Verfügung stehe, davon habe er noch nichts gehört.

Sirenenalarme prägen den Alltag

Den Alltag im Krankenhaus prägen auch die Sirenenalarme. „Mir macht das allerdings keine Angst. Ich ärgere mich eher darüber, da ich so aus meiner Arbeit herausgerissen werde“, berichtet der Gefäßchirurg, der sich wie alle anderen zwar an die Anweisungen der Regierung, schnell Schutz zu suchen, hält.

Aber er weiß: „Wenn Raketen von Belgorod abgeschossen werden, sind sie in anderthalb Minuten hier. Da kann man sich nicht mehr in Sicherheit bringen.“ Sein Handy, auf dem minütlich neue Infos zu Beschüssen und Warnungen aufblinken, lege er bewusst weg, denn das lenke ihn nur ab von seiner Arbeit im Krankenhaus.

Igor Prudkov

Acht Raketen des Typs S-300 wurden am Dienstagmorgen auf den Weg gebracht. Das hat Igor Prudkov, der als Psychiater am Krankenhaus Gummersbach arbeitet, schon vor dem Videotelefonat mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. den Eilmeldungen auf seinem Handy entnommen. Über die ukrainische App Viber, die ähnlich wie WhatsApp aufgebaut ist, folgt Prudkov einem Kanal, in dem ständig Nachrichten zu Ereignissen in der Ukraine veröffentlicht werden. Immer wieder schaut er dort nach den neuesten Entwicklungen.

Neben den nachrichtlichen Meldungen habe er in den vergangenen Tagen auch eine Chatnachricht eines guten Kumpels aus der Ukraine  erhalten. „Er hatte keinen Strom und keine Netzverbindung zu Hause und hat mir geschildert, was das für ein schlimmes Gefühl ist, so abgeschlossen von der Außenwelt zu sein und nicht zu wissen, was um einen herum passiert.“

Beklemmende Situation ohne Mobilfunknetz

Denn ohne Mobilfunknetz habe sich sein Kumpel weder informieren können, noch Kontakt zu Freunden oder der Familie aufnehmen können, erzählt Prudkov. Zwei Stunden sei das Netz weg gewesen, laut sei das Aufatmen gewesen, als es endlich wieder da war.

„Das Schlimmste ist das Gefühl, dass man nichts an der ganzen Situation ändern kann“, sagt Igor Prudkov, der mit seinen Gedanken täglich bei seinen Freunden in der Ukraine ist. Auch er habe großen Respekt vor der Arbeit der Elektriker, die genau diejenigen Netze aufrechterhalten, die für die Menschen vor Ort so wichtig sind. „Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber sie machen es gut“, sagt er mit Blick auf den Winter, der die Sorgen vieler noch größer werden lässt als sie es ohnehin schon sind.

Montag, 10. Oktober

Dr. Vitaliy P.

Die Videoverbindung hält an diesem Montagmorgen nur kurz. Immer wieder bricht das Telefongespräch, das Igor Prudkov, Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus, mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. in Charkiw führt, ab. Erst mit deaktivierter  Videofunktion wird die Verbindung stabiler. P., der in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw als Gefäßchirurg und Chefarzt einer Klinik arbeitet, sitzt an diesem Morgen in seinem Büro im Dunkeln. Denn der Strom ist in ganz Charkiw und den angrenzenden Regionen ausgefallen. Grund dafür sind erneute Raketenangriffe.

Seit dem Stromausfall laufe der Notstromgenerator in seiner Klinik, berichtet P., ergänzt aber gleichzeitig: „Er verbraucht 15 Liter Diesel pro Stunde und wir haben derzeit 200 Liter Vorräte. Etwa zehn Stunden können wir damit überbrücken. Und zwar nur für das Notwendigste.“ Das bedeutet: Strom steht nur für Not-Operationen und den Reanimationssaal zur Verfügung. Für den Betrieb der Klinik reiche das  nicht. Denn Röntgengeräte, Ultraschall und Labor funktionieren nur mit Strom. Und ob neuer Diesel geliefert wird, um wenigstens die Notfälle behandeln zu können, weiß P. nicht.

Deshalb können P. und die anderen  Ärzte des Krankenhauses in Charkiw auch kaum Patienten aus einer anderen bei den Beschüssen getroffenen medizinischen Einrichtung  der Stadt aufnehmen. „Ein paar Plätze haben wir zwar  frei, aber wenn alle Geräte nicht funktionieren, macht das keinen Sinn. Die Patienten müssen nicht nur aufgenommen werden, sondern auch eine Diagnose bekommen und behandelt werden“, erzählt  P. am Telefon.

Antwort auf Krim-Brücke

Die erneuten Angriff sieht der Gefäßchirurg als Antwort auf die Explosion auf der Krim-Brücke. „Uns war klar, dass Russland darauf reagiert. Wir waren moralisch auf Angriffe vorbereitet.“ P. hält kurz inne und schaut auf sein Handy. Während er mit Igor Prudkov spricht, hat er die Nachricht erhalten, dass 49 weitere Raketen auf dem Weg sind. Wo sie landen und explodieren werden, weiß er nicht.

Mit besorgtem Blick schaut er schon jetzt auf den Winter. Zuhause habe er alles vorbereitet, sagt er. Drei Pumpen hat P. für die Energieversorgung in seinem Haus gekauft. Sie alle werden über Strom und im Notfall über einen Generator angetrieben. Doch auch dafür wird Diesel benötigt. Von anderen wisse er, dass sie sich kleine Öfen gekauft haben. Doch die Holzpreise seien extrem teuer.

Kaputte Fenster mit Holzplatten verschlossen

Und nicht jeder in Charkiw habe das Glück, noch eine intakte Wohnung zu haben. Zahlreiche Häuser seien unbewohnbar, Mehrfamilienhäuser zum Teil zusammengefallen. „Viele der Gasleitungen sind zerstört oder haben Lecks. Das ist sehr gefährlich, denn die Gefahr, dass Gasleitungen explodieren ist groß“, schildert P. den Zustand der zerstörten Infrastruktur. Viele Menschen hätten durch die Explosionen zerborstene Fenster mit Holzplatten verschlossen.

Ob ihnen die Dunkelheit in ihrer Wohnung aufs Gemüt schlage? „Die Menschen sind froh, dass sie noch ein Dach über dem Kopf haben, da ist das fehlende Tageslicht das geringste Problem“, antwortet P. mit ernster Stimme. Wie es im Krankenhaus in Charkiw im Winter weitergehen soll, wenn der Ernstfall eintreten sollte und weiterhin gezielt Energiequellen bombardiert werden, weiß in diesen Tagen noch niemand.

Supermärkte sorgen weiterhin für Versorgung

Zumindest die Versorgung funktioniere zurzeit noch halbwegs gut. „Die Supermärkte haben sich auf Bombardierungen eingestellt und sind vorbereitet“, berichtet P. am Telefon. Auch dort laufen die Notstromgeneratoren auf Hochtouren. Mit Karte kann hier schon lange nicht mehr gezahlt werden, denn die Lesegeräte sind aus. Aber die Bargeldzahlung macht Einkäufe weiterhin möglich. Er habe die Hoffnung, dass der Strom bald wieder komme. „Schon unter Beschuss hat unser Bürgermeister damit begonnen, Reparaturen des zerstörten Fernwärmenetzes und der kaputten Leitungen in Auftrag zu geben“, erzählt der Gefäßchirurg. Der Winter werde jedoch die Unterschiede in der persönlichen Ausstattung und der Wohnverhältnisse zeigen. „Im Winter wird es ein Krieg ums Überleben sein.“

Igor Prudkov

Auch Igor Prudkov ist an diesem Montagmorgen sichtlich angespannt. Die Klinik in Charkiw, die am vergangenen Samstag teilweise von Raketen getroffen wurde, kennt er gut. „Dort habe ich mein drittes Studienjahr in der Allgemeinchirurgie verbracht“, sagt er. In den vergangenen Tagen habe er mit vielen seiner Freunde, die noch in der Ukraine leben, Kontakt gehabt. Die Lage sei ernst. „Allein in einem Stadtbezirk, wo ein Freund von mir wohnt, hat es am Samstag vier Anschläge gegeben“, erzählt er. Die Klinik, die er selbst kennt, und die in Teilen getroffen wurde, beinhalte auch eine Geburtsklinik.

Per WhatsApp habe zudem ein Freund geschildert, dass auf einer Strecke von 450 Kilometern 150 Raketen gefallen seien. Auf der gesamten Strecke sei der Strom seitdem weg. Auch Prudkov weiß, wie schlimm der Winter in der Ukraine werden kann, wenn die Energieversorgung für längere Zeit ausfällt. „Die Gasversorgung ist in Charkiw eigentlich relativ sicher, allerdings kann man keine Gasleitungen in Betrieb nehmen, die zerstört sind“, schildert auch er das Problem. Auch Vergiftungen seien durch die Lecks möglich.

Was der Psychiater aus Gummersbach nicht versteht: „Warum hat die Ukraine noch immer keine Luftabwehrsysteme, um sich gegen die Beschüsse zu wehren. Ich verstehe das einfach nicht. Warum machen wir den Himmel nicht einfach zu?“ Dass es große Organisationen gebe, zu denen sich Länder zusammengeschlossen haben, um gegen Krieg in Europa vorzugehen, und dann doch nichts passiere, wenn ein Land ein anderes angreife, das verstehe er einfach nicht, sagt Prudkov.

Gefäßultraschallgerät wird bald in die Ukraine gebracht

Gute Nachrichten gibt es jedoch in Bezug auf das bestellte Gefäßultraschallgerät, dass das Klinikum Oberberg dank großzügiger Spende der Kreissparkasse Köln, für Dr. Vitaliy P.s Arbeit in Charkiw anschaffen konnte. „Es ist mittlerweile bei uns in Gummersbach angekommen und wird sich bald auf den Weg nach Charkiw machen“, erzählt Prudkov. Ein paar Tage muss der Transport aber noch warten, denn dank einer zusätzlichen Spende der Grundschule Körnerstraße aus Gummersbach können zusätzlich Medikamente mitgeschickt werden.

Im Mai hatten die Kinder der Schule ein Schulfest mit Flohmarkt veranstaltet und das Geld aus dem Verkauf gespendet. 1100 Euro gingen an das Klinikum Oberberg für die Unterstützung des Krankenhauses in Charkiw. Denn durch die Eltern hatten die Kinder vom Einsatz des Klinikums für das ukrainische Krankenhaus gehört. Das sei eine tolle Unterstützung, sagt Prudkov dankbar.

Mittwoch, 5. Oktober:

Dr. Vitaliy P.

Dr. Vitaliy P., Gefäßchirurg und Chefarzt an einer Klinik in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw, steht vor einer nicht einfachen Operation. Sein Patient ist in dieser Woche Waleri, dessen Bein durch eine explodierte Mine verletzt wurde. Schon vor der Verletzung durch die Mine hätte Waleri längst behandelt werden müssen, denn er leidet an einer Entzündung der Beinvenen.

Doch Waleri ist kein geduldiger Patient und hat auch jetzt eigentlich gar keine Zeit für eine lange Behandlung, wie er selbst im Videotelefonat mit Dr. Vitaliy P.s Gummersbacher Freund Igor Prudkov erzählt. Denn Waleri muss zurück an die Front. Der in Charkiw aufgewachsene Familienvater hat sich zu Beginn des Krieges in seiner Heimat freiwillig den „Kraken“ angeschlossen, einer Spezialeinheit des ukrainischen Militärs, die die Stadt Charkiw verteidigt.

Waleri

Eigentlich ist Waleri Elektroingenieur. Vor Kriegsbeginn reparierte er hauptsächlich Computer und Handys. Doch als Russland seiner Heimat den Krieg erklärte, änderte sich sein Alltag schlagartig. „Für mich stand sofort fest, dass ich mich dem Militär anschließe, um meine Heimat zu verteidigen“, berichtet er im Videotelefonat aus dem Krankenhaus in Charkiw.

Er habe sich bei der freiwilligen militärischen Einheit Krake beworben. Auf einer Facebook-Seite fand er eine Kontaktmöglichkeit. Er stellte sich und seine Biografie vor und wurde zu einem Gespräch eingeladen. Eine Kalaschnikow habe er zwar schon mal in der Hand gehabt, militärische Erfahrung bis dahin aber keine gehabt, berichtet er weiter.

Ohne Erfahrungen in den Krieg gezogen

Nach einer nur kurzen Einleitung zog Waleri in den Krieg, mit 20 Jahre alten Schusswaffen aus ukrainischem Bestand, anfangs ohne viel Ersatzmunition und einer Schutzweste, die er sich selbst zugelegt habe.

Der erste Einsatz sei der schwierigste gewesen, erinnert sich der Familienvater noch gut. „Angst hatte ich keine, ich hatte mich innerlich und auch moralisch darauf vorbereitet, zu kämpfen und meine Heimat zu beschützen.“ Zunächst sei es darum gegangen, Charkiw zu verteidigen. Die Rückeroberungen der besetzten Gebiete seien erst viel später gekommen, als er längst militärische Erfahrungen gesammelt hatte.

In der ersten Reihe

Mit den anderen Freiwilligen seiner Gruppe führte Waleri die militärische Armee in  der ersten Linie an. Erst in der zweiten Linie kamen die Berufssoldaten. Ob das moralisch verwerflich sei, die Ungelernten voran zu schicken? „Nein“, meint Waleri. „Wir haben gezeigt, dass wir motiviert sind und die richtige Einstellung haben. Und wir haben bewiesen, was wir können“, sagt er und erklärt, dass die zweite Militärlinie ebenso wichtig sei.

In der Zwischenzeit hätten die russischen Soldaten bereits begonnen, sein Zuhause zu zerstören, erzählt er weiter. „Das Haus, das Auto, die Garage … alles wurde bombardiert und zerstört.“ Seine Familie sei bei den Angriffen glücklicherweise nicht verletzt worden. Sein Kind sei bei der Oma, seine Frau in der Heimat geblieben, um in seiner Nähe zu sein.

Familie in ständiger Angst

Dabei habe er seiner Familie anfangs gar nicht erzählt, dass er sich dazu entschieden hatte, in den Krieg zu ziehen. „Ich habe das für mich entschieden, mich vorbereitet und erst dann mit meiner Familie gesprochen“, berichtet Waleri. Die Sorge der Familie, dass ihm etwas passiere, sei natürlich groß. „Sie schlafen schlecht und haben Angst um mich, vor allem wenn sie immer wieder von den vielen verletzten und toten Soldaten hören.“ Wenn er mit der Armee unterwegs ist, seien tagelang keine Anrufe möglich. Die Ungewissheit setze seiner Frau zu, doch sie sei auch stolz auf ihn, dass er für seine Heimat kämpfe.

Ob er selbst Angst habe? „Nein, die habe ich nicht. Es ist das Adrenalin, das die Angst vertreibt. Ich bin mir bewusst, dass es sehr gefährlich ist. Wovor ich Angst  habe, ist, wie es für meine Familie weitergeht und wer sich um sie kümmert, falls mir etwas passieren sollte“, sagt er nachdenklich und betont nachdrücklich: „Wovor ich am meisten Angst habe, ist meine Heimat zu verlieren.“

Warten auf den nächsten Einsatz

Wie gefährlich sein Einsatz im Militär ist, habe er täglich vor Augen. Das Leid, das er bereits zu Gesicht bekommen habe, sei unvorstellbar und kaum in Worte zu fassen. Wann er in den nächsten Einsatz muss, weiß Waleri an diesem Mittwoch noch nicht. „Ich warte und bin einsatzbereit. Wenn sie mich brauchen, bin ich da.“

Dr. Vitaliy P. hofft in Charkiw derweil, dass ihm noch etwas Zeit bleibt, um seinen Patienten mit der notwendigen Operation medizinisch bestmöglich zu versorgen. Was den Gefäßchirurg diese Woche nachdenklich gemacht hat, war ein Video, das ihm aus einem ukrainischen Dorf zugeschickt wurde. Dieses zeigt das ukrainische Militär, das mit einfachen Pkw in den Krieg zieht. „Mit so einer Ausrüstung ziehen wir in den Krieg“, meint P. kopfschüttelnd und möchte eigentlich lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Igor Prudkov

Interessiert und vor allem nachdenklich folgt Igor Prudkov, der als Psychiater am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet, den Berichten des Patienten seines Freundes Dr. Vitaliy P. im Videotelefonat. Was das alles, was Waleri und die anderen Soldaten in diesen Tagen erleben müssen, für Folgen haben kann, kann der Psychiater nur ahnen.

Er weiß: „Das, was die Soldaten alles gesehen haben, haben sie jetzt noch in den Hintergrund ihres Kopfes verdrängt. Aber eines Tages, wenn es ruhiger wird, dann kommt das hoch.“ Auch jetzt hätten schon viele Menschen mit Kriegstraumata  zu kämpfen. Wie viele das betreffe, weiß Prudkov nicht. „Das betrifft ja nicht nur die Soldaten, sondern auch die Überlebenden, die Geflüchteten und diejenigen, die Verwandte verloren haben sowie die Kinder“, so der Psychiater.

Behandlung von traumatisierten Patienten

Von Kollegen der Marienheider Ambulanz wisse er, dass dort immer wieder traumatisierte Patienten behandelt werden müssen, auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Man muss über das, was man erlebt hat, sprechen. Es in sich zu tragen, ist nicht heilsam, das brennt sich in den Kopf“, findet Prudkov klare Worte, weiß aber auch, dass jeder Patient mit einem Trauma ganz anders umgeht und dieses auf seine Weise verarbeitet.

Gute Zuhörer können in diesen Fällen die Familien sein. „So ist es mit Sicherheit auch bei Waleri. Seine Frau ist in Charkiw geblieben, um ihn regelmäßig zu sehen, ihn zu unterstützen und ihm Kraft zu geben“, sagt Prudkov. Zuversicht sei es auch, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj  den Ukrainern gebe, meint Prudkov. „Er ist sehr präsent und erreicht die Menschen mit seinen Ansprachen, auch auf der emotionalen Ebene.“

Dienstag, 27. September:

Dr. Vitaliy P.

Diese Woche möchte Dr. Vitaliy P., Gefäßchirurg und Chefarzt an einer Klinik in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw, nicht selbst von den Ereignissen der vergangenen Woche berichten. Beim Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov lässt P. einen seiner Patienten erzählen, der für eine Operation in die Klinik gekommen ist.

Artjom stammt aus Isjum und hat kürzlich seinen rechten Unterfuß verloren, als er auf eine Mine trat. Nach einer ersten Operation in einem Krankenhaus in Isjum wird Dr. Vitaliy P. eine angleichende Operation vornehmen, damit Artjom eine Prothese angepasst werden kann.  

P. hört jeden Tag solche Geschichten seiner Patienten, die oftmals mit Kriegsverletzungen in seine Klinik kommen. Die Schicksale gehen auch ihm nahe. „Aber es ist wichtig, dass wir den Patienten zuhören und von ihnen erfahren, was sie erlebt haben. Denn so bekommen wir einen Einblick von dem, was derzeit in den Städtchen passiert“, betont er und schwenkt das Handy auf seinen Patienten.

Artjom

Sechs Monate lebte Artjom in seiner Heimatstadt Isjum unter russischer Besetzung. An den Tag, als diese russischen Soldaten kamen und die Stadt besetzten, erinnert sich der 37-Jähirge noch ganz genau. „Ich war vorher bei meinen Eltern zu Besuch und als ich zurück kam, bin ich parallel zu den russischen Panzern gefahren, die auf der anderen Seite des Flusses fuhren“, berichtet der 37-Jährige. Sofort seien Schüsse gefallen und diese hätten 48 Stunden lang nicht aufgehört. „Dabei wurde auch auf Zivilisten geschossen und nicht nur auf Soldaten.“

Anschließend seien die russischen Soldaten durch die Straßen gelaufen. „Sie sind von Haus zu Haus gegangen und haben alle, die schon einmal in der Armee gekämpft haben und alle pro-ukrainischen Leute abgeholt. Sie sind einfach verschwunden“, sagt der 37-Jährige. Die besten Häuser hätten sich die russischen Soldaten selbst ausgesucht und sich dort einquartiert. Alles, was sie wollten, hätten sie mitgenommen, erzählt Artjom weiter. Gefragt hätten sie nur selten.

Genügend Vorräte für die Familie

Ihn haben sie in Ruhe gelassen. „Ich war nie im Krieg, deswegen wurde ich nicht mitgenommen. Außerdem habe ich eine zehnjähriges Kind zuhause“, berichtet Artjom. Die Zeit im besetzten Zuhause sei jedoch alles andere als leicht gewesen. Drei Monate lang habe es weder Gas noch Strom in Isjum gegeben. Auch Nahrung gab es kaum. Viele seien einfach verhungert, vor allem ältere Leute, berichtet Artjom. „Einige haben einfach Weizen gekocht und gegessen, da nichts anderes da war“, erzählt der Familienvater.

Er selbst habe glücklicherweise genügend Lebensmittel im Vorrat gehabt, um seine Familie die ersten Monate zu ernähren. In seinem Garten baute er Gemüse an. Nach drei Monaten kam die humanitäre Hilfe sowohl von ukrainischer als auch von russischer Seite. Artjom berichtet: „Wir konnten uns mit Geld dann russische Produkte kaufen.“

Überall liegen Minen

Als die ukrainischen Soldaten ihre Gebiete kürzlich zurückeroberten, habe es ein Aufatmen gegeben. Doch die gesamte Stadt liege nun voller Minen, erzählt Artjom. Auch in seinem Garten wimmele es von diesen Fallschirmminen. Es war allerdings am Straßenrand, auf einem Stück Wiese, wo er eine der Minen übersah und auf diese trat. Durch die Explosion verlor der 37-Jährige seinen Unterfuß. Über eine Holzbrücke, die noch intakt war, habe seine Frau Hilfe geholt. Dank eines Chirurgen  gelangte er bis zum Flussufer und von dort aus in einen Krankenwagen. Der Chirurg und ein Anästhesist operierten den Fuß – im Licht eines Stromgenerators.

Nun ist der 37-Jährige in der Klinik in Charkiw, wo er von Dr. Vitaliy P. erneut operiert werden soll. Denn Artjom soll eine Prothese erhalten. Mit seiner Familie steht er seit seinem Krankenhausaufenthalt nur telefonisch in Kontakt. Von ihnen weiß er, dass derzeit versucht werde, den Strom zurück nach Isjum zu bringen. „Da aber überall Minen abgelegt wurden, auch an den Stromleitungen, ist das nicht leicht.“ Sechs Elektrotechniker seien bereits durch Minen, die Leitungen explodieren ließen, gestorben. Dazu komme die große Angst vor erneuten Angriffen und einer erneuten Besetzung seiner Heimat, erzählt Artjom.

Igor Prudkov

Wie für seinen Freund Dr. Vitaliy P. ist es auch für Igor Prudkov, Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus, wichtig, Menschen wie Artjom zuzuhören. „Es gibt auch ukrainische Propaganda, das ist klar. Aber vieles ist doch einfach eindeutig und real. Wir sehen doch die Gräber, die vielen Toten, die ganzen Bilder“, sagt Prudkov.

Von russischen Freunden, die sich nicht klar von Putin und dem Krieg distanzieren, habe er sich längst abgewendet. Mit ihnen zu diskutieren bringe nichts. „Da verschwende ich nur meine Zeit“, findet Prudkov  harte Worte und fragt sich so oft, warum viele der Menschen, die aus Russland stammen und in Deutschland, teils auch im Oberbergischen, aufgewachsen sind, russisches Propaganda-Fernsehen schauen. „Im Gegenteil zur russischen Bevölkerungen haben sie hier doch die Möglichkeiten, auch anderen Medien zu konsumieren. Und dann müssten sie doch sehen, was wirklich in der Ukraine passiert“, sagt er und wirkt fast etwas hilflos auf der Suche nach einer Erklärung für die Gesinnung dieser Menschen.

Wie viele andere Menschen hat auch Prudkov die von Putin angekündigte Teilmobilisierung verfolgt. „Es ist ein Schock und das klare Zeichen, dass der Krieg verlängert wird“, sagt er und ergänzt: „Putin hat angekündigt, das nur Männer, die schon einmal in der Armee gedient haben, mobilisiert werden sollen. Aber ich habe schon Bilder von Menschen im Rollstuhl gesehen, die einen Zettel bekommen haben, weil sie die russische Armee unterstützen sollen. Ich weiß nicht, was ich dann denken soll. Es sind doch längst mehr als 300.000 Männer angeschrieben worden“, ist sich Prudkov sicher.

Dienstag, 20. September:

Dr. Vitaliy P.

Woher er sich seine Kraft in diesen schweren Zeiten hole? „Meine Energiequelle sind die Eroberungen der ukrainischen Soldaten an der Front“, sagt Dr. Vitaliy P. mit einem nüchternen Lachen, ergänzt aber gleich darauf: „Und der Weg zur Normalität. Meine Vorlesungen als Professor, der Austausch mit Kollegen über Medizin und Politik und natürlich die Zeit mit meiner Familie.“

Als Gefäßchirurg und Chefarzt in einem Krankenhaus in der ukrainischen Stadt Charkiw arbeitet P. seit Kriegsbeginn Tag und Nacht. Wenn er nicht am OP-Tisch steht, ist er im Einsatz, um oftmals schwer Verletzte zu behandeln – und das alles, während vor dem Krankenhaus immer wieder neue Raketen fallen. In der vergangenen Woche sei es zumindest in Charkiw etwas ruhiger geworden, berichtet P. am Dienstag seinem Gummersbacher Freund, dem Psychiater Igor Prudkov, am Telefon.

Drei Tage ohne Beschuss

Drei Tage habe es keinen Beschuss gegeben. Von einer allgemeinen Ruhe in der Ukraine möchte P. aber keinesfalls sprechen, denn in anderen Gebieten sei die Situation unverändert, weiß er. Woher die dreitägige Ruhe in Charkiw komme? „Die russischen Soldaten schaffen es offenbar nicht mehr bis nach Charkiw vordringen. Oder ihnen sind schlicht und einfach die Raketen ausgegangen. Ich weiß es nicht“, meint P. nachdenklich.

Was auch den Gefäßchirurgen in der vergangenen Woche schockiert hat, sind die gefundenen Massengräber. Neben dem größten in Isjum gebe es auch in weiteren Städten und Dörfern kleinere Grabstellen, berichtet er. Was mit den Toten, die gefunden worden seien, passiert ist, möchte sich P. gar nicht vorstellen. Und wer überlebt habe, könne nun nicht so einfach in sein Haus zurück, berichtet der Arzt seinem Freund Igor Prudkov weiter. Denn überall in der Stadt und in den zerstörten Häusern lägen Minen. „Die Fallschirm-Minen haben sie aus der Luft abgeworfen. Sie liegen überall. Und niemand weiß, wann sie explodieren“, berichtet P. aus Charkiw.

„Dem kann man nicht mehr glauben“ 

Und dann hält Dr. Vitaliy P. kurz inne, schaut neben sich, nimmt eine Lokalzeitung in die Hand und hält diese in die Kamera seines Handys. „Was hier drin steht, dem kann man nicht mehr glauben“, betont er. Das liege jedoch keineswegs an der Inkompetenz der ukrainischen Journalisten, sondern daran, dass die russischen Soldaten auch die Zeitungsredaktionen besetzt und die Zeitungsseiten mit Propaganda-Nachrichten gefüllt hätten, sagt. P..

Woran er das erkenne? „Weil es einem sofort auffällt. Das niedrige Niveau der Texte, die ganz klaren Fehlinformationen. Jeder, der seine Gegend kennt, liest sofort, dass das nicht von unseren Journalisten geschrieben wurde, deren Texte wir sonst lesen“, antwortet er.

Symposium in der Schweiz

Zumindest für kurze Zeit dem Kriegsalltag entfliehen kann P. bald, wenn er auf ein Symposium in der Schweiz fährt. Dort wird er sich mit anderen Gefäßchirurgen über Fachliches austauschen und sicher auch über die politische Situation. Das kann er auch zu Hause, denn seine Frau ist als Physiotherapeutin ebenfalls im medizinischen Bereich tätig. „Und auch mein Sohn möchte Chirurg werden. Er macht momentan ein praktisches Jahr bei mir im Krankenhaus. Ich sehe ihn jeden Tag“, berichtet der Arzt.

Sorgen mache er sich dagegen um seinen jüngeren Sohn, der in Zeiten des Online-Studiums kaum noch soziale Kontakte pflegen könne. „Er studiert Design hier an der Uni und hat jetzt sogar die Zusage für einen Kurs an einem Institut in Amerika erhalten“, erzählt er sichtlich stolz, ergänzt aber gleich darauf: „Das alles findet nur online statt.“ Deshalb fahre er seinen Sohn am Wochenende oft für ein paar Stunden zu seinen Freunden. „Öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht mehr. Aber die Zeit nehme ich mir gerne. Denn mir ist es wichtig, dass meine Söhne mal ein paar Stunden rauskommt, um ihre Freunde zu sehen.“

Igor Prudkov

Engagiert sei sein Freund Dr. Vitaliy P. schon immer gewesen, erzählt Igor Prudkov, der als Psychiater am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet und seit Studientagen eng mit P. befreundet ist. Dass dieser sich in der Ukraine Tag und Nacht im Krankenhaus einbringe und die ersten vier Monate nach Kriegsbeginn sogar gar nicht nach Hause fuhr, wundert ihn deshalb nicht. So oft es geht, versuche er mit ihm in Kontakt zu sein, um auf dem Laufenden zu bleiben über das, was in Charkiw passiert. Und auch, um sicher zu sein, dass es seinem Freund vor Ort gut gehe.

Als Igor Prudkov am Montag seinen Geburtstag feierte, was es deshalb auch selbstverständlich, mit P. per Videotelefonat anzustoßen. „Er ist nicht nur ein guter Freund, sondern in meinen Augen auch ein sehr begabter Chirurg. Auch der Chef der Klinik in Charkiw ist ein guter Freund von Vitaliy und mir“, erzählt Prudkov weiter.

Gemeinsame Unternehmungen seien seit Kriegsbeginn jedoch nahezu unmöglich. Und auch wegen ihres Berufes haben die drei Ätzte kaum gemeinsame freie Zeit. „Wenn die beiden dann aber mal Zeit haben, dann geht es immer sehr schnell und ich muss dann sehr spontan sein“, erzählt Prudkov weiter, der ein Wochenendhaus am Wasser besitzt. Dann packe der passionierte Angler seine Sachen ein, setze sich ins Auto und treffe sich dort mit seinen Freunden. „Das kommt leider sehr selten vor, ist aber immer eine sehr wertvolle Zeit für mich.“

Eine gute Nachricht in schlimmen Zeiten 

Und wie hat Prudkov die vergangene Woche in Charkiw und der Ukraine von Gummersbach aus beobachtet? „Eine gute Nachricht gab es passend zu meinem Geburtstag“, berichtet er. Monate lang habe eine Bekannte von ihm keinen Kontakt zu ihrer Mutter gehabt, die in einer von den russischen Soldaten besetzten Stadt in der Ukraine lebt und mit über 80 Jahren nicht per Internet mit ihrer Tochter in Deutschland kommunizieren konnte.

So sei diese monatelang in Ungewissheit gewesen, ob es ihrer Mutter gut gehe oder ob diese überhaupt noch am Leben sei. Am Montag kam nach langem Bangen und vielen Tränen schließlich die gute Nachricht. Die Seniorin war wohlauf bei ihrem, ebenfalls noch in der Ukraine wohnenden Sohn angekommen. Solche Nachrichten seien sie guten in dieser sonst so schlimmen Zeit, sagt Prudkov.

Dienstag, 13. September

Dr. Vitaliy P.

Dr. Vitaliy P. hat ein Lächeln auf den Lippen, als er am Dienstagmorgen auf dem Handybildschirm seines Gummersbacher Freundes Igor Prudkov erscheint. Und das, obwohl der Gefäßchirurg, der an einem Krankenhaus in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw arbeitet, an diesem Morgen im Dunkeln sitzt. Erneut wurden zwei Elektrowerke in Charkiw von den russischen Truppen bombardiert.

Für die Einwohner von Charkiw heißt das: kein Strom und keine funktionierende Heizung, die zentral über Fernwärme gesteuert wird. U-Bahnen und Straßenbahnen fahren nicht, die Internetverbindungen haken. Immer wieder gerät während des Telefonats am Dienstag auch P.s Verbindung ins Stocken. Und auch Wasser war zeitweise keins vorhaben – weder warmes noch kaltes.

Private und berufliche Belastung

Für P. ist das nicht nur privat eine Belastung, sondern auch beruflich, denn der Chefarzt muss seine Klinik in Charkiw am Laufen halten. Ein Notstromaggregat, das mit Diesel angetrieben wird, kann über 15 Stunden lang für Strom sorgen, danach ist aber auch mit der Notlösung Schluss, denn Nachschub an Diesel hat P. derzeit nicht, berichtet er am Telefon.

Dennoch ist P. in diesen Tagen optimistisch und positiv gestimmt. Grund dafür sind die Nachrichten der vergangenen Tage. Überraschend hatten die ukrainischen Soldaten gleich mehrere Orte rund um Charkiw, die zweitgrößte Stadt in der Ukraine, zurückerobert. „Ich bin begeistert. Unsere Truppen haben viele Städte und Dörfer sehr schnell erobert“, berichtet P., betont aber gleichzeitig: „Auf der anderen Seite steht die russische Propaganda.“

Russische Propaganda verunsichert auch die Ukrainer

Die russischen Soldaten hätten den Einwohnern der Dörfer gesagt, dass die ukrainischen Soldaten auf der Suche nach Kollaborateuren seien und gekommen seien, um diese mit Haft zu bestrafen. Viele seiner Landsleute seien so verunsichert gewesen, dass sie mit den russischen Soldaten gegangen seien. Und als die Entwarnung durch zurückgebliebene Verwandte kam, wurden sie nicht mehr zurück in ihre Heimat gelassen.

Europa müsse nun überlegen, wie diese Menschen wieder zurück in die Ukraine geholt werden könnten, meint P. nachdenklich. In seiner Klinik habe er derweil 260 verletzte ukrainische Soldaten behandelt.

Das Wort „Angst“ taucht nicht auf

Befreit worden seien unterdessen neben Orten rund um Charkiw auch Ortschaften rund um die heftig umkämpfte Stadt Donezk. „Das muss teilweise sehr schwer gewesen sein, denn dort verläuft auch die Eisenbahnverbindung“, erzählt P. weiter. Auch Kupjansk und Isjum seien Orte, in denen die Russen sehr stark seien, doch auch diese beiden Städte eroberten sich die Ukrainer zurück.

Im russischen Fernsehen sei dagegen das Wort „Angst“ kein einziges Mal gefallen, ebenso nicht, dass den ukrainischen Soldaten die Gebietseroberungen gelungen seien. Von polnischen und afroamerikanischen Soldaten sowie der Nato sei anschießend im Propagandafernsehen Putins dagegen die Rede gewesen. Die Bombardierungen auf die Elektrowerke seien eine Bestrafung der Bevölkerung gewesen für den Erfolg der eigenen Truppen, ist sich P. sicher.

Besorgter Blick auf den Winter

Besorgt schaut er schon jetzt in Richtung Winter „Im November und Dezember werden die Versorgungswerke sicher im Fokus der russischen Truppen stehen. Denn dann wird uns das noch mehr schaden als jetzt, wo es noch nicht so kalt ist“, sagt P., der sich deshalb noch weitere Waffenlieferungen, insbesondere Luftabwehrsysteme, zur Verteidigung wünscht.

Dass der deutsche Bundeskanzler Scholz sich so verhalten zeige mit weiteren Waffenlieferungen, kann P. nicht so ganz erstehen. Sarkastisch fügt er hinzu: „Putin hat uns schon jetzt mehr Waffen gegeben als Scholz, dadurch, dass wir den Soldaten zuletzt so viele abgenommen haben.“

Igor Prudkov

Auch Igor Prudkov, Psychiater am Krankenhaus in Gummersbach, hat die jüngsten Ereignisse in der Ukraine in diesen Tagen mit großem Interesse verfolgt. „Wir haben viel erreicht, und das mit wenig Blutvergießen“, meint er. Aus Erzählungen seiner Landsleute vor Ort habe er gehört, dass die russischen Soldaten teilweise einfach weggelaufen seien.

„Solche Panik haben wir nicht erwartet. In der ersten Reihe ist Russland gut, aber in der zweiten und dritten Reihe kommt nichts mehr. Unsere Soldaten haben sich lange defensiv gezeigt und sind im richtigen Zeitpunkt in die Offensive gegangen“, schildert Prudkov seine Beobachtungen.

Besorgter Blick auf den kalten Winter

Mit großer Sorge schaut aber auch er auf die Versorgungslage in Charkiw und fragt sich schon jetzt: „Was kommt im Winter?“ 80 Prozent der Häuser vor Ort seien Mehrfamilienhäuser, die über eine Zentralheizung gesteuert werden. Mit zerstörten Versorgungsstationen bleibe es in den Häusern allerdings kalt.

„Für ältere und kranke Menschen kann das in den Wintermonaten den Tod bedeuten. Vor allem, wenn zusätzlich kein Wasser vorhanden ist“, befürchtet der Gummersbacher Psychiater. Auch wenn die Stromausfälle in Charkiw bislang immer nur wenige Stunden dauerten, er könne sich vorstellen, wie schlimm es für die Menschen sein müsse, im Dunkeln zu sitzen – ohne Möglichkeit, über den Fernseher oder das Internet an Neuigkeiten zu gelangen – über das, was aktuell um sie herum passiere.

Spenden ermöglichen neues Gefäßultraschallgerät

Und mal wieder kommt Igor Prudkov auch in dieser Woche beim Verhalten der deutschen Regierung ins Grübeln. Warum Bundeskanzler Olaf Scholz sich so passiv verhalte bei der Lieferung weiterer Waffen verstehe er einfach nicht, denn: zwei der drei Koalitionspartner der aktuellen Regierung hätten schließlich dafür gestimmt. „Er vertritt doch die Koalition und kann nicht einfach alleine entscheiden“, meint Prudkov verwundert. Zumindest eine klare Aussage oder Begründung für sein Verhalten würde sich der Psychiater wünschen.

Für Freude in Gummersbach und in Charkiw sorgt dagegen die Aussicht auf ein neues Gefäßultraschallgerät, das dank einer Spende der Kreissparkasse Köln in Höhe von 10.000 Euro für das Krankenhaus in Charkiw angeschafft werden kann. Die Spende, die dem Klinikum Oberberg für die Ukraine-Hilfe zur Verfügung gestellt wurde, sei eine große Hilfe für den Einsatz in Charkiw, teilt das Klinikum Oberberg mit. Aber man sei darüber hinaus nach wie vor auf Spenden angewiesen – auch in schwierigen finanziellen Zeiten. Spenden gehen an das Klinikum Oberberg unter dem Verwendungszeck „Ukraine“.

Dienstag, 6. September:

Dr. Vitaliy P.

Die Situation der vergangenen drei Wochen sei stabil geblieben, erzählt Dr. Vitaliy P., Gefäßchirurg an einer Klinik in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. Mit „stabil“ meint P. allerdings nichts Gutes, sondern die Stabilität bei den Raketenbeschüssen, Bombardierungen und der Zerstörung in Charkiw durch russische Truppen. Im Videotelefonat mit seinem Freund Igor Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, beschreibt P. das zunehmende Ausmaß der Verwüstung.

90 Prozent der öffentlichen Gebäude in Charkiw seien zerstört, darunter vor allem Schulen und amtliche Gebäude. Noch während P. am Dienstagmorgen im Operationssaal steht, hört er, wie die  nächste Rakete im Stadtzentrum explodiert. Eine genaue Ortsangabe, wo die Raketen explodiert sind, werde bewusst nicht gegeben, damit die russischen Truppen sich bei den nächsten Beschüssen nicht korrigieren können, erklärt P. im Gespräch mit Prudkov.

Viele Angriffe rund um den Nationalfeiertag

Am schlimmsten sei die Situation am 20. August gewesen: „Da wurde ein Wohnheim für Sehbehinderte getroffen. 23 Personen wurden getötet, weitere Menschen schwer verletzt“, berichtet der Gefäßchirurg weiter. Und auch am 23. und 24. August habe es vermehrt Angriffe gegeben.

Der Grund: Am 23. August feierten die Menschen in Charkiw Stadtfest, der 24. August ist in der Ukraine zudem Nationalfeiertag, an dem jährlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion gefeiert wird.

P. erzählt: „An diesen beiden Tagen wurde sehr viel geschossen.“ Er selber sei zuhause und nicht im Krankenhaus gewesen. Seine zwei Söhne seien zu Besuch gekommen und die Familie habe in einer vermeintlich sicheren Minute einen kurzen Spaziergang mit dem Hund unternommen. „Nur kurze Zeit später wurden zwei Straßen weiter zwei Häuser zerstört“, erzählt P. von den Geschehnissen.

Feierstimmung sei an diesen Tagen demnach nicht aufgekommen, betont der ukrainische Arzt, der den Feiertag und den Glauben aber im Herzen getragen habe.

Sorgenvoller Blick auch nach Köln

Mit Sorge schaute P. am vergangenen Wochenende nicht nur auf seine eigene Stadt, sondern auch nach Köln, wo eine prorussische Kundgebung stattfand. An einigen Stellen halbherzig findet der Gefäßchirurg außerdem das neue Sanktionspaket der EU gegen Russland. Und wie viele Deutsche hat auch P. die Debatte um den Lieferstopp von russichem Gas nach Deutschland beobachtet.

„Das beschäftigt natürlich viele Menschen, aber letztendlich hat Deutschland sich diese Abhängigkeit zu Russland selbst ausgesucht“, findet P. klare Worte und hofft, dass bei der gesamten Debatte um die Energiekrise nicht vergessen werde, dass sich die Ukraine nach wie vor in einem ungewollten Krieg befinde.

Heizungsnetz ist unterbrochen

Denn auch in Charkiw bleibt die Heizung derzeit aus. Bei den Bombardierungen in der Stadt seien kürzlich zwei Versorgungsstationen zerstört worden, wodurch das das Heizungsnetz unterbrochen wurde. „Vielleicht werden wir im Winter keine funktionierende Heizung haben“, sagt P. mit Sorge auch um das Krankenhaus, das davon ebenfalls betroffen wäre. „In der Ukraine kann es im Winter locker -20 bis -25 Grad kalt werden.“

Dankbar zeigt sich P. derweil über weitere Lieferungen von Medikamenten und Verbandsmaterialien, die das Klinikum Oberberg in Zusammenarbeit mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov erneut auf den Weg gebracht hat. Auch zwei Röntgenschürzen sind dabei, denn die von P. waren zuletzt  kaputt gegangen.

Igor Prudkov

Igor Prudkov, Psychiater an der Gummersbacher Klinik, findet in diesen Tagen vor allem kritische Worte gegenüber der Russlandpolitik Angela Merkels. „Ich ärgere mich über ihre Entscheidung, Russland bei der Gaslieferung zu vertrauen“, betont er. Er ist sich mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. einig: Deutschland habe sich von Russland abhängig gemacht und bekomme nun die Rechnung dafür.

„Vielleicht hätte Merkel doch auf Trump hören sollen. Die USA wären in Sachen Flüssiggas wohl der sicherere Partner gewesen, doch nun ist es zu spät. Dabei hat Angela Merkel doch schon bei den Kämpfen auf der Krim gesehen, zu was Putin fähig ist. Ihre Entscheidung kann ich einfach nicht verstehen“, sagt Prudkov.

Er selbst habe mit weniger Gas kein Problem. „Mir und auch vielen meiner ukrainischen Freude ist es egal. Wir könnten auch ohne Heizung auskommen. Lieber einen Winter ohne Heizung verbringen und danach frei sein, als sich weiterhin von Russland und Putin abhängig zu machen“, betont er.

Ein Lachen schleicht sich zwischen all den schlechten Nachrichten und Sorgen aber auf Igor Prudkovs Gesicht, als er hört, dass die Medikamente, die aus Gummersbach nach Charkiw geschickt wurden, sich bereits in Zielnähe befinden.

Dienstag, 9. August:

Dr. Vitaliy P.

Beschuss ist Dr. Vitaliy P., Gefäßchirurg und Chefarzt einer Klinik in der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw, mittlerweile gewohnt. Seit Kriegsbeginn ist Charkiw immer wieder Ziel der russischen Soldaten. Am Montag sei der Beschuss aber heftiger als sonst gewesen. „Die Bombardierung hat zugenommen. Innerhalb von 24 Stunden wurden allein 16 Objekte zerstört“, berichtet P. im Video-Telefonat mit seinem Freund Igor Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Kreiskrankenhaus arbeitet.

Tagsüber und nachts sei die Stadt beschossen worden. Zum Einsatz seien dabei Flugabwehrraketen des Typs S-300 gekommen, die zuvor in der russischen Stadt Belgorod stationiert worden waren. „Sie fliegen 30 Sekunden. Da hat man keine Chance, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen“, sagt P. und berichtet: „Zerstört wurden vor allem Objekte, die wichtig für die Infrastruktur sind, wie zum Beispiel für die Warm-Wasser-Versorgung. Das sind gezielte Angriffe gegen die Bevölkerung. Es sterben mehr Zivilisten als Soldaten. Unsere Leute sollen geschwächt werden.“

Krankenhaus in Charkiw blieb bislang verschont

Das Krankenhaus, in dem er arbeitet, sei bislang zu weiten Teilen verschont geblieben. Der Arbeitsalltag funktioniere. „Wir helfen vielen Leuten und erhalten gleichzeitig auch Hilfe“, berichtet P., der zum Teil auch während den russischen Angriffen am OP-Tisch steht. „Ein Beschuss dauert zehn bis 15 Minuten. Wir hätten gar keine Zeit, um in einen Bunker zu gehen.“ Insgesamt seien in seiner Klinik in Charkiw nur wenige und schwer Kranke stationiert. Alle anderen würden lieber zu Hause bleiben, auch wenn es ihnen nicht gut gehe. Zu groß sei die Angst, sich an belebten Orten aufzuhalten, die im Fokus der russischen Soldaten stehen.

Auch Studenten gebe es in der Stadt immer weniger. Ein Betrieb in Präsenz findet an der Universität in Charkiw nicht mehr statt, denn viele Standorte seien vernichtet worden. „Der Unterricht findet nun online statt“, berichtet P. und ergänzt: „Wir haben somit viel Platz für neue Studenten. Es gibt keine Eintrittsprüfungen mehr.“

Sorge vor einem atomaren Krieg

Mit Angst und Sorge blickt auch Dr. Vitaliy P. in diesen Tagen in die von Charkiw 300 Kilometer entfernte ukrainische Stadt Saporischschja, in der russische Soldaten das Atomkraftwerk besetzt haben. „Natürlich haben wir Angst vor einem atomaren Krieg, denn wir haben schon Chernobyl erfahren. Und Putin ist unberechenbar. Ihm ist völlig egal, ob 1000 Soldaten sterben oder eine Million“, weiß Vitaliy P., der längst aufgegeben habe, auf die Vernunft Putins zu hoffen.

Dankbar sei er dagegen für die Waffenlieferungen aus Deutschland und die Hilfe bei der Verteidigung. „Es ist etwas schade, dass diese Hilfe nicht früher gekommen ist, denn so hätten wir uns von Anfang an besser verteidigen können. Aber wir sind froh über die Unterstützung“, betont der Gefäßchirurg aus Charkiw.

Igor Prudkov

Die Sorge vor einem Atomkrieg teilt auch P.s Freund Igor Prudkov, der als Psychiater am Kreiskrankenhaus in Gummersbach arbeitet. „Ich beruhige mich immer selber und versuche positiv zu denken“, sagt er. Was ein Atomkrieg für Ausmaße haben kann, darüber habe er natürlich schon nachgedacht. „Niemand weiß, wohin eine solche Wolke ziehen würde. Das beträfe dann längst nicht mehr nur die Ukraine“, betont er und gibt zu bedenken: „Ein atomarer Krieg könnte ja auch Auswirkungen auf Russland selbst haben. Wenn man logisch denkt, würde das alles gar keinen Sinn machen.“ Dass Putin aber so weit denke, da ist sich Prudkov nicht sicher.

Die jüngsten Beschüsse in Charkiw haben auch Prudkov erneut in Sorge versetzt, denn nicht nur sein Freund Dr. Vitaliy P. lebt in Charkiw, sondern viele weitere Freunde und ehemalige Studienkollegen. „Vitaliy bemüht sich immer, mir schnell zu antworten und sich regelmäßig zu melden, damit ich weiß, dass es ihm gut geht“, erzählt Prudkov, der die Orte in Charkiw, die in den Nachrichten aufgeführt werden, auch selbst kennt.

Enttäuscht und wütend ist Igor Prudkov derweil über den Verbleib von Altkanzler Gerhard Schröder in der SPD. „Ich verstehe die Partei einfach nicht. Ich frage mich dann immer: Hätten sie es genauso gemacht, wenn jemand aus der Partei eine Freundschaft zu Hitler gepflegt hätte? Das ist doch vergleichbar, denn Putin zerstört auch ganze Nationen“, gibt der Gummersbacher Arzt zu bedenken.  

Dienstag, 2. August:

Dr. Vitaliy P.

Es ist früh am Dienstagmorgen in Gummersbach. Dennoch grüßt ein ausgeschlafener Dr. Vitaliy P. im Video-Telefonat aus Charkiw. Denn dort ist es wegen der Zeitverschiebung nicht nur eine Stunde später. Vor allem konnte der Gefäßchirurg, der als Chefarzt an einer Klinik in der ostukrainischen Millionenstadt arbeitet, zum ersten Mal seit Wochen wieder durchschlafen. „Keine einzige Rakete, kein Raketenbeschuss“, stellt er zufrieden fest.

Eine raketenlose Nacht oder mehr?

Am Morgen hat P. direkt im Internet nachgesehen. Einen Grund für die raketenlose Nacht aber noch nicht gefunden. „Vielleicht hatte Putins Armee gerade Besseres zu tun“, fügt er sarkastisch hinzu. Wirklich verlassen darauf, dass es zu einer Entspannung für Charkiw kommt, will er sich aber nicht. Dass die Stadt dabei von der Konzentration der Russen auf die Verteidigung ihrer Stellung im Süden der Ukraine profitieren könnte, hält P. zwar für möglich, bleibt aber vorsichtig: Auf Nächte, in denen der durchschlafen kann, richtet er sich jedenfalls erstmal noch nicht ein.

Dabei geht man in der Ukraine seit Kriegsbeginn auch gar nicht mal so früh ins Bett. Wenn Präsident Wolodymyr Selenskyj abends um 23 Uhr Ortszeit seine tägliche Einschätzung zur Lage im Krieg im Fernsehen abgibt, sieht auch Dr. Vitaliy P. gebannt zu: „Nicht wegen der Nachrichten, die kenne ich ja schon alle vom Tag. Die emotionale Art, wie er da spricht, finde ich sehr gut.“

Froh, dass die Welt nicht hungern muss

Solche Nachrichten der vergangenen Tage und Wochen waren zuerst das Getreideabkommen und jetzt die ersten Schiffe, die jetzt den Hafen von Odessa verlassen haben. Dass das Bedeutung für die Ukraine als Staat hat, ist klar. Aber was denken die Menschen in Charkiw darüber? „Wir freuen uns“, sagt P., „denn wir sind ja Menschen.“ Dass in der Welt und vor allem in Afrika jetzt vielleicht doch niemand am Hunger sterben müsse, sei eine gute Aussicht. Darüber hinaus, so P., sei es auch schön zu sehen, dass es doch irgendetwas gebe, über das man sich mit Wladimir Putin einigen könne. P.s Skepsis bleibt aber spürbar: „Ich rechne trotzdem jederzeit mit der nächsten Provokation.“

Der Landwirt, der seine Getreide am liebsten verschenken würde

Doch nicht nur die große Politik betrifft das Getreide, sondern auch die Menschen in Charkiw. „Erst gestern“, erzählt P., „habe ich einen Landwirt aus Sumy behandelt, der völlig verzweifelt war.“ Seine Felder habe der etwa fünf Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. „Er hat mir gesagt, dass er sein Getreide sogar verschenken würde, um Platz für die Ernte zu schaffen.“ Aber: Niemand traue sich dorthin, weil ständig mit Beschuss gerechnet werden müsse. Ähnlich sei es mit den vielen Waggons voller Getreide, die im Niemandsland, der grauen Zone zwischen der russischen Seite und der ukrainischen Seite, stehen. „Vielleicht“, sagt P., „gibt es auch dafür bald Hoffnung.“

Igor Prudkov 

In Deutschland, sagt Prudkov, sei die Stimmung bei den Menschen aus der Ukraine, die hierher geflüchtet sind, im Augenblick gespalten. 50 Prozent, kalkuliert er, wollten am liebsten so schnell wie möglich zurück, die anderen zumindest erstmal lieber hierblieben. Einige aber auch nicht nur erstmal: „Es gibt Menschen, die jetzt schon entschlossen sind, sich hier etwas aufzubauen. Oder sie wollen zumindest ein paar Jahre bleiben.“

Wohin soll man zurückkehren?

Er selbst, sagt Prudkov, könne das gut verstehen. „Die Menschen, die ich kenne und die hierhergekommen sind, stammen natürlich meistens aus der Umgebung von Charkiw.“ Da gebe es viele Orte, wo 50 Prozent der Häuser nicht mehr stehen: „Manche sind sogar völlig zerstört.“ Viele, die jetzt vor der Entscheidung stünden, fragten sich natürlich, wohin sie da überhaupt zurückkehren: „Erst recht, wenn sie die einzigen im Ort wären, die das tun.“

Und alle warten, was als Nächstes passiert. Prudkov selbst nennt sich nach wie vor einen „Sklaven seines Handys“: „Da bin ich wie mein Freund in Charkiw: Die Nachrichten, kenne ich schon lange, bevor Selenskyj vor die Kameras tritt.“

Zwei ukrainische Blogger als Schlafmittel

Auf den warte er in Deutschland nicht, bis er schlafen geht, verrät der Psychiater. „Da sehe ich mir am liebsten noch den Youtube-Kanal von zwei ukrainischen Bloggern an. So wie die die aktuelle Lage immer mit einem positiven Zungenschlag für die Ukraine kommentieren, das ist ein hervorragendes Schlafmittel für mich“, sagt er grinsend.

Der anderen Propaganda aus dem Weg gehen

Dabei ist ihm völlig bewusst, dass auch das eine Art von Propaganda ist. Die andere Seite zu hören, wenn sie nicht gerade von der ukrainischen eingeordnet wird, habe er sich längst abgewöhnt, auch wenn er die Sendungen in seiner Muttersprache Russisch hervorragend verstehen würde. „Es macht einfach keinen Sinn. 90 Prozent von dem, was da erzählt wird ist einfach nur Quatsch. Es wäre verlorene Zeit.“ Dass die andere Seite genauso sieht und dass das ein Teil der aktuellen Sprachlosigkeit ist, weiß er. Dennoch sagt er: „Ich unterhalte mich gerne auch mit Russen, die hier leben. Aber seit dem Einmarsch auf der Krim 2014 habe ich eine Grenzlinie gezogen.“ Von manchen Bekannten habe er sich danach verabschiedet: „Wir haben so lange zusammengesessen und gesprochen, aber es hat einfach nichts gebracht.“

Der Riss geht durch die Familie

Dennoch ist es Prudkov nicht fremd, dass der Krieg auch Familien teilt. Auch er hat einen Schwiegersohn, der aus einer deutsch-russischen Familie stammt. „Meine neunjährige Enkelin hat es deshalb nicht leicht“, erzählt er und muss dennoch schmunzeln: „Sie weiß ja, wie sehr ihr Opa sich für die Ukraine einsetzt. Aber sie liebt auch ihren Papa, dessen Familie wiederum nur russisches Fernsehen guckt.“ Also nehme auf sie auf beide Rücksicht. Prudkov lächelt zwar, aber es ist ein trauriges Lächeln. Putins Krieg macht es Familien wie seiner unmöglich, so miteinander umzugehen,  wie es Familien normalerweise machen sollten.

Montag, 25. Juli:

Dr. Vitaliy P.:

Eigentlich, sagt Dr. Vitaliy P. bitter, habe sich an der Situation im ostukrainischen Charkiw in den vergangenen Wochen gar nicht so viel verändert. „Ja, wir werden bombardiert“, sagt der Chefarzt an einer Klinik. „Aber die Bombardierungen hatten ja auch nie aufgehört.“

Raketen brauchen 30 bis 90 Sekunden aus Belgorod

Am Montagmittag hat der ukrainische Gefäßchirurg noch einmal Zeit genommen, um mit seinem Freund Igor Prudkov, der schon lange in Deutschland lebt und als Psychiater am Klinikum Oberberg in Gummersbach arbeitet, über die aktuelle Lage in der gemeinsamen Heimat zu sprechen. Und eigentlich ist die Lage eben doch ernster geworden. Das weiß natürlich Dr. Vitaliy P.: Sowohl die großen Raketen, die aus dem russischen Belgorod gerade einmal 30 bis 90 Sekunden in die Stadt benötigen, aber auch das Artilleriefeuer seien inzwischen völlig unberechenbar geworden: „Morgens, abends, nachts: Es gibt keine Regeln.“ Manchmal seien es fünf Einschläge, manchmal 50.

Leere Schulen in der Nähe der Klinik getroffen

Und es gibt viele Verletzte. Das merkt P., der in den vergangenen Monaten bei seiner Arbeit zeitweise schon wieder zu so etwas wie einer normalen medizinischen Versorgung übergegangen war, jetzt auch erneut in seiner Klinik. Die ist selbst bisher nicht von Raketen getroffen worden,  dafür aber zwei Schulen in der direkten  Nähe. „Zum Glück waren die Schulen leer“, sagt P., fügt dann aber sarkastisch hinzu: „Das hat die russische Propaganda nicht davon abgehalten, nachher zu behaupten, dort seien 200 Nationalisten getötet worden.“

„Kollaborateure kann es hier nicht viele geben“

Aufmerksam verfolgt hat  P. auch die Diskussion um mögliche Kollaborateure auf Seiten der Ukrainer. Menschen, vor allem in den Ministerien, die auch aus Russland bezahlt werden. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuletzt durchgegriffen und sogar Spitzenkräfte entlassen, weil die das Problem nicht in den Griff bekamen. In Charkiw, sagt P. nüchtern, könne es aber davon nicht besonders viele geben: „Wenn ich sehe, was die Russen bei ihren Angriffen treffen – also Schulen, die Universität, aber nicht die Orte, wo wirklich Waffen gelagert werden –, dann können sie hier nicht viele Helfer haben.“ Misstrauen untereinander gebe es kaum, auch nicht in seiner Klinik. Ja, da seien einige Mitarbeiter, die einen russischen Pass hätten. Und zu Beginn des Krieges habe es auch die ein oder andere Diskussion gegeben. „Aber inzwischen haben die ihre Meinung geändert.“

Beschuss im Berufsverkehr

Das heißt nicht, dass in Charkiw wieder mehr gestorben wird durch den Krieg. 20 bis 30 Tote fordere die Bombardierung jede Woche, dazu 80 bis 100 Verletzte. Und das ohne ersichtlichen Grund: Denn Anzeichen, dass die russische Armee die zweitgrößte Stadt des Landes direkt angreifen, geschweige denn einnehmen will, gebe es nach wie vor nicht: „Es ist einfach völlig sinnlos.“

Was das mit den Menschen in der Stadt macht? P. überlegt und sagt dann: „Natürlich haben sie Angst. Nur ein Psychischkranker hat in so einer Situation keine Angst vor dem Tod.“ Doch ihnen bleiben nichts anderes übrig, als zur Arbeit zu gehen.  „Und genau dann wird die Stadt besonders gerne beschossen“, erklärt P.

Igor Prudkov

„Es ist ein Scheißspiel“, sagt Igor Prudkov zu diesen Angriffen im Berufsverkehr. Überhaupt ist der in Gummersbach arbeitende Psychiater nicht zufrieden mit dem, wie sich die Dinge entwickeln. Dazu gehört nicht nur das, was in Charkiw oder in der Ukraine an der Front passiert. Er habe das Gefühl, dass sich die Diskussion in Deutschland verändert. „Die ersten Umfragen zeigen, dass mehr Menschen dafür sind, dass die Ukraine einen Frieden akzeptiert, selbst wenn sie dafür Gebietsabtretungen hinnehmen muss, als dagegen“, sagt er. Das hat er gelesen. Und das ärgert ihn.

Inflation? Geschäfte mit dem Krieg

Und Psychiater Prudkov hat auch eine Idee, wo der Sinneswandel herkommt: von den höheren Preisen. Da wird er dann aber richtig wütend: „Egal, ob beim Ölpreis oder bei Sonnenblumenöl: Es ist doch offensichtlich, dass da Leute ein Geschäft aus dem Krieg machen.“ Schon ein Blick in die Nachbarländer zeige, dass es eben nicht die Ukraine und ihr Kampf ums Überleben sein könnten, die für die Kostenexplosion verantwortlich sind. „Und wenn wir dann dadurch die Unterstützung der Menschen verlieren, obwohl es nur andere sind, die mit unserem Krieg ein Geschäft machen, dann macht mich das wirklich wütend.“

Mittwoch, 22. Juni:

Dr. Vitaliy P.:

Heute stellt Dr. Vitaliy P. die Fragen: Ob man sich in Deutschland völlig bewusst sei, fragt er beim Video-Telefonat, dass Wladimir Putin einen Vernichtungskrieg gegen das ukrainische Volk führe? Er habe von den stark steigenden Preisen in Europa gehört. „Was macht das mit den Menschen?“, will P. wissen. „Helfen Sie uns weiter?“ Oder verliere die Ukraine die Unterstützung, weil die westlichen Gesellschaften diesem Druck nicht standhalten?

Tagsüber Artillerie, nachts die Raketen

P. macht sich Sorgen, denn der Krieg ist zurück in Charkiw. Von den etwa 40 Kilometern bis zur Grenze, die von ukrainischen Truppen wieder freigekämpft wurden, sind gerade mal noch etwa 20 übriggeblieben. Dorf um Dorf rücken die Russen wieder vor. Und sie schießen wieder auf Charkiw: Tagsüber mit der Artillerie, die jetzt wieder in Reichweite ist, nachts kommen die Raketen aus dem russischen Belgorod. Ukrainer, die vor dem Krieg dorthin geflohen seien, berichteten von den Abschüssen.

Militärisch sinnloser Beschuss

Und damit ist auch der Tod zurück in Charkiw. Allein am Dienstag, so P., seien 15 Menschen gestorben. Darunter sind immer wieder Kinder. Der Beschuss sei militärisch gesehen völlig sinnlos: „Sie treffen ein Depot für U-Bahn-Waggons oder eine Landwirtschaftsakademie. Der Schaden, den sie anrichten, steht in keinem Verhältnis dazu, was so eine Rakete kostet.“ Es sei denn, man wolle damit töten: „Es sind vor allem stark besiedelte Bezirke, Orte, wo viele Menschen leben, die jetzt beschossen werden.“ Und das wüssten auch die Russen: „Sie wissen also, was sie da tun.“

Die Russen reden von Rache

Der Grund? Die Russen redeten von Rache, sagt P. Für den Beschuss einer von russischen Truppen eroberten Insel und einer mit Radar ausgerüsteten Ölplattform im Schwarzen Meer nahe Odessa. In Charkiw treffe die Rückkehr des Krieges auf unterschiedliche Reaktionen. „Die Leute, die die ganze Zeit schon hier sind, kennen das ja schon.“ Für die Rückkehrer sei es schwerer zu ertragen: „Für sie ist es ein Schock.“ Und sei es auch ein bisschen anders geworden. „Das öffentliche Leben bleibt. Die Metro fährt, auch die Straßenbahnen. Die Einschläge kommen jetzt aber immer kurz und plötzlich ohne Vorwarnung.“

Igor Prudkov

Was soll das? Die Frage, warum seine Heimat Charkiw angegriffen wird, stellt sich auch Igor Prudkov in Gummersbach. „Eigentlich ist es Wahnsinn. Um die Stadt einzunehmen, bräuchten sie 500.000 bis eine Million Soldaten. Tatsächlich sind es dort gerade etwa 40.000 Russen.“ Prudkovs These: Die Russen wollen ablenken. Die Ukraine soll in Versuchung geführt werden, auch Charkiw und andere Städte wie Kiew verteidigen zu müssen und dafür Truppen aus dem umkämpften Osten abzuziehen. „Und wenn sie das nicht tut, sollen die Ukrainer in Charkiw oder Kiew ihre Regierung dafür verurteilen.“ Kurzum: Es gehe darum, Unruhe zu stiften.

Wo bleiben die Waffen?

Prudkov ist verzweifelt: Warum kommen nicht genügend Waffen an der Front? Denn, davon ist er fest überzeugt, dann würden die Ukrainer die Russen jetzt schon zurückschlagen können. „Es ist nicht so, dass ich dem Westen oder Deutschland die Schuld gebe, wenn Menschen dort gerade sterben. Die Schuld trägt Putin.“ Aber es sei doch völlig klar, dass mit mehr Waffen die Chancen der Ukrainer, die Kämpfe zu gewinnen, anstatt getötet zu werden, steigen.

Freitag, 17. Juni:

Dr. Vitaliy P.:

Darüber, wie nahe der Krieg in Charkiw weiter ist, hat Dr. Vitaliy P. in den vergangenen Wochen oft gesprochen. Am letzten Wochenende hat er es aber noch einmal am eigenen Leibe erfahren. Er sei zu Besuch bei Freunden gewesen. Die wohnten in einem Dorf außerhalb der Stadt, wo keine Armee stationiert sei.

Plötzlich schlagen die Raketen ein

Ein ganz normaler Besuch, bis plötzlich etwa 200 Meter weiter sechs Raketen einschlugen, die aus dem russischen Belgorod abgefeuert worden seien. Zwei Häuser seien zerstört worden, glücklicherweise wurde niemand getötet. Und dennoch: Für Vitaliy P. bleiben der Krieg und die reale Gefahr, in ihm getötet zu werden, spürbar und greifbar.

Ein Krankenhaus in der Stadt wird getroffen

Und das nicht nur außerhalb der Stadt: Auch Charkiw, erzählt P., stehe inzwischen wieder regelmäßig unter Feuer: „Drei- bis viermal am Tag schlagen Raketen oder Bomben ein – in der Nacht sind es doppelt so viele.“ Täglich, sagt P., seien zuletzt etwa zehn Menschen gestorben. In der vergangenen Woche sei auch ein Krankenhaus mitten in der Stadt getroffen worden.

Angespannt, müde, aber nicht hoffnungslos

Seine eigene Klinik, sagt P., habe jetzt wieder viel mehr Patienten. Vor allem schwer erkrankte, bei denen die eingeschränkte Gesundheitsversorgung sichtbar sei. „Sie sind schon viel stärker erkrankt, wenn sie zu uns kommen, weil sie vorher kein Arzt versorgen konnte, der sie zu uns geschickt hätte.“ Das alles drücke auf die Stimmung, sagt P. Die Menschen in Charkiw seien angespannt und kriegsmüde nach den letzten Monaten. Aber eines seien sie immer noch nicht: hoffnungslos.

Igor Prudkov

In der vergangenen Woche musste Igor Prudkov lange nachdenken. Denn in Deutschland war etwas geschehen, was auch ihm zu denken gab. Oft hatte der Psychiater in der Vergangenheit darüber gesprochen, wie wichtig die Lieferung von Waffen, von schweren Waffen vor allem, für sein Land sei: „Und es stimmt nach wie vor: Jeden Tag sterben auf unserer Seite Menschen, vor allem junge Menschen, die wir für den Wiederaufbau des Landes brauchen, weil wir die russischen Angriffe nicht zurückschlagen können.“

Warum kommen die Waffen nicht schneller?

Entsprechend verärgert sei auch er, sagt Prudkov, dass es nicht schneller geht und nicht mehr solcher Waffen auch aus Deutschland in die Ukraine kommen: „Ich verstehe diese Bürokratie nicht: Der Bundestag will doch die Waffen liefern. Warum klappt das dann nicht?“

„Ich schäme mich dafür, was Melnyk gesagt hat"

Soweit, so gut – oder nicht gut. Aber dass der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, dies zum Anlass genommen hat, gegenüber der Bild-Zeitung zu behaupten, die aus der Ukraine geflüchteten Menschen würden sich deshalb in Deutschland nicht wohlfühlen, hat Prudkov dann aber doch schockiert: „Ich schäme mich dafür, was Melnyk da gesagt hat. Ich verstehe die Wut, die hinter seinen Worten steckt. Aber wenn er so etwas sagt, ist er kein Diplomat.“

Dankbarkeit bei Ukrainern für Hilfsbereitschaft

Vor allem, sagt Prudkov, sei es nicht wahr. Bei allem Streit über Waffenlieferungen dürfe man die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Deutschen gegenüber den Menschen aus der Ukraine nicht übersehen, die hier aufgenommen wurden: „Auch Melnyk muss das sehen.“ Er selbst erlebe viele Landsleute, die von der Hilfe aus und in Deutschland berührt sind: „Das gilt auch und vor allem für meinen Freund Vitaliy, der sich immer und immer wieder herzlich bedankt, wie ihm aus Deutschland geholfen und welche Aufmerksamkeit ihm und seinem Land geschenkt wird.

Mittwoch, 1. Juni:

Dr. Vitaliy P.:

Dass der Präsident in der Stadt war, hat Dr. Vitaliy P. auch nur aus den Medien mitbekommen. Und trotzdem: Der Besuch Wolodymyr Selenskyjs im ostukrainischen Charkiw sei wichtig für Menschen wie ihn gewesen, die seit Beginn des Krieges dort ausharren. Immer noch spürt der Arz viel neue Normalität: Selbst die Metro, in seiner Stadt, die vielen lange nur als Zufluchtsort und Obdach diente, fährt wieder. Doch der Krieg bleibt – auch weil  die russische Grenze so nahe ist, dass die Stadt selbst von dort aus beschossen werden kann. Wie auch jetzt wieder, als Selenskyj zu Besuch war.

Ein Haus, das jetzt zerstört wird

Und der Krieg bestimmt vor allem das Leben der Menschen in der Umgebung – nach wie vor oder mehr denn je. P. erzählt von einem Freund, der dort draußen in einem Dorf lebt. Sein Haus sei trotz des ganzen Krieges rundherum in den vergangenen Monaten immer unbeschädigt geblieben. Dann kam der Siegeszug seiner Armee. Vor zwei Wochen hätten die Ukrainer das Dorf, in dem er lebt besetzt. Die Freude wich schnell wieder. Denn jetzt nahmen die Russen das Dorf wieder unter Beschuss. Und jetzt ist auch das Haus von P.s Freund zerstört.

In Charkiw wird weiter gestorben

Wie fragil ist also die neue Normalität? Ja, sagt P., man merke schon, dass viele Menschen, die zunächst vor dem Krieg nach Westen geflohen waren, jetzt – nach den guten Nachrichten – wieder nach Charkiw zurückkehren: „Etwa 2000 Menschen pro Tag kommen an.“ Aber sind sie in der Stadt auch sicher? Ja, die Metro fährt – aber sie bietet auch immer noch Schutz bei Angriffen, wie ein Bunker. Und es wird weiter gestorben durch Angriffe auf Charkiw, sagt P.: „Allein in der vergangenen Woche waren es neun Menschen – darunter ein Vater und sein fünf Monate altes Kind, das er auf dem Arm trug.“

Die Normalität zu wissen, dass die Familie lebt

Und dennoch bleibt da weit mehr Normalität, als man aushalten kann: P. kann seit 14 Tagen jetzt schon regelmäßig bei seiner Familie sein. Er kann nach der Arbeit nach Hause fahren, kann dort schlafen. Vorher, sagt er, sei genau das besonders grausam gewesen: Nicht zu wissen, ob etwas passiert ist. Jetzt, so P., fühle sich das besser an. Da gebe es Ablenkung in der Hausarbeit oder im Garten – und vor allem die sichtbare Gewissheit, dass es den anderen gut geht, trotz des nahen Krieges.

Igor Prudkov:

Normal fühlt sich für Igor Prudkov gerade nichts an. Die Sorgen aus der Ferne werden nicht kleiner, wenn er die Nachrichten sieht: Vor allem die Lage im Donbass, wo die Russen immer weiter vorrücken, bereitet ihm und seinen Landsleuten Kopfzerbrechen. Natürlich versteht Prudkov, was P. sagt: Dass es sich anders anfühlt als mitten im Krieg zu sein, ständig in der Angst getötet zu werden. Aber Prudkov sagt auch: „Entspannt ist angesichts der aktuellen Lage in der Ukraine niemand.“

Die Angst vor der Niederlage

Ja, da ist die Angst vor der Niederlage. „Je länger der Krieg dauert, umso mehr merkt man, dass es kein Soldatenkrieg, sondern ein Artilleriekrieg ist“, sagt Prudkov. Und: „Ohne Hilfe verlieren wir den. Denn wir haben Soldaten, aber Putin hat Artillerie.“ Außerdem würden die Gebietsverluste jetzt den Weg zurück nur umso schwerer machen. „Verteidigen können wir ja noch, aber angreifen wird schwierig.“ Prudkov spricht vom Süden um Cherson oder um Mariupol, wo die Russen bereits drei Verteidigungslinien hintereinander gezogen hätten: „Selbst wenn wir eine überwinden, bleiben immer noch zwei weitere.“ Hoffnung auf noch mehr Normalität klingt anders.

Mittwoch, 25. Mai:

Dr. Vitaliy P.:

Dr. Vitaliy P. hat viel zu tun. Immer wenn er in den vergangenen Tagen tagsüber mit seinem Freund  Igor Prudkov in Gummersbach per Video telefonieren will, kommt eine Operation oder ein Notfall dazwischen. Das hat auch mit damit zu tun, dass der Krieg wieder an Charkiw herangerückt ist: Raketen erreichen die Stadt in der Ostukraine wieder. So nah, dass in P.s Krankenhaus wieder die Fenster zersplittern. Vor allem aber in der Umgebung zur russischen Grenze hin, die die Ukrainer zuletzt befreit hatten, gibt es schweren Artilleriebeschuss und russische Gegenangriffe. Verletzte von dort – vor allem Zivilisten, die auch von Minen verwundet wurden – werden vermehrt in P.s Klinik behandelt.

Die kleine Euphorie ist verflogen

Die Stimmung hat sich verändert. Während es zuletzt noch die wiedereroberten Gebiete auf dem Weg zur Grenze waren, über die sich P. und die anderen Menschen in Charkiw freuen konnte, sodass er selbst auch mal wieder zu Hause schlief, ist diese kleine Euphorie nach den russischen Offensiven nicht nur bei Charkiw, sondern vor allem im Donbass verflogen. Es gebe kaum noch ukrainische Erfolge zu berichten, dafür viele Tote auf beiden Seiten – vor allem unter den ukrainischen Soldaten.

Ein Krankenwagen für die Klinik

Auch wenn der Krieg zurück ist in Charkiw, hat P. einen kleinen Grund sich zu freuen. Vor einigen Tagen haben Förderer seiner Klinik einen Krankenwagen zur Verfügung gestellt. Statt auf das stark belastete Rettungsdienst-System zu warten, können seine Ärzte mit dem Wagen nun selbst direkt zu den Menschen fahren, die ihre Hilfe brauchen, und dort entscheiden, ob die Patienten ins Krankenhaus müssen. Bei all dem Krieg also dennoch ein kleiner Schritt zurück zu mehr Normalität.

Igor Prudkov

Auch Igor Prudkov hat die schlechten Nachrichten gehört und auch die Veränderung in den Reden seines Präsidenten festgestellt. Dass die russische Armee auf dem Vormarsch ist, macht auch ihm große Sorgen. „Sie haben gerade sehr viele frische Kräfte, die sie in den Krieg werfen“, sagt er. Die ukrainischen Soldaten im Donbass hingegen seien müde – nach drei Monaten Kampf ohne Pause.

Eine Generation, die fehlen wird

Was Prudkov besonders traurig macht, ist das Sterben der Soldaten. Eine ganze Generation junger Männer, die für den Wiederaufbau dringend gebraucht würden, verliere dort gerade ihr Leben. Das gelte natürlich auch für die Russen, die von Wladimir Putin in diesen Krieg geschickt würden. Aber gerade jetzt treffe es eben vor allem die jungen Ukrainer.

Ändert sich da was? Verliert da jemand den Glauben an den militärischen Sieg seines Landes? Haben die ukrainischen Soldaten jetzt etwa wirklich keine Chance mehr – egal mit welchen Waffen? Prudkov schüttelt energisch den Kopf: „Das ist es nicht. Es sind nach wie vor besonders die Waffen, die uns fehlen.“ Er rechnet vor: „Wir haben etwa 700.000 Soldaten. Wir haben aber auch 300.000 bis 400.000, die wir zusätzlich mobilisieren könnten. Aber das macht keinen Sinn, solange wir keine Waffen für sie haben.“

Ein Panzer, der fast noch aus dem Weltkrieg stammt

Aber kann das die andere Seite nicht auch? „Nein“, sagt Prudkov, „Russland stößt jetzt Grenzen – auch was die Waffen angeht.“ Dann grinst er fast spöttisch, als er sagt: „Inzwischen setzen sogar den T62 ein: Das ist fast schon ein Weltkriegspanzer, der ist doch aus den 50er Jahren, auf jeden Fall ein uraltes Modell.“ Aber Putin sei das alles egal: „Er wirft alles in diesen Krieg, nur um irgendwas zu gewinnen.“

Irgendwas: Das ist gerade der Donbass, vor allem die Region um Luhansk, wo zum Teil schon seit 2014 quasi Krieg herrscht. Quasi, weil dort auch vorher schon russische Truppen im Einsatz waren – nur eben ohne Z. Ein Krieg mit russischer Beteiligung also, den es nicht nur sprachlich, sondern offiziell überhaupt nicht geben durfte.

Und ein Krieg, den Prudkov, selbst mit Russisch als Muttersprache aufgewachsen, nicht versteht. „Ja“, sagt er, „die Sprache unterscheidet uns von den Menschen im Westen des Landes – in Kiew oder in Lwiw.“ Es sei für manchen in seiner Heimat auch gar nicht so einfach, die ukrainische Sprache zu lernen. „Aber es ist eben auch nur eine Sprache.“

Propaganda und Nostalgie für die Sowjetunion

Dass Putins Propaganda das seit Jahren im Osten der Ukraine auch mit Hilfe von Separatisten vor Ort so hochspiele, dass die Alten dort und selbst mancher Kumpel, der hier in Deutschland lebt, sich nach der guten alten Sowjetunion zurücksehnt und dass sie die mit Russland identifizieren, sei ihm, P. und auch vielen anderen seiner Landsleute im Osten fremd: „Wir sind ein Land. Erst recht jetzt im Krieg, wo unsere Leute schon seit 2014 im Westen der Ukraine ganz herzlich aufgenommen wurden, weil sie fliehen mussten.“

Und was sagt der Psychiater den Nostalgikern? „Sie sehnen sich nicht nach der Sowjetunion – sie sehnen sich nur nach ihrer eigenen Jugend, als sie agil und immer gesund waren. Das hat mit dem Land, wie es damals war, vor allem wenn man es mit dem Leben heute in Deutschland vergleicht, nichts zu tun.“

Dienstag, 17. Mai:

Dr. Vitaliy P.:

Ja, auch Dr. Vitaliy P. spürt, was sich verändert hat, seit die ukrainische Armee das Gebiet um Charkiw herum immer mehr von den russischen Truppen zurückerobern und inzwischen sogar wieder die Grenze erreichen konnte. Seit sieben Tagen, erzählt er am Dienstag im Video-Telefonat, stehe die Stadt selbst nicht mehr unter Beschuss: keine Flugzeuge, keine Raketen. Sogar der öffentliche Dienst habe seine Arbeit wieder aufgenommen, Straßenbahnen fahren wieder. Und die dritte Nacht in Folge hat P. jetzt sogar selbst nachts wieder zu Hause geschlafen.

Seit drei Tagen schläft der Arzt wieder zu Hause

Alles wieder normal in der zweitgrößten Stadt der Ukraine? Nein, sagt P. Wenn er zu Hause, wo er noch mal acht Kilometer näher an der Grenze ist, ins Bett geht und morgens aufsteht, hört den Krieg immer noch: die Artillerie die Gefechte. Dazu gibt es die Nachrichten aus dem nahen Donbass und vor allem aus der Region Luhansk: „Während wir jetzt hier sprechen, sterben da auf beiden Seiten gerade viele Soldaten.“

Und auch in der Stadt Charkiw selbst will Normalität nicht wirklich einkehren. So kann die U-Bahn immer noch nicht fahren, allein schon weil etwa 5000 Menschen immer noch dort unten in den Stationen lebten. Nicht nur weil ihre Häuser zerstört sind: „Viele haben einfach weiter Angst, dass der Krieg zurückkommt.“

Die Menschen kriegen wieder medizinische Versorgung

Auch seiner Klinik ist kaum etwas normal. „Es gibt jetzt immer mehr Patienten“, berichtet P. Nicht wegen der Kämpfe, nicht kriegsverletzte Soldaten, sondern vor allem Zivilisten. „Die Bevölkerung hatte zwei Monate lang keine richtige medizinische Versorgung“, sagt P. Viele hätten Kellern gesessen oder eben in der Metro – und sich kaum bewegt. „Sie brauchen jetzt Hilfe, auch das sind Folgen des Krieges.“

Hilfe aus Oberberg hilft

Dabei helfe ihm auch die Hilfe aus Oberberg. „Erst am Montag habe ich einen Mann operiert, bei dem eine Gefäßprothese und das Nadelmaterial aus einer der Lieferungen verwendet habe“, berichtet er. Ohne die fremde Hilfe seien solche Operationen zurzeit nicht möglich. Ein weiteres Problem seien jetzt Menschen, die eine Rehabilitation nach einer OP. „Das alles ist medizinische Versorgung, die es im Krieg hier nicht gegeben hat.“

Igor Prudkov

Noch eine andere Sorge seines Freundes möchte Igor Prudkov gerne beenden. „Durch die vielen Patienten fehlen ihm gerade vor allem Betten und Matratzen“, sagt der Psychiater in Gummersbach. Das Klinikum Oberberg will da gerne helfen. „Wir haben mal unsere Bestände auf den Kopf gestellt: 14 Betten und sechs Matratzen können wir zur Verfügung stellen“, sagt Sprecherin Angela Altz.

Große Sorgen in der Ferne

Prudkov beobachtet unterdessen das, was rund um seine Heimatstadt passiert, immer noch mit größter Sorge. „Es war sehr schön, dass ein Teil unserer Soldaten es bis zur russischen Grenze geschafft hat. Aber es ist eben auch nur ein Teil – und ganz viel Symbolik“, sagt er. Anderswo in der Nähe von Charkiw dauerten die Kämpfe an. „Es gibt da einen Ort zwischen der Stadt und der Grenze, da habe ich früher in einer Heilanstalt gearbeitet. Dieser Ort ist gerade erst zum zweiten Mal von den Russen zurückerobert worden“, sagt Prudkov. Und der Ort sei so nahe an Charkiw, dass die Russen, wenn sie wollten, von dort mit ihrer Artillerie auch wieder die Stadt treffen könnten.

Ein bisschen Freude über den ESC

Es wird deutlich: Prudkov traut der Lage noch nicht. Zu hart sind vor allem die Kämpfe, die aus der Region Luhansk gemeldet werden. „Und dort“, sagt er, „sind die Russen auch so stark, dass sie Dorf für Dorf vorrücken können, obwohl unsere Leute sich massiv dagegen wehren.“ Ein bisschen Spaß lässt er dann aber doch zu. Prudkov lächelt sogar: „Über den Sieg des ukrainischen Beitrages beim Eurovision Song Contest am Samstag habe ich mich wirklich gefreut. Das hat mich tatsächlich berührt und sogar ein bisschen stolz gemacht.“

Dienstag, 10. Mai:

Dr. Vitaliy P.:

Der 9. Mai sei in Charkiw ein überraschend ruhiger Tag gewesen, erzählt Dr. Vitaliy P. Auch der Chefarzt aus der Klinik in der Ostukraine war überrascht von diesem Tag: Auch er hatte wie viele Ukraine mit mehr Provokationen und sogar mit einer Kriegserklärung von Wladimir Putin gerechnet. „Ich habe mir sehr große Sorge gemacht und hatte wirklich Angst vor einer Generalmobilmachung“, erzählt er am Tag danach im Video-Gespräch.

Immer mehr Dörfer um Charkiw sind befreit

Ja, die sei ausgeblieben und er sei ein bisschen erleichtert. Dazu trägt auch die Situation rund um die Stadt bei. Inzwischen sei es den Ukrainer gelungen, die russische Armee aus noch mehr Dörfern in der Umgebung von Charkiw zu vertreiben. Für die Menschen dort werde es aber deshalb nicht ungefährlicher: Nachdem sie die Dörfer aufgeben mussten, würden die Russen jetzt eben diese Orte unter Artilleriebeschuss nehmen. Auch die Ruhe in Charkiw sei trügerisch, meint P.: „Die Russen stehen etwa 20 Kilometer entfernt von unserem Krankenhaus. Die Raketen, die sie abfeuern haben aber eine Reichweite von etwa 40 Kilometern.“ Die Gefahr sei also weiterhin greifbar.

Heimliche Mobilmachung hinter den Kulissen

Sorgen macht sich P. außerdem auch ohne großen Ankündigungen Putins. Der sage oft das eine, mache aber das andere. So auch hier? P.: „Es gibt eine heimliche Mobilmachung in Russland – über Briefe, über Videos und über Provokationen: Explosionen hinter der Grenze, die man der Ukraine in die Schuhe schieben will.“ Das sei durchaus geeignet, um Freiwillige in Russland zu den Waffen zu locken.

Ganz ruhig war es in der Ukraine aber dann doch nicht. Entsetzt ist P. vor allem über den Raketenangriff am 9. Mai auf Odessa:  „Für uns Ukrainer ist das so etwas wie eine Lieblingsstadt.“ Auch deshalb breite sich eine traurige Stimmung im zum Kampf entschlossenen Charkiw aus: „Die Menschen merken immer mehr, dass dieser Krieg nicht schnell zu Ende gehen wird. Sie spüren, dass sie sich auf einen langen Krieg einstellen müssen, der mindestens noch bis zum Jahresende dauert.“

Hilfe aus Gummersbach nach Luhansk gebracht

Grund zur Freude hatte P. dennoch vor einigen Tagen. Am Freitag ist nämlich der nächste Hilfstransport von seinem Freund aus Gummersbach eingetroffen. Zwei seiner Ärzte, sagt P., hätten sich am nächsten Tag mit einem Teil des Verbandsmaterials und der Antibiotika gleich auf den Weg an die Front noch tiefer im Osten bei Luhansk gemacht. „Dort wir das gerade am dringendsten gebraucht“, sagt P.

Igor Prudkov

Auch Igor Prudkov ist erleichtert. Er freut sich nicht nur über die Ankunft des Materials und darüber, was damit bewirkt werden kann. Auch er hatte Angst vor dem 9. Mai, auch er ist trotzdem entsetzt, was in diesem „heiligen Tag“, wie er ihn nennt, in Odessa geschehen ist. Diesen Ort, für dessen Verteidigung viele russische und ukrainische Menschen im Zweiten Weltkrieg gekämpft hätten, ausgerechnet an diesem Tag mit sieben Raketen zu beschießen und Menschen zu töten – das sitze tief.

Noch mehr junge Menschen, die sterben müssen?

Prudkov macht sich seine ganz eigenen Gedanken über das, was Putin nicht gesagt hat, aber vielleicht doch gerade macht. „Eine Generalmobilmachung hat mir auch deshalb Angst gemacht, weil es ja nur noch mehr junge Menschen in diesen Krieg wirft. Auch das 18- oder 19-Jährige im Krieg sterben. Auch das ist sinnlos – genau wie Toten auf Seiten der Ukraine.“ Wenn man dann noch höre, dass junge Leute in eroberten Städten wie zum Beispiel in Cherson in die russische Armee gezwungen würden, sei das schon erschreckend.

Dienstag, 3. Mai:

Dr. Vitaliy P.

Am Wochenende hatte Dr. Vitaliy P. tatsächlich einmal Zeit, ein wenig durchzuatmen und ein bisschen den Frühling zu genießen. Er sei zu seinem Haus vor der Stadt in Richtung russische Grenze gefahren, erzählt er im Video-Telefonat am Dienstag: „Ich habe den Rasen gemäht.“ Ein ganz normales Frühlingwochenende mitten im Krieg, also? „Man hat schon noch Schüsse gehört da draußen, anders als zuletzt in der Stadt“, sagt P. „Aber es war schön zu hören, dass es unsere Soldaten waren, die da geschossen haben, nicht die Russen.“

Ukrainer haben Charkiw ein bisschen freigekämpft

Hart erkämpft sei das bisschen Freiheit von Charkiw, weiß P. In der Umgebung der Millionenstadt sei es den ukrainischen Truppen gelungen, die Russen in Kämpfen massiv zurückzudrängen. Positive Folge für die Stadt: Die russische Artillerie ist nicht mehr so nah in Schussweite wie zuvor. Das bedeutet auch weniger Angriffe auf Charkiw.

Geschossen werde aber immer noch: „Erst am Montag gab es wieder drei Tote“, sagt P. Auch ein Krankenhaus sei kürzlich getroffen worden, Verletzte habe es dort aber nicht gegeben. Und in der Nähe von P.s Krankenhaus gab es ebenfalls Einschläge: „Wir waren gerade dabei, eine Hilfslieferung zu entladen, da gab es drei Explosionen nicht einmal 200 Meter entfernt.“

Die Menschen leben immer noch in der Metro

In der Klinik selbst sei eine Veränderung spürbar: Es gebe weniger unmittelbare Kriegsverletzte, dafür aber in der Gefäßchirurgie mehr Patienten mit Thrombosen oder sogar Embolien. „Das kommt davon, weil die Menschen so viel herumsitzen“, stellt der Arzt fest. Zu Hause zum Beispiel – oder aber in der Metro. Es gebe immer noch viele Menschen, die dort unten leben. „Zum einen sind es die, die ihr Haus verloren haben.“ Außerdem bleibe es in der Stadt gefährlich, davor warne auch der Bürgermeister immer wieder. „Und viele haben einfach Angst.“

„Es gibt keine Entspannung“

Und P.? Traut er der Ruhe? „Auf gar keinen Fall. Es gibt keine Entspannung, die wir uns nicht militärisch erkämpft hätten.“ Während in Charkiw die Lage besser geworden sei, verschärfe sich die Situation im nahen Osten der Ukraine. „25 Bataillone stehen dort. Der riesige Konvoi vor Kiew: Das waren gerade mal 17.“ Die nächsten Wochen könnten entscheidend werden. Man merke, dass Wladimir Putin unbedingt am 9. Mai, dem Feiertag des Sieges über Nazi-Deutschland, etwas vorzeigen wolle – und sei es eine Generalmobilmachung.

Igor Prudkov

Der Krieg wird zur Hängepartie, und die zehrt auch an Igor Prudkov. „Ich glaube nicht, dass die Kämpfe in diesem Jahr noch zu Ende gehen.“ Auch Prudkow spürt die Ruhe, auch er macht sich aber Gedanken, dass es eine Ruhe vor dem Sturm sein könnte.

Die Ersten wollen zurück nach Charkiw

Umso erstaunter ist er über die Reaktionen seiner Landsleute, die es nach Deutschland geschafft haben. „Ich dachte, sie würden bleiben wollen, bis alles vorbei ist.“ Jetzt gebe es aber schon die ersten, die so schnell wie möglich zurück wollen. „Ich habe zum Beispiel einen Kumpel“, erzählt er, „dessen Haus in Charkiw ist zerstört.“ Seine Söhne, die beide noch in der Stadt sind, weil sie dort studieren, wohnten bei einem Freund. „Eigentlich weiß er gar nicht, wo er hin soll.“

Ein Freund, der sich im Keller versteckt hat

Und dann ist da – bei all der Ruhe vor dem Sturm – auch noch der Tod, der näher rückt. Tatsächlich, sagt Prudkov, habe er sich bisher nur Sorgen machen müssen. „In meinem näheren Umfeld gab es kaum Menschen, die getötet worden sind.“ Selbst der Freund, der direkt an der Grenze zu Russland wohnt und um den sich Prudkov immer so große Sorgen gemacht hatte, hat es jetzt nach Charkiw geschafft. „Er hat erzählt, wie er mit seiner Familie über einen Monat im Keller gelebt hat. Er hat kein Brot gegessen und nur von Konserven gelebt.“ Als die Russen damals kamen, seien sie durch das Dorf nur durchmarschiert. Auf Widerstand stießen sie erst kurz vor Charkiw. Kämpfe im Ort habe es erst jetzt gegeben, als die ukrainischen Soldaten ihn befreit hätten. Prudkov: „24 Stunden Beschuss, das sei furchtbar gewesen, hat er mir erzählt.“

Der Tod in rückt näher

Doch nicht jede Geschichte geht mehr gut aus. Wie die der beiden Söhne jenes Freundes von Prudkovs Kumpel, bei dem die Studenten in Charkiw leben. „Die Söhne des Freundes sind beide Offiziere gewesen, beides gute Jungs, der eine Mitte, der andere Ende 20. Ukrainer, die ihr Land aufbauen wollten. Jetzt sind beide in Mariupol getötet worden.“ Der erste beiden sei schon vor gut einem Monat ums Leben gekommen. „Seine Frau, die es mit der vierjährigen Tochter nach Litauen geschafft hat, traut sich bis heute nicht, es der Kleinen, die ihren Vater so liebt, zu erzählen.“

Am Sonntag hörte Prudkov dann die Geschichte des anderen: Der junge Soldat, der bereits verletzt war, sei in einem unterirdischen Krankenhaus auf dem Gebiet des Stahlwerkes untergebracht gewesen. „Im russischen Fernsehen war dann ein Kollaborateur zu sehen, der den Russen auf einer Karte gezeigt hat, wo genau sich das Krankenhaus befindet.“ Genau dorthin hätten die Russen dann geschossen und auch den Sohn des Freundes seines Kumpels getötet. „Als ich das gehört habe, habe ich den ganzen Sonntag geweint.“

Medikamente steckten eine Woche in Lwiw fest

Prudkov wartet derweil auf gute Nachrichten von seiner nächsten Medikamentenlieferung nach Charkiw. Schon seit einer Woche hänge der Transport in Lwiw fest. An Bord sind Medikamente für ein Kinderkrankenhaus im Westen, aber auch eine neue Ladung für P. in Charkiw. „Die Lage war einfach zu unsicher, um weiterzufahren“, berichtet Prudkov. Jetzt, am Dienstag, habe er aber endlich das Signal bekommen, dass es weitergehen soll. Der Psychiater selbst ist derweil in Gedanken schon dabei, die nächste Tour zu planen. „Dafür“, sagt er dann aber, „müssen wir erstmal wieder Geld sammeln.“

Dienstag, 19. April:

Dr. Vitaliy P.

Der Großangriff sei in Charkiw spürbar, sagt Dr. Vitaliy P. am frühen Dienstagnachmittag. Schon in den vergangenen Tagen habe der Beschuss zugenommen: „Und seit 1 Uhr heute Nacht feuert die schwere Artillerie jetzt permanent auf die Stadt.“ Die Erschütterungen durch die Angriffe seien so heftig gewesen, dass bei allen Autos, die vor seiner Klinik abgestellt waren, die Alarmanlage angegangen sei.

„Völlig unlogische Angriffe" auf die Stadt

Betroffen von den Angriffen seien weiterhin vor allem Wohngebiete und das Stadtzentrum.  „Eigentlich sind das völlig unlogische Angriffe, wenn man bedenkt, wie viele Millionen so eine Rakete kostet – und wie wenig so ein Haus“, sagt P. bitter.

Er weiß genau, dass es die Menschen in der Stadt sind, die getroffen werden: „Das macht keinen Sinn, das ist schlicht und einfach Rache dafür, dass die Russin hier in Charkiw, wo so viele Russisch sprechen, nicht begeistert empfangen worden sind.“ Glaubt er daran, dass seine Stadt sturmreif geschossen werden soll? Dass die Russen jetzt doch noch in die Stadt kommen? „Nein“, sagt P., „das macht einfach keinen Sinn, so wie die Stadt verteidigt wird.“

„Normal" im Sinne des Krieges

Auch zwei Krankenhäuser in der Stadt seien inzwischen betroffen. Sie seien zwar nicht direkt getroffen worden, aber durch Einschläge in der Nähe sei eines im Zentrum jetzt ohne Dach und ohne Fenster. In P.s Krankenhaus gehe noch alles im Normalbetrieb weiter – normal im Sinne des Krieges. P. lacht kurz und bitter auf: „Wir haben uns fast schon gewöhnt an die Angriffe.“ Dann fügt er traurig hinzu: „Wir haben sogar gelernt zu unterscheiden, ob die Einschläge näherkommen oder weggehen.“ Wenn sie näherkommen, gehe man im Krankenhaus einfach in einen anderen Raum – um mindestens zwei Wände zwischen sich und den Fenstern zu haben.

Immer mehr Mitarbeiter leben in der Klinik

Die Zahl der Patienten hat in den vergangenen Tagen zugenommen. Wie es am Dienstag ist, kann P. am Nachmittag noch gar nicht sagen. Während er spricht, hört er den ständigen Artilleriebeschuss: „Das kommt von da“, sagt er und zeigt aus dem Fenster. Immer mehr Mitarbeiter wohnen jetzt in der Klinik. Entweder weil es ihre Wohnung nach den Angriffen nicht mehr gibt. Oder weil es den Weg von und zur Arbeit so nicht mehr gibt: Öffentlicher Nahverkehr funktioniere nicht mehr und auch mit dem eigenen Auto müsse man ständig Sorge haben, selbst zum Ziel der Angriffe zu werden: „Die schießen ja einfach in die Stadt hinein.“

Igor Prudkov

Wie erlebt man den Großangriff aus der Ferne? Es sei schlimm, sagt Igor Prudkov: „Die Lage ist katastrophal.“ Die Freunde, mit denen er in Kontakt stehe, seien in heller Aufregung und erwarteten Schreckliches. Noch nicht einmal für die Stadt selbst. „Die Russen haben keine Chance, Charkiw zu besiegen“, sagt auch er.

„Ich bin ein Optimist, aber kein Träumer"

Glaubt Prudkov wirklich den starken Worten der ukrainischen Führung und des Militärs? Darum gehe es gar nicht, sagt er. „Ich bin ein großer Optimist, ja. Aber wir sind auch keine Träumer.“ Man sehe die 60.000 Soldaten, die da zusammengezogen worden sind: „Wir sehen die viele Waffen. Wir wissen, wie groß die russische Armee ist und wie klein im Vergleich dazu unsere.“ Deshalb – und man sieht es Prudkov an – macht er sich gerade große Sorgen.

Nicht um die ukrainische Armee: „Unser Militär kann sich schützen, das Militär hat Waffen.“ Lieber wäre Prudkov, es wären noch mehr Waffen. Aber vor allem geht es ihm um die Menschen, die dort leben: „Sie können sich nicht verteidigen.“ Er versuche schon seit Kriegsbeginn sich vorzustellen, was in den Menschen vorgeht: „Jetzt, wo die Angriffe auf die Wohngebiete in Charkiw permanent sind, muss das noch schlimmer sein: Man lebt dort ständig in der Angst, Opfer eines Angriffs sein zu können: 24 Stunden gefühlte Lebensgefahr.“ Unvorstellbar.

Große Sorge um die Orte um Charkiw herum

Nein, sagt er noch mal, um einen Fall Charkiws mache er sich keine Sorgen. Aber um die Umgebung: „Es gibt viele Städte drum herum, die haben keine militärische Abwehr.“ Man spürt seine Sorge, dass es Orte sind, deren Namen man bald schon aus demselben Grund kennen könnte wie den von Butscha.

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Dienstag, 12. April:

Dr. Vitaliy P.

In Charkiw zählt man genau nach. Etwa 40 Bombardierungswellen am Tag, das kannten die Menschen in der Stadt schon. Jetzt aber, wo Russland seine Angriffe im Osten forciere, berichtet Dr. Vitaliy P., seien es täglich etwa 60. „Es sind inzwischen weniger Flugzeuge, weil wir schon viele abgeschossen haben und sie in Russland kaum noch erfahrene Piloten finden“, sagt P. Doch auch die Artillerie, die nun verstärkt zum Einsatz kommt, tut ihren tödlichen Job. Und der treffe bewusst Zivilisten: „Der Freizeitpark, wo die Menschen mit ihren Kindern gerade jetzt hingehen, ist schon zum dritten Mal angegriffen worden. Das ist Absicht.“

Zeitverzögerte Bomben in Wohngebieten

Auch die neuen Bomben, die mit Drohnen abgesetzt und am Boden zeitverzögert explodieren, wenn schon keiner mehr damit rechnet, landeten vor allem in Wohngebieten: „Da ist kein Militär weit und breit.“ Die Folgen spürt P. auch in seiner Klinik. Es gebe mehr Patienten, mehr Kriegsverletzte. Und auch das Pflegepersonal mache sich zunehmend Sorgen wegen der angekündigten Offensive. Die ersten Menschen, die mit ihm seit Kriegsbeginn im Einsatz sind, fragten jetzt dann doch schon nach, ob sie sich nicht auch evakuieren lassen können.

Und P. selbst? Kennt er wirklich keine Angst, sondern nur Entschlossenheit? P. schmunzelt, dann sagt er ernst: „Ohne Angst übersteht das hier nur ein Verrückter.“ Auch er hat reagiert. Gerade erst hat er seine Frau und seinen jüngsten Sohn zu sich in die Klinik geholt, um dort bei ihm zu leben. In der Umgebung von Charkiw sei es wegen der Verlagerung der russischen Truppen unter anderem aus der Region um Kiew hierher in den Osten nicht mehr sicher.

„Mitten im Krieg versteht man so etwas nicht"

Entschlossen, den Krieg weiterzuführen, ist P. dennoch. Die Ukraine brauche schwere Waffen, um Gebiete befreien zu können, nicht nur solche, um sich zu verteidigen. Und auch mehr Sanktionen: „In der Zeit, in der Europa uns mit Sachen im Wert von 1,5 Milliarden Euro unterstützt hat, hat es für 35 Milliarden Euro russisches Öl und Gas bezahlt.“ Er wisse, dass manche Schritte schwierig seien, sagt er: „Aber jemand wie ich, der hier mitten im Krieg ist, versteht so etwas nicht.“

Igor Prudkov

Igor Prudkov ist müde. Er habe viel zu tun, sagt er, auch an den Wochenenden bei der Arbeit. Aber da sei auch die Angst um die Freunde in Charkiw. „Vor nicht einmal einer Stunde“, erzählt er, „hat mir ein Freund aus einem anderen Krankenhaus dieses Bild geschickt.“ Prudkov zeigt sein Handy: „Die Rakete ist direkt neben der Klinik eingeschlagen. Er hat die Rauchwolke aus dem Fenster fotografiert.“

Medikamenten-Beschaffung trotz Lieferengpässen

P. sei in Charkiw mittendrin in seiner Routine: „Er macht sein Geschäft. Er weiß, was er zu tun hat.“ Hier in der Ferne könne man hingegen fast nichts tun. Na ja, nichts außer helfen: Gemeinsam mit Krankenhaus-Apotheker Lars Lemmer bereitet Prudkov die nächste Lieferung für Charkiw vor. Auch das ist gar nicht so einfach, wie Lemmer, der heute mit dabei ist, berichtet: „Die Lieferengpässe bei Medikamenten und anderen Hilfsmitteln, die wir vor dem Krieg schon hatten, sind ja nicht einfach verschwunden.“

Periphere Venenverweilkanülen, kurz PVKs, zum Beispiel: „Das sind die, die auf der Haut liegen und bleiben, um einen ständigen Zugang zu haben.“ Die gebe es ohnehin kaum: „Da liefert man uns nur die, die wir wirklich brauchen.“ Und dann gibt es Engpässe, die vor allem im Krieg auftreten: Wie bei blutungsstillenden Bandagen, die jeder, der verletzt ist, sich nur um die Wunde wickeln muss.  Lemmer: „Das kann im Prinzip jeder Soldat selbst bei sich machen.“ Umso größer sei der Bedarf gerade jetzt, dennoch gebe es wenige davon. „Und kein Produzent fährt die Produktion hoch, wenn er nicht sicher weiß, dass das noch lange gebraucht wird und er nicht in ein paar Wochen schon auf vollen Lagern sitzen bleibt.“

Offenheit und Feingefühl gegenüber Lieferanten

Doch vieles, was in Charkiw gebraucht wird, findet Lemmer dann doch: „Lebensnotwendiges wie Infusionszubehör oder OP-Materialien, zum Beispiel.“ Darüber, was er mit seinen Bestellungen macht, spricht er offen mit den Lieferanten. „Da ist Feingefühl gefragt. Die merken ja auch, wenn ich plötzlich das Doppelte von dem bestelle, was wir sonst das Jahr über verbrauchen.“ Negative Reaktionen habe er noch nie gehört, im Gegenteil: „Einmal hat man uns sogar eine Lieferung geschenkt, die noch auf Lager lag und sonst verfallen wäre.“ Andere hätten zwar nichts schenken können: „Aber dafür haben sie uns große Rabatte eingeräumt.“

Lieber jetzt als gleich würde Prudkov die nächste Lieferung auf den Weg nach Charkiw bringen. Aber da erreicht ihn eine Hiobsbotschaft: „Der Lkw, mit dem der Fahrer unterwegs war, ist kaputt.“ Bis der Fahrer wieder mobil ist, werde etwa eine Woche vergehen. Der nächste Grund für Prudkov zur Sorge.

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Dienstag, 5. April:

Dr. Vitaliy P.

Dr. Vitaly P. hätte viel zu erzählen. Über die Video-Konferenz zum Thema Kriegsverletzungen in der Gefäßchirurgie zum Beispiel, die er in der vergangenen Woche mit Kollegen aus Polen, Litauen, Griechenland und Italien abgehalten hat. Mitleid im Blick habe er ja schon 2014 gesehen, als es eine solche Konferenz auch während der Krim-Krise gegeben habe: „Jetzt habe ich aber tatsächlich in erschrockene Augen geblickt, als ich den Kollegen Bilder von Kriegsverletzungen gezeigt habe.“

Nach Angriffen auf Kliniken nicht mehr mit dem vollen Namen

Der Krieg entsetzt, aber hat auch Folgen für Menschen, die darüber sprechen. Wie P. zum Beispiel: Eine neue Reglung in der Ukraine verbietet ihm, in Zukunft als Arzt über die Arbeit in seinem Krankenhaus zu sprechen. „Zu oft“, erzählt sein Freund, der Psychiater Igor Prudkov, „sind Krankenhäuser, über die von den Medien berichtet wurde, Ziel von Angriffen gewesen.“

Prudkov nennt ein Beispiel: „Als in einer Reportage zu sehen war, dass in einem bestimmten Krankenhaus verletzte Soldaten behandelt werden, wurde es gleich danach beschossen.“ Davor soll jetzt eine neue Regelung in der Ukraine schützen, die es verbietet, das Krankenhaus und den Arzt genau zu benennen und die Situation dort zu schildern.

Schweigen möchte P. dennoch nicht. Weil er sich aber an die Regelung halten und seine Klinik schützen will, spricht  er eben nun nicht mehr mit vollem Namen – und nicht über die Lage in seinem Krankenhaus. Zum Beispiel aber über die Folgen für die Zivilbevölkerung. P. erzählt, dass sein ältester Sohn jetzt noch mehr Zeit bei ihm im Krankenhaus verbringt, weil das Gebäude in dem er wohnt, von Raketen getroffen wurde. Zwei Menschen seien bei dem Angriff auf das Haus gestorben. Und dass Charkiw wieder stärker ins Visier der russischen Armee gerückt sei: Die Schüsse hätten zugenommen, vor allem am Montag. Draußen seien viele schwarze Wolken von den Kämpfen zu sehen.

Kaum Gesichertes, aber weitere Gerüchte aus Charkiws Umland

Nachrichten wie die von den Leichen in Butscha, wie sie gerade die internationale Debatte bestimmen, gebe es aus Charkiw und Umgebung bisher nicht. Das liege aber auch daran, so P., dass rund um die Stadt längst nicht so viele kleine Dörfer zurückgewonnen werden konnten oder von den Russen verlassen wurden wie bei Kiew: „Bisher wissen wir hier von sowas nur aus Videos, deren Herkunft nicht zu klären ist, und aus Telefonaten.“ Beweise gebe es bisher nur aus einer kleinen Stadt, wo erschossene Zivilisten in ihren Autos gefunden wurden.

Haben die Menschen Angst, wenn sie davon hören? Die Antwort von P. ist ein klares Nein: „Früher haben sich die jungen Ärzte hier auf Youtube angesehen, wie man Kriegsverletzungen behandelt. Jetzt sehen sie sich an, wie man mit einer Kalaschnikow umgeht.“

Entschlossen, den Krieg als Krieg zu führen

Wenn P. spricht, hört man die Entschlossenheit, diesen Krieg als Krieg zu führen: „Wir brauchen keine fremden Soldaten hier, wir schaffen das. Aber wir brauchen die richtigen Waffen.“ In der Ukraine würden inzwischen alle verstehen, dass es gerade keine Chance für ein Ende des Krieges gebe.

Versteht P., der mitten im Krieg lebt, wenn Menschen anderswo auf der Welt sich Sorgen machen, dass dieser Krieg durch ein Eingreifen von außen noch viel verheerender werden könnte? „Es geht gar nicht darum, dass die Nato uns schützt“, erwidert er. „Wir schützen die Nato.“ Schon jetzt seien aus Russland viele Stimmen von Politikern zu hören, die darüber sprechen, auch das Baltikum anzugreifen oder Gebiete von Polen zu beanspruchen: „Jetzt, mitten in dem Krieg, den sie noch gegen uns führen.“

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Igor Prudkov

Igor Prudkov war nicht wirklich überrascht, als er die entsetzlichen Bilder von den Leichen aus Butscha bei Kiew gesehen hat. Traurig ja, aber nicht überrascht: „Wir haben so etwas schon erwartet.“ Er habe einen Schulfreund, der direkt an der russischen Grenze lebt: „Wir wissen von ihm, dass er seit Kriegsbeginn sein Haus nicht mehr verlässt. Er bleibt die ganze Zeit im Keller und ernährt sich von trockenem Brot und Salzgurken.“

Einmal die Woche komme eine kurze Nachricht von ihm: „Nur deshalb wissen wir, dass er noch lebt.“ Außerdem gebe es schon lange unbestätigte Berichte von solchen Massakern. „Viele Leute haben Bekannte, die davon berichten.“ Nicht nur über Tote oder über Vergewaltigungen, sondern auch darüber, dass russische Soldaten einfach mitnehmen, was sie zu Hause gebrauchen können, wenn sie verschwinden: „Einmal sollen sie sogar eine gebrauchte Pfanne mitgenommen haben.“

Mit den Kriegsverbrechen der Vergangenheit nie auseinandergesetzt

Hat Prudkov, der Psychiater, eine Erklärung, wie Menschen unabhängig von der sonstigen Brutalität des Krieges zu solchen Verbrechen fähig sind? Es könne daran liegen, glaubt er, dass man sich in Russland noch nie mit den Verbrechen der eigenen Landsleute im Krieg auseinandergesetzt habe – weder nach dem Zweiten Weltkrieg noch nach den Kriegen in den vergangenen Jahrzehnten, von Tschetschenien bis Georgien: „Es ist einfacher zu leugnen, dass das passiert ist – dass es Fake ist, wie man heute sagt – als sich damit auseinanderzusetzen.“ Wenn man sich damit auseinandersetze, dann müsse man einräumen, dass man selbst „ein Teil davon ist“. Verdrängung hingegen funktioniere besser.

Gott sei Dank nicht Zeit genug nachzudenken

Prudkov selbst macht unterdessen vor allem „erst mal meine Arbeit“. Auch wenn es ihm schwer falle: „Natürlich schlafe ich nach wie vor schlecht. Es fällt schwer, sich zu konzentrieren. Aber trotzdem muss es ja gemacht werden.“ Und wenn er nicht arbeitet, beschäftigt er sich schon mit dem nächsten Transport. Nicht nur mit dem, den er gerade mit einer anderen Organisation auf den Weg gebracht hat. Auch in Gummersbach steht die nächste Liste, das Geld ist da und Apotheker Lars Lemmer hat die Lieferung schon bestellt. „Jetzt müssen wir nur noch genau besprechen, wie wir das in den nächsten Tagen machen“, sagt Prudkov. Manchmal helfe ihm das auch, so beschäftigt zu sein: So habe er nicht immer Zeit genug, über all das nachzudenken, was an ihn erwartbaren Nachrichten auf ihn einprasselt.

Dienstag, 29. März:

Dr. Vitaliy P.

Dr. Vitaliy P. möchte etwas loswerden, als er per Video-Telefonat auf dem Bildschirm des Handys von Igor Prudkovs erscheint: „Dieser Krieg kam nicht zufälligerweise. Und ich schäme mich, dass ich es nicht so wahrgenommen habe. Ich habe es gesehen, aber ich habe nichts getan.“

P. erzählt von einem Besuch bei einem Kumpel in Georgien: „Das war 2013. Er erzählte mir vom Krieg, den Russland 2008 gegen sein Land geführt hat. Er wollte mir Beweise zeigen für das, was damals passiert war.“ Er habe sie nicht sehen wollen, sagt P.: „Ich habe ihm gesagt: Ich glaube Dir das auch so.“ Und dann habe sein Freund einen Satz gesagt, der ihm sofort in den Ohren geklungen habe, als am 24. Februar um 5 Uhr der Angriff startete: „Ihr seid die nächsten.“

P. spricht von all den Kriegen und Fast-Kriegen, nicht nur von Moldawien, Abchasien, zweimal Tschetschenien und Südossetien. Nicht erst seit der Krim sei die Ukraine im Visier: „2003 gab es schon mal den Streit um die ukrainische Insel Tusla.“

Mediziner vermisst den Frühling

Der Chefarzt aus Charkiw, der seit Kriegsbeginn fast ununterbrochen in seiner Klinik ist und nur einmal nach Hause ging, um die Gasleitung zu reparieren, sieht müde aus. „Es ist nicht mal der Schlaf“, sagt er auf Nachfrage. „Es ist eher der Frühling.“ Am Wochenende haben Charkiw noch Schnee gelegen, jetzt sei der weg. „Ich möchte raus. Ich möchte meine Familie sehen.“ Seinen ältesten Sohn sieht er täglich. „Er ist im sechsten Studienjahr und steht kurz vor seinem Abschluss. Deshalb arbeitet er hier in der Klinik mit und hilft bei Operationen.“ Und wenn er dort eine Pause habe, lerne er und besuche online Vorlesungen. „Er kann viel besser Englisch als ich. Deshalb hilft er mir bei einer internationalen Konferenz zu Gefäßverletzungen im Krieg.“

Der Fernsehturm steht immer noch

Die Lage in der Stadt, erzählt P., habe sich kaum verändert. „Die Frontlinien um Charkiw sind nahezu gleich geblieben. Wir haben sie eher etwas zurückgedrängt.“ Auch der Fernsehturm stehe immer noch: „Er ist fast schon ein Symbol für unsere Widerstandsfähigkeit.“ Dafür gebe es mehr Bombeneinschläge. Die Zahl der zivilen Opfer steige. Als er von dem 13-jährigen Jungen erzählt, der vor einigen Tagen mit einer schweren Beinverletzung in sein Krankenhaus eingeliefert wurde, muss selbst Prudkov schlucken: „Er stand in der Schlange, um humanitäre Hilfe zu bekommen, als er von der Artillerie verletzt wurde.“ Mit Schwammpflastern, die in Prudkovs Transport steckten, habe er die Wunde des Jungen versorgen können.

Der Wille der Bevölkerung, meint der Arzt, werde dadurch nicht gebrochen. „Sie glauben, dass die Ukraine gewinnen kann.“ Sorgenvoll sei zwar der Blick über die nahe Grenze, wo inzwischen fast noch mehr Soldaten als vor dem Krieg zusammengezogen würden. Und sorgenvoll ist der Blick auf den Kalender: „Am 9. Mai wird Wladimir Putin in Moskau seine Parade zum Sieg über Nazi-Deutschland abhalten. Und dann wird er etwas vorzeigen wollen.

Haarschnitt in der Klinik

Hat der Chefarzt tatsächlich Zeit gefunden, sich die Haare schneiden zu lassen? P. lacht laut auf: „Ja, das wurde auch Zeit, das hat schon beim Operieren gestört.“ Die Klinik hat er aber auch dafür nicht verlassen. Die Frau eines Kollegen, erzählt P., sei Friseurin. Seit sie zu Hause ausgebombt worden seien, lebe die Familie in der Klinik.

Igor Prudkov:

Igor Prudkov ist längst nicht mehr der einzige aus dem Kreis seiner Schul- und Studienfreunde, der in Deutschland ist. „Viele sind inzwischen mit ihren Familien angekommen. Und alle sind begeistert über die Deutschen, die sie aufgenommen haben.“ Einen Freund von ihm, mit dem er zusammen aufgewachsen ist, hat es nach Düren verschlagen. „Am Wochenende habe ich ihn besucht. Zusammen mit meiner Enkelin und seinen Kindern war ich sogar im Zoo.“

Ablenkung nicht nur für die Kinder

Ablenkung könnten alle gebrauchen, vor allem die Kinder. „Fast alle haben Bombenangriffe erlebt und haben in Kellern gesessen, bevor sie flüchten konnten“, erzählt Prudkov. Darüber reden wolle aber kaum einer. „Die meisten der Erwachsenen sind mehr damit beschäftigt, sich Arbeit zu besorgen. Sie wollen nicht nur herumsitzen.“ Und vielen, mehr als der Hälfte bestimmt, sei das auch schon gelungen. Je länger der Krieg dauere, umso mehr Menschen würden sich hier einleben, vermutet er. „Das wäre schlecht für die Ukraine, aber gut für Deutschland.“ Denn seine Landsleute seien oft gut ausgebildet.

Ein Freund wurde auf Russisch angepöbelt

Spürt Prudkov etwas von Animositäten unter Russen und Ukrainern? „Ja“, sagt er, „es gibt die Beispiele. Ein Freund hat erzählt, wie er von einer Frau auf Russisch angepöbelt worden sei, was er denn hier wolle.“ Prudkov kann das einfach nicht verstehen. Viele hätten offenbar verdrängt, wie die Vergangenheit in der Sowjetunion, die Putin nun wieder als Zukunft heraufbeschwöre, gewesen sei. „In Russland gibt es wirklich fast keine Familie, die nicht etwa ein Familienmitglied durch den Gulag verloren hat.“ Wie man diese Erinnerungen verdrängen und glorifizieren könne, sei ihm schleierhaft.

Lieber kümmert sich Prudkov aber um die Hilfe für seine Landsleute – hier und dort. „Fast täglich kommen Anrufe von Freunden, die es geschafft haben“, sagt er. Auch Männer sind darunter, meist nicht mehr im wehrfähigen Alter. Bleiben die anderen freiwillig? Prudkov überlegt: „Seien wir ehrlich: 70 Prozent bleiben freiwillig. Aber es gibt eben auch 20 bis 30 Prozent, die bleiben nur, weil sie müssen.“ Auch das, sagt der Arzt, sei aber nichts, was man jemandem übelnehmen könne: „Es ist schließlich ein Krieg. Man kann darin sterben.“

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