Leben während CoronaFür viele Menschen ist die Situation unfassbar

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Menschliche Nähe per Videochat: Das kann funktionieren, sagt Dr. Johannes Albers. Die Krise biete die Chance, auch über Online-Kanäle Kontakte zu intensivieren.

Menschliche Nähe per Videochat: Das kann funktionieren, sagt Dr. Johannes Albers. Die Krise biete die Chance, auch über Online-Kanäle Kontakte zu intensivieren.

Oberberg – Zwei Tote, mehr als 200 Infizierte, Hunderte in Quarantäne, Existenzängste und Kontaktverbot – und trotzdem scheinen viele Menschen diese Ausnahmesituation nicht so recht fassen zu können. Was passiert da gerade mit uns allen emotional?

Im eigentlichen Wortsinn ist die Situation tatsächlich für viele Menschen unfassbar. Erst allmählich sickert in unser Bewusstsein ein, was hier gerade passiert. Was wir durchleben, ist aus psychologischer Sicht vergleichbar mit anderen Lebenskrisen, dem Verlust eines lieben Menschen oder der Diagnose einer schweren Krankheit. Auch bei der Verarbeitung einer solchen Situation durchleben wir Menschen laut den Psychiaterinnen Verena Kast und Elisabeth Kübler-Ross mehrere Phasen: Zunächst wollen wir es nicht wahrhaben, dann reagieren wir emotional mit Trotz, Wut, Freude oder Traurigkeit – dies zeigte sich bis vor Kurzem in sogenannten Coronapartys oder geselligem Beisammensein.

In der nächsten Phase erfolgt eine innere Auseinandersetzung, wir suchen nach Lösungen. Zuletzt akzeptieren wir die Situation zunehmend und richten uns danach aus. Zum jetzigen Zeitpunkt beginnen wir erst, die Krise als solche zu akzeptieren.

Verdrängen die Menschen das Problem, um keine Ängste aufkommen zu lassen?

Das Gefühl des Kontrollverlustes geht mit großer Unsicherheit einher. Der Ansturm auf Nudeln und Klopapier ist ein Anzeichen dafür, dass die Menschen versuchen, die Kontrolle über die Situation zu behalten. Sie haben dadurch das Gefühl, vorbereitet zu sein auf das, was noch kommen mag.

Haben die Oberberger Ähnliches jemals erlebt?

Krisen hat es immer gegeben, viele werden sich etwa noch an das Reaktorunglück in Tschernobyl erinnern, auch hier gab es eine weder sichtbare noch spürbare Bedrohung. Aber was wir jetzt erleben, ist außergewöhnlich: Die Pandemie betrifft die ganze Welt mit ungeheurer Geschwindigkeit, jeden Tag werden wir mit neuen Entwicklungen und Maßnahmen konfrontiert und können diese erstmals in Echtzeit verfolgen.

Wir sind mittendrin in einer anhaltenden Katastrophe. Und wir beginnen zunehmend zu verstehen, dass es kein schicksalhaftes Geschehen ist, sondern dass wir mit unserem Verhalten einerseits Teil des Problems sind, andererseits aber auch den weiteren Verlauf beeinflussen können – beispielsweise indem wir physische Kontakte vermeiden.

Wird die Tragweite dieser Krise erst mit zeitlichem Abstand begreiflich?

Das gesamte Ausmaß werden wir erst in zwei, drei Jahren verstehen, wenn alle gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu bilanzieren sind. Noch ist es nicht fassbar, welche Folgen die Pandemie auf allen Ebenen der Gesellschaft hinterlassen wird.

Die häusliche Isolation fällt vielen Oberbergern schwer. Birgt sie auch Chancen?

Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen und neben der sozialen auch auf körperliche Nähe angewiesen, insbesondere in Krisen. Und gerade jetzt müssen wir darauf verzichten. Das ist ungewohnt. Aber die Krise bietet die große Chance, dass wir uns auf das wirklich Wichtige besinnen, nämlich echte soziale Nähe zu den Mitmenschen zu suchen.

Es ist etwas anderes, die Sozialen Medien dazu zu nutzen, den Mitmenschen lustige Fotos und Videos zu posten, oder tatsächlich zu fragen: Wie geht es Dir? Wie gehst Du mit der Situation um? Wie kann ich Dir trotz der Kontaktsperre helfen?

Also ist es wichtig, über die Situation zu sprechen?

Das auf jeden Fall. Je mehr wir uns darüber austauschen, desto besser können wir es verarbeiten. Aber ebenso ratsam ist auch etwas Ablenkung. Jetzt haben viele die Zeit, um Dinge zu machen, die sie bislang aufgeschoben haben – vielleicht mal ein neues Hobby anzugehen.

Die Fronten in der Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahren verhärtet. Plötzlich aber zeigen sich viele Menschen solidarisch, organisieren etwa Einkäufe für Menschen in Quarantäne. Wie erklären Sie sich den Wandel?

Das ist ein typisch menschliches Verhalten in Krisen, daran zeigt sich eine grundlegende Eigenschaft des Menschen. Die Menschheit war bislang besonders erfolgreich, wenn sie solidarisch war. Der moderne Individualismus ist eher eine sehr junge Erscheinung unserer Zeit.

Wird der Gemeinsinn diese Krise überleben?

Da bin ich mir sicher. Die Menschheit wird gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen. Wir werden uns wieder mehr auf das Wesentliche konzentrieren – und hoffentlich auch gelernt haben, dass Krankenhäuser nicht nur rendite- und profitorientiert arbeiten können, sondern dass die Gesundheit des Menschen das wesentliche Ziel des medizinischen Systems ist. Ob sich der einzelne Mensch in seinem Verhalten ändert, hängt wohl auch davon ab, wie lange die Pandemie noch dauert und welche Folgen die Einzelnen tragen müssen.

Wie macht sich die Krise in ihrer Arbeit bemerkbar?

In den psychiatrischen Abteilungen des Klinikums behandeln wir vor allem ältere Menschen. Diese Gruppe geht relativ gelassen mit der Situation um. Die Krise beeinflusst uns aber insofern, dass wir von der Gruppenarbeit vermehrt auf Einzeltherapien umgestellt haben. Das Einschränken physischer Kontakte ist auch bei uns das Gebot der Stunde.

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