Nackter Beton wird zur GalerieDie Wipperfürther Tangentenwand ist ein Gesamtkunstwerk

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Ein Hingucker ist diese Momentaufnahme vor der Tangentenwand. Fast sieht es so aus, als würde der Hund hinter dem Radfahrer herlaufen. Das Kunstprojekt bietet viele überraschende Einblicke.

Wipperfürth – Zusammen mit der East Side Gallery, einem 1,3 Kilometer langen Mauerstück in Berlin, gehört die Tangentenwand in Wipperfürth (956 Meter) zu den längsten Galeriewänden im öffentlichen Raum in ganz Deutschland.

Zwischen 2013 und 2021 haben ungezählte Hände aus der Wupperstadt und ihrer Umgebung die rund 4000 Quadratmeter große Fläche mit rund 70 kleinen und großen Gemälden zwischen 1,40 und 7,85 Metern Höhe verziert.Das vom Kunstbahnhof, der Stadtverwaltung, der Biologischen Station und der Kreissparkasse Köln organisierte Projekt haben etwa zu gleichen Teilen verschiedene Wipperfürther Vereine, unterschiedliche staatliche und kirchliche Einrichtungen und diverse Künstler und Künstlerinnen als Schaufenster für ihre Aktivitäten und ihr kreatives Potenzial genutzt.

Graffitisprayer schufen riesige Werke

Die auffälligsten, weil viele hundert Quadratmeter großen Arbeiten am Anfang und Ende der Open-Air-Gallery an der Wupper stammen von Graffitisprayern aus Wuppertal, Remscheid und Bergneustadt.

Ein gewaltiger, großer, lila Hahn mit grünem Kopfgefieder eröffnet am Raiffeisenmarkt den bunten Bilderreigen. Er blickt in Richtung Steinkreis an der Westtangente – zu der sogenannten „Hall of Fame“, einer 850 Quadratmeter großen Wandfläche, die 24 junge Leute unter Anleitung des Graffitidozenten Tim Rothenstein im November 2021 neu gestaltet haben. Hier können und dürfen sich Kinder und Jugendlichelegal mit Pinseln und Farbdosen austoben. Aufgesprayte Motive erst nach drei bis vier Wochen zu übermalen, ist eine Frage der Ehre.

Einblicke in der Stadtgeschichte

Ein Gang entlang der Wuppergalerie zwischen der Radiumbrücke und der alten Eisenbahnbrücke an den Ohler Wiesen bietet einen breiten und interessanten Einblick in die lebendige Vielfalt des Wipperfürther Stadtlebens. Dazu gehört zum Beispiel das bunte Karnevalstreiben der IG Siebenborn, ein Spielenachmittag im Kindergarten oder die große Vielfalt von Betätigungsmöglichkeiten in Sportvereinen. Und neben einem verlockend schönen Ausblick auf Attraktionen in der Türkei, der Heimat vieler in Wipperfürth lebender Menschen, entfaltet ein Breitband-Graffiti die Stationen eines ganzen Menschenlebens. Es sind auch eine Reihe großformatiger Einzelkunstwerke zu sehen. So lässt die Künstlerin Petra Schmitz-Zwiebel einfach fünf Personen in der dunklen Wand verschwinden. Und Brigitte Reef-Stein erweist mit ihrer „Hommage à Rolf Hardenbicker“ dem bekannten Wipperfürther Maler (1922-2014) die Ehre.

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Mit einem künst­le­risch ge­stal­te­ten Motiv eines Bürgerbus verzieren Joachim Grolewski (l.) und Bernd Solbach vom Bür­ger­bus­ver­ein die Tan­gen­ten­wand.

Viele Jahrzehnte lang erblickten die Wipperfürther nur eine betongraue Wand, wenn sie die Wupperstraße entlangfuhren oder gingen. Aber genau das war der ausdrückliche Wille des Eigentümers. Der Landesbetrieb Straßen NRW lehnte aus Kosten- und Sicherheitsgründen sowohl die Bepflanzung als auch die Bemalung der Stützmauer ab. Doch nachdem der damalige Baudezernent Volker Barthel vor rund zehn Jahren die Sache in die Hand nahm, kam endlich Bewegung in die Sache. Er konnte die Behörde davon überzeugen, dass die farbliche Gestaltung der Tangentenwand durch die Wipperfürther Bürgerschaft und Graffitikünstler nicht den Blick auf mögliche bauliche Veränderungen verstellt.

Die Kosten für zwei der insgesamt der vier Wandabschnitte konnten mit Mitteln der Regionale 2010 und des Integrierten Handlungskonzepts finanziert werden, ein Teil kam durch Spenden zusammen, und der Rest wurde aus Haushaltsmitteln der Stadt bezahlt.

Die beiden größten und auffälligsten Arbeiten unterhalb der Sanderhöhe stammen von zwei professionell arbeitenden Graffitikünstlern. Der Wuppertaler „Fassadengestalter“ Marko Leckzut gewann 2016 die Ausschreibung für die Verschönerung des Mittelteils der Betonwand gegenüber dem Möbellager. Mit Hilfe von circa 400 Dosen Farblack machte er sich daran, eine Fläche von rund 600 Quadratmetern in der für ihn typischen „illustrativ-realistisch“ Manier zu bearbeiten. Er zauberte mit Popfarben eine Vielzahl von sich schnell bewegenden Menschen und Tieren auf die Wand, die den Betrachtenden zum Teil überdimensional groß aus der Perspektive eines Kleinkinds (50 Zentimeter Augenhöhe) begegnen. Unter anderem ist auch ein Roboter zu sehen, der vor einem Hund flieht.

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Sein Sprayerkollege René Schneider aus Remscheid übernahm schon 2015 im Auftrag der Biologischen Station Oberberg die künstlerische Gestaltung des 4. Tangentenabschnitts zwischen Ohlstraße und der Eisenbahnbrücke. Mit seinen Bild-ideen zur Tier- und Pflanzenwelt des „Bergischen Amazonas“ hatte er die bundes-weit ausgeschriebene Gestaltung der 750 Quadratmeter großen Wandfläche zum Thema „Wuppervielfalt“ gewonnen. Seit rund sieben Jahren sind dort jetzt Tiere wie der Eisvogel, die Tafelente oder der Rotmilan zu bewundern – allesamt mit viel Liebe zum Detail und großer Könnerschaft in nur drei Wochen auf die Wand gesprayt. Von ihm stammt auch die überdimensional große, lila Nacktkatze neben den lustigen Rostfiguren an der Brücke, über die die Radiumstraße führt.

Die farbliche Gestaltung der Fassade des alten Pumpenhauses von Radium, das sich gegenüber der beiden Graffitiwänden befindet, rundet wegen seiner Farbigkeit im Stil von Friedensreich Hundertwasser das Gesamtbild an der Wupperstraße aus.

Die Außenwand des „Kulturpunkts“ wurde von Jugendlichen der Konrad-Adenauer-Hauptschule nach einem Entwurf von Thimo Gleiszner (Klasse 7) als Projekt des Vereins „kunstfluss wupper“ im Jahre 2003 fantasievoll mit Popfarben bemalt.

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