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Bergisch GladbachTeuerung und Kriegsfolgen schlagen auf die Tafel durch

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Die Schlange vor der Gladbacher Tafel wird länger.

Bergisch Gladbach – Es ist halb zwei am Samstagmittag. In einer halben Stunde öffnet die Tafel in der Kalkstraße 43, doch schon jetzt stehen mehr Menschen als sonst vor der Tür. Eine ältere Dame mit gepunktetem Trolley und eine Familie mit zwei kleinen Kindern warten geduldig in vorderster Reihe. Neben ihnen schützen drei Frauen aus der Ukraine ihre amtlichen Dokumente vor dem einsetzenden Regen. Es wird voller bei der Tafel in diesen Tagen – nur nicht in den Regalen.

Die Ehrenamtler sind seit acht Uhr im Einsatz. Zwei Transporter mit je drei Personen fahren an diesem Tag insgesamt 25 Lebensmittelläden an. „Wir haben wirklich starke Unterstützung im Raum“, sagt Olaf Schmiedt, Mitglied des Vereinsvorstands. Was aber auch bedeute: „Das Potenzial ist erschöpft.“

Die Kunden sollen ein würdevolles Angebot erhalten

Rückwärts steuert Schmiedt den Transporter an das Lagertor. Dahinter findet sich in Kisten und auf Paletten das, was Supermärkte als Abfall definieren: Lose Pilze, teils verschrumpelte Pfirsiche, Himbeeren in Schale, vegetarischer Leberkäse und Sesambrötchen teilen sich die Kiste. Dazu viel Plastik, in dem ein faules Teil auch für alle anderen das Tonnenurteil bedeutet.

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Nina Zöhrlaut, im Bundesfreiwilligendienst bei der Tafel, begutachtet eine Paprika mit matschiger Stelle. Ginge es ausschließlich darum, die Verschwendung von Lebensmitteln zu vermeiden, wäre diese brauchbar. Geht es aber nicht. „Wir wollen ein würdevolles Angebot für unsere Kunden“, begründet sie ihre Nicht-Wahl.

10.000 Menschen wären in der Stadt berechtigt für die Tafel

„Würde“ ist ein wichtiges Wort im Tafelgeschehen. „Kunde“ auch. Rund 10.000 Menschen, rechnet Olaf Schmiedt vor, wären in Bergisch Gladbach statistisch für die Tafel berechtigt. Tatsächlich waren bis Kriegsausbruch etwa 900 registriert. „Es gibt eine hohe Schamgrenze, empfunden von Almosen abhängig zu sein“, sagt Schmiedt, von Beruf Banker. Er ist Vorstand bei der Bensberger Bank.

Insgesamt ist das Team am Mittag zufrieden. „Als ich im September angefangen habe, war es mehr“, sagt Nina, „aber für aktuelle Verhältnisse ist es heute okay.“ Alle Tafeln erhalten zunehmend weniger Ware; aktuell wegen unsicherer Wirtschaftslage, höherer Preise und veränderten Verhaltens von Handel und Konsumenten.

160 Neuaufnahmen seit Kriegsbeginn in der Ukraine

Was die Helfer im Transporter anliefern, wird umgehend zum Gegenstand emsiger Routine: Auf den Tischen der Sortierer muss die Ware auch den zweiten Blick bestehen, bevor sie gesäubert und sortenrein in Kisten liegt, die den Raum in einen Tante-Emma-Laden verwandeln.

Im Büro sitzt heute Wilfried Kiel und hat gerade eine ukrainische Geflüchtete als Kundin ordnungsgemäß aufgenommen. Später wird er hier Unterstützung bekommen, denn es bleibt längst nicht bei einer Neuaufnahme. Rund 160 sind es bereits seit Kriegsbeginn. Ende offen.

Auch in Bensberg gibt es eine Ausgabestelle

Den Sachverhalt, dass die Tafel-Kunden nach Postleitzahlen aufgeteilt werden und beim zweiten Mal bitte nach Bensberg zur Ausgabestelle in der Reginharstraße kommen sollen, hat Wilfried Kiel in deutsch und ukrainisch auf einem Merkblatt ausgedruckt – mit Hilfe eines Online-Übersetzers. „Ob das jetzt richtig ist oder nicht, weiß ich nicht“, sagt er und lacht. „Aber besser als nix!“

Nachdem das Lesegerät ihre digitale Berechtigungskarte akzeptiert hat, zahlen die Besucher zwei Euro. Mit einer Hand ihren gepunkteten Trolley ziehend, mit der anderen den Einkaufswagen schiebend, äußert die Erste in der Reihe ihre Wünsche. Es gilt das Motto: Die Kunden sagen, was sie möchten, die Tafelmitarbeiter entscheiden, welche Menge sie herausgeben können, damit auch für die letzten noch etwas übrig ist.

Die Portionen fallen kleiner aus

Kein leichtes Unterfangen, denn die Anzahl der Besucher beruht auf bloßen Erfahrungswerten. „Meist waren es knapp 100“, sagt Wilfried Kiel. „Zuletzt aber eher 130 oder noch mehr.“ Die Portionen fallen entsprechend kleiner aus.

Die Gladbacher Tafel

Haltbare Lebensmittel fehlen

Was in den Regalen der Tafel nahezu komplett fehlt, sind haltbare Lebensmittel. Öl, Mehl und Reis gab es schon immer eher in Sonderaktionen. Jetzt aber sind sie Mangelware und daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Die Tafelberechtigten kaufen haltbare Lebensmittel im Supermarkt. Dort jedoch sind etwa Mehl und Öl derzeit häufig ausverkauft, weil die Kunden vermehrt bis panisch auf Vorrat kaufen. Billiges Mehl ist zuerst ausverkauft. Wer hamstert, erschwert damit Menschen, die wenig haben, das Leben noch weiter, denn diese haben weder die finanziellen Mittel zum Hamstern noch für die teuren Produktvarianten, die nach dem Hamstern noch übrigbleiben.  

Die hohen Preise für Lebenshaltung und Energie seien in der Tafel noch nicht in Form zusätzlicher Anmeldungen angekommen, sagt Olaf Schmiedt. Aber vielleicht komme da so etwas wie eine „zweite Welle“. „Bislang haben wir in 15 Jahren noch nie Kunden wegschicken müssen…“, sagt er und lässt den Satz irgendwo zwischen Hoffnung und Ungewissheit im Raum stehen.

Die Traube vor der Tür ist deutlich gewachsen

Die Traube vor der Tür ist deutlich gewachsen – trotz des ausgeklügelten Rotationssystems, das die Berechtigten in halbstündigen Abschnitten einlässt. Mittendrin fällt eine junge Frau in sonnengelber Steppjacke auf; hinter ihr zwei in ihre Kapuzen vergrabene Jugendliche.

Sie sei in Russland geboren, erzählt die Bergisch Gladbacherin. Ein entfernter Verwandter aus Russland habe vor zwei Wochen angerufen, ob sie sich um die Kinder seines ukrainischen Freundes kümmern könne: eine 20-Jährige und ihre 16-jährige behinderte Schwester. Sie sagte ja, fuhr mit ihrer Mutter kurzentschlossen in zwei Tagen und Nächten an die polnische Grenze und holte die beiden dort ab.

„Das Einzige, was man machen kann, ist helfen, wo man kann“, sagt sie. Dann lässt sie den Blick schweifen, lächelt und ergänzt: „Gut. Gut, dass es so etwas hier gibt.“

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