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Junge Rhein-Berger über Merkel„Sie ist halt Bundesmutti“ – Stabilität sowie Fehler

Lesezeit 6 Minuten
Merkel mit Raute 140921

Die junge Generation nimmt Abschied von Kanzlerin Angela Merkel.

Bergisch Gladbach – Nach 16 Jahren endet Merkels Kanzlerinnenschaft. Menschen bis in die Mittzwanziger können sich gar nicht bis kaum an ihren Vorgänger Schröder erinnern. Oder daran, dass überhaupt einmal jemand anders Deutschland regiert hat. Wie blickt diese Generation Merkel auf die kommende Wahl – und auf das Ende einer politischen Ära?

Sechs junge Menschen sitzen in einem Gesprächskreis im Bergisch Gladbacher Wahlbüro. Drei von ihnen sind Erstwähler; alle arbeiten in diesem Jahr als Wahlhelfer. Es ist eine Runde aus politisch interessierten Leuten, die Merkel vor allem mit einem Stichwort verbinden: Stabilität. „Sie ist halt die Bundesmutti“, charakterisiert der 24-jährige Nils Engstenbeck die Noch-Kanzlerin schmunzelnd.

Erwartungen nicht großartig gesprengt

Er ergänzt: „Ne, die hat das schon ganz ordentlich gemacht, ansonsten wäre sie nicht so lange Kanzlerin gewesen.“ Der 19-Jährige Erstwähler Nils Lachmayer stimmt ihm zu: „Sie hat ihren Job erfüllt; sie hat jetzt aber nicht großartig die Erwartungen gesprengt.“

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Alexandra Fußbroich sitzt neben Nils. „Ich fand es nicht immer toll, was Frau Merkel gemacht hat“, räumt die 25-jährige BWL-Studentin ein, „Aber sie war professionell, wirkte immer ruhig. Wenn sie ins Ausland gegangen ist, konnte man sich darauf verlassen, dass sie ein gutes Bild abgibt.“

Die europäische Kanzlerin

Die Runde charakterisiert Merkel unter anderem deswegen als europäische Kanzlerin. Doch die jungen Leute sehen die Staatsfrau auch kritisch, ebenso die Politik der CDU, die oft für ein „Weiter so“ gestanden habe. In Sachen Klimaschutz etwa: „Ich finde, da hätte schon viel früher was gegen getan werden müssen“, sagt Alexandra. Dass Merkel im Jahr 2017 gegen die Ehe für alle gestimmt hat, findet die Runde ebenfalls enttäuschend.

Junge Wahlberechtigte in Rhein-Berg

Was sagt der Jugendforscher?

Klaus Hurrelmann ist Sozialwissenschaftler und mitverantwortlich für die Shell-Jugendstudien. Ihn überrascht das Bild nicht, das die jungen Menschen aus Gladbach von Merkel haben: „Die Metapher Bundesmutti passt ganz gut“, sagt der Berliner Professor. „Vor allem passt es zu denjenigen, die vor 2000 geboren wurden.“

Diese Altersklasse sei zu sehr unruhigen Zeiten groß geworden: Weltwirtschaftskrise, Terroranschläge, Umweltkatastrophen wie Fukushima gingen durch die Nachrichten. Ausbildungsplätze zu bekommen, wurde schwieriger. „Da war ein solcher Regierungsstil, wie ihn Frau Merkel hatte, eine wichtige Stütze“, so der Jugendforscher.

Ihre ruhigen Aussagen, wie das „Wir schaffen das“ und „Ihr könnt euch auf uns verlassen“ habe den heute 20 bis 35-Jährigen Sicherheit vermittelt. Derselbe Stil habe die unter 20-Jährigen dagegen negativ geprägt: „Diese jungen Leute haben den Eindruck, dass die Regierung nichts gemacht hat und wichtige Entscheidungen verfehlt hat, etwa, was Themen wie Digitalisierung und das Klima betrifft“, erläutert der Experte.

Aus diesem Grund strebe die junge Generation mehrheitlich einen Regierungswechsel an, Die großen Volksparteien, wie CDU und SPD, hätten an Beliebtheitswerten verloren. „Sowohl die Grünen, als auch die AfD schneiden laut unseren Shell-Umfragen gut bei jungen Leuten ab“, sagt der Jugendforscher. Die politisch Engagierten mit dem Herzensthema Umwelt machten dabei etwa ein Drittel der jungen Wählerschaft aus.

Ein weiteres Drittel sei mäßig an der Politik interessiert; 20 bis 30 Prozent konservativ bis AfD-nah. Laut Hurrelmann bleibe abzuwarten, ob das junge, grün-linke Wählerdrittel bei der Wahl einen Kompromiss eingehe. „Ich kann mir auch vorstellen, dass diese jungen, rationalen Menschen Ende nächster Woche taktisch wählen und Scholz unterstützen“, schätzt Hurrelmann ein. (sts)

Doch das, was von der 67-Jährigen Frau bleiben wird, hat auch eine banalere Dimension: Der berüchtigte Stil Merkels, die farblich abgestimmten Jacketts, die kurz geschnittenen Haare, die Hand-Raute – Markenzeichen, an die sich die jungen Erwachsenen gut erinnern werden: „Jede klassische Satire-Seite hat den Look von ihr übernommen“, sagt Kai Winkelmann, 19 Jahre alt, Erstwähler und Geschichtsstudent. „Ich meine, wenn man sie so darstellt, erkennt sie auch jeder.“ Teilweise sei die Merkel-Raute auch zum „Meme“ geworden; zu etwas, das manche ironisch nachahmten, erzählt Nils Engstenbeck.

Vage Erinnerungen an Merkels Wahl zur Kanzlerin

Merkel war für junge Menschen zunächst keine Politikerin, sondern einfach „da“: „Ich habe sie das erste Mal bei einer Neujahrsansprache wahrgenommen, also gar nicht so im politischen Kontext“, sagt Sarah Rabiega, eine 23-jährige Jura-Studentin. Den meisten aus der Runde geht es ähnlich; oder wie dem 18-jährigen Leon Maltemertes: „Das erste Mal richtig auseinandergesetzt habe ich mich mit ihr im Politikunterricht.“

Nur Alexandra und Nils Engstenbeck erinnern sich vage an den Wahlabend vor 16 Jahren. Sie waren damals im Grundschulalter, verstanden die Konsequenzen dieser Wahl nicht. Mittlerweile ist ihr politisches Bewusstsein ausgeprägter; deswegen sehen sie die Stabilität, die 16 Jahre Merkel gebracht haben. Genauso sehen sie jedoch die Fehler. Sie blicken daher mit Ungewissheit auf die neue Wahl, mit Hoffnungen, reflektieren die jetzigen Kandidaten kritisch.

Hoffnung auf Neuanfang

Nils Lachmayer hat keine Angst, dass die nächste Legislaturperiode aufgrund eines neuen Kanzlers instabiler werde: „Eher aufgrund möglicher Minderheitsregierungen. Ich habe Sorge, dass eine Regierung aus Rot-Rot-Grün oder Rot-Gelb-Grün zerfällt und ich nicht nach vier Jahren, sondern nach zwei Jahren wieder wählen gehen muss.“ Leon sieht es ein wenig anders: „Ich denke eher, dass es jetzt zu einer Neugewöhnungsphase kommt. Merkel war so lange Kanzlerin, dass ich als junger Mensch es beispielsweise gewohnt bin, was sie macht, und wie sie es macht“, sagt er.

Ob am Ende Laschet, Baerbock oder Scholz ins Bundeskanzleramt ziehen, und welche Parteien am 26. September auch immer das Rennen machen: Die sechs Wahlhelfer haben klare Wünsche für die Zeit nach der Wahl: „In der letzten Bundestagswahl sind viele Parteien von ihren Standpunkten abgerückt“, bedauert Kai. „Ich hoffe, dass es bei einem neuen Kanzler oder einer neuen regierenden Partei bei ihren Standpunkten bleibt.“

Jugend in Rhein-Berg hofft auf einen Neuanfang

Selbst wenn das hieße, Minderheitsregierungen einzugehen, fügt er hinzu. Nicht in allen Fragen sind sich die jungen Erwachsenen in der Runde einig – etwa, was den Generationskonflikt angeht.

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Für Nils Engstenbeck beispielsweise klingt es utopisch, dass ältere Politiker je wirklich die Bedürfnisse der jüngeren Generation wahrnehmen könnten: „Fridays for Future ist da ein gutes Beispiel. Es setzt das Zeichen: Ihr kümmert euch nicht, deswegen müssen wir das jetzt machen.“ Sarah relativiert das: „Es gibt junge Menschen, die sich in einigen Themen durchsetzen müssen“, sagt sie.

„Aber auch ältere Politiker können unsere Interessen vertreten. Viele Themen, die nur relevant für Ältere wirken, betreffen uns ja auch, wie die Rente.“ Doch außerhalb solcher Detailfragen hoffen alle sechs auf einen Neuanfang. Denn vor allem wollen sie eines: Von der Politik gehört und verstanden werden.

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