Bergisch-Gladbach-Prozess startet„Kindesmissbrauch geschieht täglich und überall“

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Bergisch Gladbach Spielplatz WAGNER

Spielplatz gegenüber eines Wohnhauses eines der Tatverdächtigen von Bergisch Gladbach

  • Der Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach zeigt: Männer vergewaltigen über Jahre unentdeckt Kinder. Das erschreckendste: Es sind viele.
  • Wie jagt die Polizei die Täter? Wie unvorsichtig sind die Täter, von denen viele sich laut Experten-Meinung ungehemmt von ihren Trieben leiten lassen? Welche schlimmen Formen von Missbrauch werden ihnen konkret vorgeworfen?
  • Der Prozess gegen Jörg L. startet am 17. August – er wurde wegen eines Feueralarms im Kölner Landgericht in der Vorwoche verschoben.

Bergisch Gladbach – Der 30. Oktober 2019 ist ein Tag, den Stephan Becker wohl nie vergessen wird. Der Chef der Kölner Kriminalpolizei hat an diesem Mittwoch mal wieder länger gearbeitet. Er ist auf dem Weg zur U-Bahnhaltestelle Kalk-Post, als gegen 21.30 Uhr sein Handy klingelt. Am anderen Ende: ein hochrangiger Beamter aus dem NRW-Innenministerium. „Ihr müsst ein Verfahren übernehmen“, sagt er. Es gehe um sexuellen Missbrauch an Kindern. Becker ahnt: Das muss etwas Großes sein.

Heute, neun Monate später, steht fest: Der Missbrauchskomplex, der mit dem ersten Tatverdächtigen Jörg L. aus Bergisch Gladbach seinen Ausgang nahm, hat sich zum größten Verfahren wegen sexueller Gewalt an Kindern in der Geschichte der Bundesrepublik ausgewachsen. Die mutmaßlichen Täter sitzen in allen Bundesländern und im benachbarten Ausland. Der Fall umfasst mögliche 30 000 Tatverdächtige, 87 identifizierte Beschuldigte, 48 Opfer zwischen drei Monaten und 15 Jahren. Und zeitweise hunderte Polizisten in NRW, die bei der Auswertung von Bildern, Videos-und Chats bis heute „teils übermenschliche Arbeit“ leisten, sagt Becker.

Die Beamten haben unzählige Beweise auch gegen Jörg L. gesammelt. Ab Montag wird dem 43 Jahre alten Krankenhauspförtner vor dem Kölner Landgericht der Prozess gemacht. Die Staatsanwaltschaft Köln wirft ihm 79 Taten vor, unter anderem schweren sexuellen Missbrauch an der eigenen Tochter sowie an anderen Kindern. Viele Taten soll er gefilmt und fotografiert und über das Handy an Gleichgesinnte geschickt haben. Jörg L. wolle vor der Hauptverhandlung keine Stellungnahme abgeben, schreibt sein Verteidiger auf Anfrage dieser Zeitung.

Alles zum Thema Herbert Reul

Am Morgen nach seinem kurzen Telefonat mit dem Ministerium erfährt Becker die Details: Die kanadischen Behörden hatten 2018 ein Missbrauchsbild in einem Chat abgefischt. Absender: ein Mann aus Kassel. Sie informierten das BKA, das den Hinweis an die Staatsanwaltschaft weiterleitete. Auf Datenträgern des Verdächtigen fand sich die Spur zu Jörg L.

Erschütternde Welt im iPhone 6

An einem Nachmittag Anfang August sitzt Kripochef Becker in seinem Büro im vierten Stock des Polizeipräsidiums. Neben ihm Ermittlungsleiter Michael Esser. „Der Inhalt von L.s Handy hat uns förmlich erschlagen“, sagt Becker. L.s iPhone6 eröffnet den Beamten einen Einblick in eine erschütternde Welt. Eine Welt, in der Männer kinderpornografische Fotos und Filme verschicken, Fantasien austauschen und sich in Chats offenbar zum Missbrauch ihrer eigenen Kinder verabreden. Und jeder Chat, den die Beamten öffnen, offenbart neue, weitere Nicknames, weitere Verdächtige. Dutzende, hunderte, tausende. Väter, Nachbarn, Kumpels.

Und dann sagt Michael Esser Sätze, von denen er sich wünscht, dass sie jeder liest: „Kindesmissbrauch ist kein Randphänomen. Er geschieht in der Mitte der Gesellschaft. Täglich und überall.“

Gleich am ersten Tag gründet die Polizei eine Ermittlungsgruppe mit 20 Beamten – eine beachtliche Zahl. Aber längst nicht genug. Vier Tage später wird aus der EG die „BAO Berg“. Das Kürzel steht für „Besondere Aufbauorganisation“, ein großes Ermittlungsteam mit einer speziellen Befehlsstruktur, wie sie die Polizei sonst bei Terroranschlägen oder Geiselnahmen nutzt. In der Spitze arbeiten bald landesweit 350 Beamte, geführt von der Polizei Köln. Sie ermitteln anfangs in 12-Stunden-Schichten, nachts, an Wochenenden. Ihr oberstes Ziel: Kinder befreien.

Bei einem Workshop im Kölner Präsidium Anfang November 2019 werden die Ermittler auf ihre Aufgaben eingeschworen. Etwa 150 Männer und Frauen sitzen im großen Vortragssaal, sie kommen aus dem ganzen Land. „Durchsuchungsstandards“ werden entworfen. Nach den zahlreichen Ermittlungspannen von Lügde wollen die Beamten besonders akribisch vorgehen. Damals verschwanden Asservate aus einer Dienststelle, ein Baggerfahrer entdeckte beim Abriss einer Gartenlaube Beweismittel, die die Polizei übersehen hatte. Bis heute tagt dazu ein Untersuchungsausschuss.

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„Wenn erforderlich“, sagt BAO-Leiter Esser heute mit Blick auf den Bergisch-Gladbach-Komplex, „hat das THW auch mal eine Wohnung komplett leergeräumt, und wir sind mit Datenspeicher-Spürhunden durch gegangen.“ In einem Fall fanden die Ermittler eine Speicherkarte in einer Bodenritze. Ein anderes Mal bauten sie eine Küche ab. Dahinter: Datenträger mit kinderpornografischem Material.

Dass die Polizei die Jagd auf Missbrauchstäter verschärft hat, liegt auch an NRW-Innenminister Herbert Reul. Im November 2018, bei einer Stippvisite im LKA in Düsseldorf, besucht er auch die Auswertereinheit. Er lässt sich Videosequenzen von Missbrauchstaten zeigen. Sie treffen ihn zutiefst, erzählen Polizisten, die dabei waren. Reul macht das Thema zur Chefsache. Die neuste Technik soll angeschafft werden. 30 Millionen Euro hat der Minister bis 2021 zugesagt. Drei Mal habe er die Beamten in Köln schon besucht. „So etwas macht auch nicht jeder Innenminister“, sagt Becker.

Die Polizei setzt eine klare Priorität: Opferschutz vor Strafverfolgung. Sobald es einen Hinweis gibt, dass sich ein Kind in Gefahr befindet, soll keine Minute verschwendet werden. Wie schnell, fast überfallartig, die Polizei vorgeht, verdeutlicht ein Fall aus Süddeutschland. Die Kölner Ermittler hatten über die Spur Jörg L. Hinweise auf einen Tatverdächtigen aus einem Dorf im Schwarzwald gefunden, den Administrator einer Chat-Gruppe mit mehr als 1000 Mitgliedern. In einer Nacht Ende Mai schießen SEK-Beamte seine Wohnungstür auf, stellen Handy und Computer sicher, damit er keine Daten mehr löschen kann. Ein Hubschrauber fliegt die Beweismittel nach Köln – Landung um 14 Uhr. Beamte der BAO Berg werten die Datenträger aus und stoßen auf einen weiteren Tatverdächtigen. Um 17 Uhr hebt der Hubschrauber mit den Beweismitteln an Bord wieder ab, Ziel Brandenburg. Noch am selben Abend sitzt der mutmaßliche Missbrauchstäter in Untersuchungshaft.

Dort befindet sich auch Jörg L. aus Bergisch Gladbach seit Oktober 2019. Am kommenden Montagmorgen wird ihn ein Gefängnistransporter zum Landgericht an die Luxemburger Straße bringen. Um 13 Uhr soll in Saal 210 die Anklage verlesen werden. Der Termin ist öffentlich, es werden Journalisten aus ganz Deutschland erwartet. Zehn Verhandlungstage sind vorgesehen, das Urteil soll am 30. September fallen. L. muss mit einer langen Haftstrafe rechnen, für die Zeit danach will die Staatsanwaltschaft womöglich Sicherungsverwahrung beantragen.

Und die Mutter arbeitet derweil im Garten

In Gesprächen betonten Ermittler, Opferanwälte und Angehörige immer wieder die Notwendigkeit, die Taten konkret zu schildern und sie nicht hinter Floskeln zu verbergen. Das findet auch Kripochef Becker. „Formulierungen wie »vergreifen« oder »vergehen« sind bagatellisierend“, sagt er, „das entspricht nicht der harten Realität.“ Weil es um ein gesellschaftliches Phänomen gehe, müsse man die Dinge auch klar benennen. Im folgenden Absatz schildern wir exemplarisch Szenen, wie sie die Polizei hundertfach dokumentiert hat. Es gibt daneben noch weit schlimmere Taten.

Ein Vater ejakuliert mehrfach beim Windelwechseln auf sein Kind, das auf dem Wickeltisch liegt. Ein Mann vergewaltigt seine zwei Jahre alte Tochter, während diese mit dem Handy spielt. Ein Tatverdächtiger missbraucht seine Tochter oral und fragt sie hinterher, ob es ihr gefallen habe. Die Mutter arbeitet derweil im Garten. Bei einer Durchsuchung fanden die Ermittler einen Dildo in einer besonders kleinen Größe. Ihre Taten haben die Männer meist fotografiert oder gefilmt und unmittelbar an die Chat-Community verschickt. Wie Trophäen.

Bei der Durchsuchung der Wohnung von Jörg L. entdecken die Ermittler viele Dinge, die sie zuvor schon auf den Bildern in seinem Handy gesehen hatten: blau-weiß karierte Bettwäsche, ein Handtuch, Socken, die das Mädchen während des Missbrauchs getragen haben soll. Die meisten Taten geschahen offenbar am Vormittag, wenn L.s Frau bei der Arbeit war. Anschließend soll der 43-Jährige das Mädchen in die Kita gebracht haben. Seine Frau – so stellten die Ermittler fest – soll nichts geahnt haben.

Generell sei die Festnahme des Vaters und die Aufdeckung seiner Taten für die Familien vergleichbar mit einer Todesnachricht, sagt Becker. Der Mann wandert in U-Haft, die Polizei stellt oft tagelang die Wohnung auf den Kopf, die Frau wird mit den Kindern in ein Hotelzimmer ausquartiert und vom Opferschutz betreut. Hier würde sie überhaupt erst begreifen, was passiert ist. „Die Familie zerbricht an diesen Taten und ist danach eigentlich kaputt“, sagt Becker.

Die allermeisten Täter sind männlich. Etwa ein Prozent aller Männer haben Studien zufolge mindestens einmal im Leben ein pädophiles Interesse oder leben dieses aus. Auch Frauen werden zu Tätern, oft als Mitwisserinnen. Aber es gebe auch solche, die aktiv beteiligt sind, sagt Cedric Sachser von der Uniklinik Ulm. Laut einer repräsentativen Umfrage, die Sachser bei Betroffenen durchgeführt hat, liegt der Anteil von Frauen, die Täterinnen oder Mittäterinnen waren, bei bis zu zehn Prozent.

Doch ganz gleich, ob Mann oder Frau: „Die Kinder haben von den Tätern lebenslänglich bekommen“, sagt Kripochef Becker im Hinblick auf die psychischen Schäden, die viele Opfer davontragen. Auch Innenminister Reul wählte – vielleicht auch im Übereifer – drastische Worte. Der Politiker sprach von Mord an der Psyche. Therapeuten wie Sachser wollen das so nicht stehen lassen. Aus ihrer Sicht kann den Kindern geholfen werden. Sachser forscht seit vielen Jahren zum Thema Missbrauch und behandelt als leitender Psychologe in der Traumaambulanz der Uniklinik Ulm betroffene Kinder. Etwa zwei Drittel der Opfer entwickeln im Verlauf ihres Lebens psychische Störungen. „Die Folgen sind vielfältig“, sagt er. Häufig lautet die Diagnose PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung. Die Kernsymptome: wiederkehrende Alpträume, in denen das Geschehene erneut durchlebt wird. Negative Gedanken, dauerhafte Übererregung und Reizbarkeit. Während der Pubertät können Flashbacks, selbstverletzendes Verhalten, depressive Episoden und Essstörungen dazukommen.

Auch Opfer, die ausschließlich im Babyalter missbraucht wurden, können Symptome entwickeln. „Lange Zeit ging man davon aus, dass Kinder erst ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr ein Erinnerungsvermögen haben“, sagt Sachser. Neue Studien dagegen würden nahelegen, dass Kinder schon sehr früh lebensbedrohliche Ereignisse als solche wahrnehmen und speichern. „Diese Erinnerungen sind zwar nicht aktiv abrufbar, äußern sich aber später oft in Regulationsschwierigkeiten und Entwicklungsverzögerungen.“ Das Kind schläft schlecht, nässt plötzlich wieder ein oder fängt erst spät zu sprechen an.

Die Therapie erfolgt in drei Phasen: Stabilisierung, Aufarbeitung, Integration. Dem Kind wird auf spielerische Weise verdeutlicht, dass seine Symptome eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis sind. Je nach Alter malen die Kinder Bilder oder schreiben die Geschehnisse auf. In der letzten Phase soll das Sicherheitsgefühl wiederhergestellt werden. „Die Kinder erlernen Strategien, wie sie auch zukünftig damit umgehen können, sollten die Erinnerungen zurückkehren.“ Etwa 75 Prozent der Opfer könne man so helfen. Bleibt ein Viertel, das sein Leid möglicherweise nie loswird – und die Dunkelziffer jener Kinder, die nie den Weg zum Therapeuten finden.

Zustände wie auf einem anderen Planeten

Auch bei manchen Ermittlern haben die Taten seelische Narben hinterlassen. Vor allem die Auswerter, die in Großraumbüros täglich acht Stunden Bilder und Videos sichten, durchleben eine psychische Grenzerfahrung. „Je tiefer man in diesen Bereich vordringt, desto mehr kriegt man das Gefühl, man hat es mit Zuständen auf einem anderen Planeten zu tun, so abgründig und ekelerregend ist das“, sagt einer von ihnen. Manche erzählen, dass der Ton oft noch schlimmer sei als die Bilder. Die Schreie der Kinder und Säuglinge, die meist vom eigenen Vater vergewaltigt werden. Die menschenverachtenden Worte der Täter, die ihre Opfer auch mit Medikamenten oder Alkohol gefügig machen.

Die Polizeiführung bietet Supervision an. „Jeder der reden will, kann und soll reden. So etwas darf nicht als Zeichen von Schwäche missdeutet werden“, sagt Becker. Doch selbst die besten Hilfsangebote nützen manchmal nicht mehr. Drei Beamte mussten dauerhaft krankgeschrieben werden, zehn weitere ließen sich zurück in ihre alte Dienststelle versetzen. Bald sollen die Ermittler im Schloss Gimborn zusammenkommen und sich unter psychologischer Anleitung über das Erlebte unterhalten. Ein Wochenende für das Seelenheil.

Wie lange es die BAO Berg noch geben wird, kann weder Kripochef Becker noch Ermittlungsleiter Esser sagen. 85 Terabyte an Material haben die Beamten inzwischen gesichert. Tausende von Bildern und Videos werden dazukommen – und auch weitere Tatverdächtige. Denn eines mussten die Polizisten zu ihrer Überraschung feststellen: Trotz der medialen Aufmerksamkeit machen die Täter beinahe weiter wie bisher. „Die Warnungen in den einschlägigen Chats sind minimal“, sagt Esser. „Ich vermute, sie sind so triebgesteuert, sie können gar nicht anders.“ Die Auswertung des Datenbergs könnte noch Jahre dauern. Doch auf die Masse allein komme es nicht an, sagt Esser. „Manchmal ist es nur eine einzige SD-Chipkarte, mit der wir fünf Tatverdächtige auf einmal kriegen.“

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